In den wirtschaftspolitischen Debatten rund um den Globus ist er gegenwärtig: der Ruf nach Bürokratieabbau. Alter Wein in neuen Schläuchen. Jahrzehnte setzte die New-Public-Management-Logik auf Verschlankung staatlicher Strukturen. Jetzt wird mit der Kettensäge gedroht! Doch um mit den aktuellen technologischen, ökologischen und geopolitischen Umbrüchen umgehen zu können, braucht es etwas ganz anderes: die Fähigkeiten des öffentlichen Sektors, wirksam zu handeln, zu koordinieren und zu lernen. Kurz: Es braucht staatliche Kapazitäten und Fähigkeiten für strategisches Handeln.
Die Zeiten ändern sich, doch althergebrachte Vorurteile und symbolische Forderungen überdauern. Die Aufgaben und Größe des öffentlichen Sektors waren und sind politisch immer stark umkämpft. Historisch wurde staatliche Leistungsfähigkeit oft an Rechtsstaatlichkeit, fiskalischer Stabilität und Verwaltungseffizienz gemessen. Die öffentliche Verwaltung sollte zudem offener, transparenter und bürgernäher werden. Aber eben doch verwalten. Doch im Umgang mit den aktuellen dynamischen Umbrüchen braucht es zusätzliche Kapazitäten (Capacities) und Kompetenzen (Capabilities). Der Staat und seine Institutionen müssen als innovativer Koordinator, der komplexe Systeme steuert und Anpassungsfähigkeit verinnerlicht, auftreten. In den modernen internationalen Debatten spricht man deshalb zunehmend von „dynamic capabilities“ des Staates. Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit, in unsicheren Umfeldern zu experimentieren, Feedback zu verarbeiten und aus Fehlern zu lernen. In Zeiten von Digitalisierung, Klimakrise und politischer Polarisierung entscheidet diese Handlungsfähigkeit darüber, ob Veränderung und Anpassung an neue Gegebenheiten gelingt oder in Blockaden steckenbleibt.
Die wirtschaftspolitische Debatte bleibt paradox
Von überall ertönen die Forderungen, die öffentliche Verwaltung soll sich verschlanken. Entbürokratisiert euch! Es gibt auch sehr viel weitergehende Forderungen, die radikale Einschnitte mit einer Kettensäge sehen wollen. Der Staat als Moloch muss bekämpft werden. Gleichzeitig wird eine mangelhafte Umsetzungsfähigkeit des Staates attestiert, er sollte also eigentlich vermehrt agieren. Dieses paradoxe Spannungsfeld zeigt sich in der Digitalisierungs- und Klimapolitik besonders. Während vereinfachte Verfahren und schnellere Genehmigungen gefordert werden, verlangen tiefgreifende Transformationsprozesse oft das Gegenteil: systemische Betrachtungsweise, mehr Koordination und institutionelle Kapazität, Planungsklarheit und flexible Anpassung. Es braucht daher nicht pauschal weniger Staat oder Bürokratie, sondern eine Neuausrichtung staatlicher Prozesse und Routinen an zukünftige Herausforderungen. Es muss um die Entwicklung neuer lernender Bürokratien gehen, die Handlungsspielraum nicht durch die Abwesenheit von Regeln erreicht, sondern durch deren intelligente Gestaltung. Die Tatsache, dass der freie Welthandel zunehmend zum Schauplatz geopolitischer Machtkämpfe oftmals unter der Führung übermächtiger Konzerne wird, verdeutlicht nur noch mehr, dass es mehr strategische Planung und eine demokratisch legitimierte Gegenmacht braucht.
Kompetenzerweiterung im öffentlichen Sektor und Modernisierung der Governance-Strukturen
Die Forscher:innen des Institute for Innovation and Public Purpose (IIPP) rund um die Sozialwissenschafter:innen Mariana Mazzucato und Rainer Kattel betonen, dass der Staat in Zeiten disruptiver Veränderung keine neutrale Verwaltungskraft sein kann. In stürmischen Zeiten müssen staatliche Institutionen mehr leisten. Sie müssen eine gestaltende Rolle übernehmen. Sei es in der Regulierung von Künstlicher Intelligenz, in der Bereitstellung von Dateninfrastrukturen oder in der grünen Transformation. Dafür braucht es institutionelle Resilienz und den Mut zur Erneuerung. Anders ausgedrückt heißt das: Erfolg haben jene Länder, die gezielt in „State Capacities“ und „State Capabilities“ investieren, in den Aufbau von Kompetenz und Strategiefähigkeit. Dies zeigen selbst die politisch unverdächtigen Arbeiten der OECD oder des Nobelpreisträgers Daron Acemoglu. Der Ruf nach Entbürokratisierung mag im Einzelfall sicherlich Berechtigung haben und sicherlich argumentiert niemand für mehr Aufwand oder kompliziertere Regelungen. Jedoch greift diese Perspektive zu kurz, da im Kern einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik die Effektivität und Qualität der Institutionen und ihre Kapazitäten und Fähigkeiten stehen müssen, mit Veränderungen umgehen zu können. Eine unüberlegte Deregulierung kann zudem eine hemmungslose Entfesselung weniger ohnehin schon übermächtiger Konzerne bedeuten, deren Ziel weniger breit geteilter Wohlstand als vielmehr die Monopolisierung von Wissen, Geld und Macht ist, was in weiterer Folge mit der Einschränkung staatlicher und individueller Freiheiten und Handlungsspielräume einhergeht.
