Mit der Vorlage der Mitteilung zur EU-Binnenmarktstrategie im Mai 2025 hat sich der Nebel um die Ausrichtung der EU-Kommission gelichtet. Lange gehegte Wünsche der Unternehmerlobby werden nun zum Teil fast 1:1 umgesetzt. Regeln zum Schutz der Beschäftigten, der Konsument:innen und der Gesellschaft stehen hingegen zur Disposition. Das in der Strategie genannte Ziel der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ist angesichts der jüngsten Aktivitäten der Kommission zudem zu hinterfragen.
Positive Elemente der neuen EU-Binnenmarktstrategie
Zu begrüßen ist die von der Europäischen Kommission getroffene Feststellung, dass es in der Europäischen Union an Investitionen mangelt. Sie folgt damit den Berichten von Enrico Letta und Mario Draghi, die beide massive Investitionen in den Binnenmarkt fordern. Tatsächlich fehlt es auch aus Sicht von Arbeitnehmer:innenvertretungen an öffentlichen Investitionen, unter anderem an Energie-, Schienen- und digitaler Infrastruktur. Mario Draghi schlägt dafür konkret ein Finanzvolumen von 750 bis 800 Mrd. Euro jährlich vor. In der Kommissionsmitteilung jedoch ist kein Betrag angeführt.
Die Überarbeitung der Regeln für die öffentliche Auftragsvergabe ist ebenfalls positiv, kann zu rascherer Investitionstätigkeit sowie mehr Fairness führen. Wesentlich wäre bei der Novellierung, dass missbräuchliche Praktiken wie Lohn- und Sozialdumping bei öffentlichen Aufträgen endlich ein Ende finden. Das Modell der Direktvergabe im öffentlichen Verkehrsbereich ist zudem sehr erfolgreich und effizient, hat Lohn- und Sozialdumping verhindern können und sollte daher jedenfalls beibehalten werden.
Ein positiver Ansatz: Die Problematisierung territorialer Angebotsbeschränkungen, also das Verbot von Herstellern gegenüber Einzelhändler:innen, ihre Produkte außerhalb des vereinbarten Landes bzw. der Region zu verkaufen. Damit könnten ungerechtfertigte Preisdifferenzen zwischen verschiedenen EU-Regionen Geschichte sein. Gerade Österreich ist von dieser Problematik erheblich betroffen, die Preise für zahlreiche Produkte sind in Österreich erheblich höher als in Nachbarländern wie Deutschland. Zuletzt führte diese Philosophie einzelner Wirtschaftsteilnehmer:innen sogar zu einem erneuten Anstieg der Inflation in Österreich.
Die Marketing-Gags der Kommission
Ins Zentrum stellt die EU-Kommission die sogenannten „schrecklichen Zehn“ (Terrible Ten), die es laut der Behörde zu beseitigen gilt. Demnach gibt es viele Barrieren am EU-Binnenmarkt, die das Funktionieren des Binnenmarkts behindern. Gerne angeführt wird dabei eine überbordende Bürokratie beziehungsweise große Verwaltungslasten, die Unternehmen schier erdrücken.
Tatsächlich sollten EU-Gesetze und Regeln kontinuierlich auf ihre Aktualität geprüft werden. Das ist auch seit jeher Aufgabe der Europäischen Kommission. Es ist daher schon verwunderlich, dass sich ausgerechnet die Kommission über eine überbordende Bürokratie beschwert – bei Regelungen, die sie selbst initiiert hat. Noch seltsamer mutet es an, wenn mit Ursula von der Leyen ein und dieselbe Kommissionspräsidentin Gesetze, die sie selbst gerade erst vor fünf Jahren ins Leben gerufen hat, nun schon wieder rückgängig machen will. So zu beobachten bei einer Reihe von rechtlichen Maßnahmen im Rahmen des Grünen Deals, die dem Klimanotstand entgegenwirken sollen.
Statt dem Gemeinwohl zu dienen, entsteht so der Eindruck, dass Kommissionspräsidentin von der Leyen lieber der Wirtschaft dient. Das wird einem spätestens mit ihrer Entscheidung klar, sich einen Unternehmensvertreter zur Seite zu stellen, der auch in wichtigen Gremien wie dem Regulatory Scrutiny Board sitzen darf, die über das Zustandekommen von Gesetzen mitentscheiden.
Die Maßnahmen, die im Rahmen der Beseitigung der „Terrible Ten“ gesetzt werden sollen, lesen sich schon fast wie ein Abarbeiten von Wunschlisten von Konzernvertreter:innen. Getarnt werden diese Forderungen unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus. Tatsächlich geht es jedoch vielfach um die Streichung und/oder Verwässerung von beschäftigungs-, konsument:innen- und gesellschaftspolitischen Schutzstandards, die nun zugunsten der Interessen einzelner Wirtschaftsvertretungen geopfert werden sollen.