Der öffentliche Sektor am Weg ins 21. Jahrhundert
Zwischen Verwaltungsreformdiskursen und Zukunftsstrategien steht die Frage im Raum: Wie können wir in sehr kurzer Zeit Kompetenzaufbau durch gezielte Weiterbildung in Bereichen der strategischen Vorausschau, des Innovationsmanagements, des datengetriebenen Arbeitens und partizipativen Handelns erreichen? Und gleichzeitig: Wie kann die Gesellschaft ihren Verhandlungs- und Gestaltungsspielraum zurückerkämpfen, ohne zwischen Wirtschaftsblöcken und Konzerngiganten zerrieben zu werden? Dazu zählt auch die stärkere Einbindung von Zivilgesellschaft und externer Expertise in Form von Partnerschaften mit Wirtschaft und Wissenschaft. Die dafür notwendigen Ressourcen, aber insbesondere auch die Fähigkeiten müssen für die Verwaltungen bereitgestellt und entwickelt werden. Sie sind Voraussetzung dafür, dass der Staat zukunftsorientiert in unsicheren Zeiten voranschreiten und gestalten kann. Beispiele, wie so etwas in der Praxis aussehen kann und wie ein solcher Zugang auch tatsächlich gelebt wird, finden sich beim Blick über den Tellerrand.
Finnlands antizipative Innovationspolitik und strategische Steuerung
Finnland hat in den letzten Jahren ein Governance-Modell für antizipative Innovation entwickelt. Dieses hochtrabend klingende Modell bedeutet im Grunde nichts anderes, als systematisch vorauszudenken und sich gezielt auf Entwicklungen vorzubereiten, statt nur auf die Veränderungen zu reagieren. Kernstück dieses Ansatzes bildet die Integration der Methode der strategischen Vorausschau, das Schaffen von Experimentierräumen und Koordination in alltäglichen Verwaltungsprozessen. Finnlands Regierung hat solche Methoden über ein Netz von Foresight-Einheiten, eine „Government Foresight Group“ und die Entwicklung und Auswertung von Zukunftsszenarien in den letzten Jahren verstärkt etabliert. Dieser Kompetenzaufbau in den Verwaltungen und Institutionen macht es möglich, zukünftige Risiken und Chancen frühzeitig zu bearbeiten. Die OECD hebt hervor, dass Finnlands Regierung solche Kapazitäten nicht als „Kür“ oder „Add-on“ betrachtet, sondern versucht, sie systematisch in ihre Kernprozesse einzubetten. Ziel ist nichts weniger als eine lernende und proaktive Verwaltung, die komplexe Herausforderungen wie die Digitalisierung und die Klimakrise nicht passiv abwartet, sondern aktiv gestaltet. Allerdings sind die Foresight-Aktivitäten noch nicht konsequent in allen Verwaltungs- und Steuerungsprozessen verankert. Obwohl Finnland eine starke Foresight-Kultur aufgebaut hat, ist diese Methode bislang vor allem dort erkennbar, wo Innovation, strategische Steuerung oder Zukunftsfragen im Fokus stehen.
Strategische Vorausschau und Missionsorientierung
Die Europäische Kommission hat 2020 begonnen, jährlich eine strategische Vorausschau zu veröffentlichen. Mit dem Ziel, bis 2040 eine widerstandsfähige EU zu entwickeln. Dies erfordert einen gesamtstaatlichen Ansatz sowie konsequente und umfassende Stresstests der EU. Dazu muss ein Sprung von einem überwiegend reaktiven Ansatz hin zu einem aktiven und zukunftsorientierten Vorgehen vollzogen werden, bei dem Ereignisse antizipiert, Ressourcen optimiert und Vorbereitungen auf unterschiedliche Zukunftsszenarien getroffen werden, da die Welt heute unvorhersehbarer ist als je zuvor. Aufbauend auf den jüngsten Strategien und Berichten, die für die Resilienz der EU relevant sind, und gestützt auf einen breit angelegten Prozess, werden die wichtigsten langfristigen Trends und Entwicklungen analysiert. Auf dieser Grundlage werden den politischen Entscheidungsträgern in dieser Vorausschau Handlungsoptionen vorgestellt, die angegangen werden müssen, um das Konzept einer widerstandsfähigen EU zu verwirklichen.
Was bleibt und wo gehen wir hin?
Die Zukunftsfähigkeit moderner Staaten entscheidet sich nicht an der Zahl gestrichener Formulare, sondern an ihrer Fähigkeit, zu lernen, zu koordinieren, vorausschauend zu planen, zu handeln und erfolgreich umzusetzen. Statt undifferenzierten Bürokratieabbau braucht es lernende Verwaltungen, die strategisch denken, flexibel reagieren und gesellschaftliche Transformation aktiv gestalten können und wollen. Beispiele wie Finnland zeigen, dass darin investierte Ressourcen und die Entwicklung von Kapazitäten in den Verwaltungen kein Luxus sind. Im Gegenteil sind sie die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit öffentlicher Organisationen im 21. Jahrhundert. Nur ein kompetenter, lernender Staat kann technologische, ökologische und soziale Umbrüche erfolgreich steuern und damit die Basis für eine nachhaltige, gerechte und widerstandsfähige Zukunft legen.