Omnibus-Gesetzespakete und ein 28. Gesetzesregime
Um die Forderungen der Wirtschaftsvertretungen so rasch wie möglich umsetzen zu können, hat die Kommission zudem Vereinfachungen und Streichungen von EU-Recht in Form ganzer Pakete angekündigt. Genannt wird dieses Verfahren Omnibus. Statt sich mit dem Mehrwert von einzelnen Regeln auseinandersetzen zu müssen, werden Passagen oder gleich ganze Gesetze in einem Aufwaschen gestrichen. Gesetze, die in einen demokratiepolitischen Gesetzeswerdungsprozess nach Vorlage der Kommission im EU-Parlament und im Rat diskutiert und nach Abwägung von Für und Wider beschlossen wurden, sollen so ohne viel Diskussion beseitigt werden. Die Geschwindigkeit, mit der Hunderte EU-Gesetze zur Disposition gestellt werden, ist beängstigend: Dem Vernehmen nach sollen bis Ende 2025 bis zu neun dieser Omnibus-Pakete vorgelegt werden, die eine breite Palette von Themenbereichen umfassen: unter anderem den Datenschutz, Standards zu Chemikalien, Agraragenden, KMU-Themen, Lieferketten und Berichtspflichten. Durchwegs heikle Themen, bei denen Scheuklappendenken zu einem hohen Schaden für die EU-Volkswirtschaft führen kann. Mit einem Husch-Pfusch-Verfahren können so Regeln gekippt werden, anstatt Kosten und Nutzen für die Allgemeinheit abzuwägen. Nur zur Erinnerung: Die Finanzkrise 2008 wurde vor allem aufgrund fehlender Schutzregelungen verursacht und hat weltweit immense Schäden in Billionen-Höhe verursacht.
Ähnlich verhält es sich mit dem sogenannten 28. Regime, einer zusätzlichen Rechtsordnung, die neben den 27 nationalen Rechtssystemen etabliert werden soll. Davon betroffen sind unter anderem das Arbeits-, das Steuer- und das Insolvenzrecht. Laut Kommission sollen damit Start-ups und Scale-ups gefördert werden. In der Praxis ist ein derartiger Vorschlag jedoch brandgefährlich: Nationale Schutzstandards, beispielsweise im österreichischen Arbeitsrecht, könnten damit umgangen und ausgehebelt werden. Zudem ist die Behauptung, dass diese neue Regelung nur Start-ups zugutekommen würde, falsch. Auch Großkonzerne können derartige Start-ups gründen und solchermaßen vom 28. Regime profitieren. Das zeigt sich beispielsweise an der neuen österreichischen „flexiblen Kapitalgesellschaft“, die offiziell als Rechtsform mit Erleichterungen für Start-ups verkauft wird, tatsächlich aber jedem Unternehmen zur Verfügung steht.
Das Für und Wider von Berichtspflichten
Berichtspflichten werden von Unternehmensvertretungen vielfach als reine Bürokratielast verdammt. Auf der einen Seite ist dabei durchaus Verständnis angebracht, weil einzelne Informationserfordernisse aufgrund von technologischen oder strukturellen Weiterentwicklungen nicht mehr nötig sind oder weil sie doppelt und dreifach abgefragt werden. Anpassungen bei Berichtspflichten sind daher laufend notwendig und sollten daher laufend unter Beteiligung der Sozialpartner erfolgen. Was allerdings kontraproduktiv ist und häufig auch für Unternehmen selbst negative Auswirkungen haben kann, ist eine Kettensägen-Mentalität. Ohne viel nachzudenken werden Informationspflichten gestrichen, die Auskunft über die wirtschaftliche Lage von Unternehmen oder die Marktlage geben. Ein berühmtes Beispiel ist die Signa, bei der lange Zeit nicht bekannt war, in welcher Schieflage sie sich befindet. Als kleine (!) Kapitalgesellschaft galten andere Informationspflichten als für große Unternehmen. Vor allem Zulieferbetriebe und Investor:innen erlitten durch die fehlenden Informationen große finanzielle Schäden.
Gelernt hat die Europäische Kommission daraus nichts: Neben dem 28. Regime soll die Definition, wann ein Unternehmen als KMU gilt, sogar noch ausgeweitet werden. Damit können mehr als 99,9 Prozent aller Unternehmen offiziell als KMU firmieren, selbst wenn sie längst Konzerngröße erreicht haben. Die Transparenz leidet, der Schaden könnte letztlich weit größer sein als der angedachte Nutzen.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit – oder doch nicht?
Ein Standort ist attraktiv, wenn er über gut ausgebaute Infrastruktur im Verkehrs-, Technologie- und Energiebereich und gut ausgebildete Arbeitskräfte verfügt. Das haben auch Enrico Letta und Mario Draghi in ihren viel beachteten Berichten festgestellt. Immerhin ist im Vorschlag zu den EU-Budgets für 2028 bis 2034 mit einem Gesamtmittelvolumen von fast 2.000 Mrd. Euro auch einiges an Infrastrukturinvestitionen vorgesehen. Allerdings ist davon auszugehen, dass es in den Verhandlungen im Rat noch erhebliche Einschnitte geben wird.
Die EU-Binnenmarktstrategie, die Pläne für Klimaneutralität, mehr Wettbewerbsfähigkeit und für Wachstum werden jedoch über den Haufen geworfen, wenn in anderen Politikbereichen völlig konträre Entscheidungen getroffen werden.
So zuletzt geschehen im Rahmen der Handelsvereinbarung der EU mit den USA: Die Wettbewerbsfähigkeit der EU wird durch die nun vereinbarten Zölle von 15 Prozent für Importe in die USA bzw. gar 50 Prozent für Stahlimporte erheblich geschwächt. Für US-Importe in die EU soll hingegen Zollfreiheit gelten. Weiters hat von der Leyen Käufe von fossilen Energieträgern von den USA im Wert von 750 Mrd. Dollar angekündigt. Dazukommen sollen auch noch Unternehmensinvestitionen in Höhe von 600 Mrd. Dollar. Diese werden von US-Präsident Donald Trump nun als Tributzahlung interpretiert, über die er völlig frei verfügen könne. Auch im Vergleich zu anderen Ländern wie Großbritannien hat die EU hier offensichtlich ein absolut miserables Abkommen geschlossen. Für die Wettbewerbsfähigkeit der EU ist das eine ganz schlechte Nachricht.
Angesichts dieser Entwicklungen bleibt nur mehr die Frage: Quo vadis EU?