Österreichs Sozialstaat: am Ende oder EU-Spitze?

04. Oktober 2017

Die Finanzkrise spart nicht mit Herausforderungen für Europa: hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende Ungleichheit, wachsende Unsicherheit. Traditionell hätte die Antwort „Europäisches Sozialmodell“ gelautet: Schutz der Menschen durch soziale Sicherungssysteme kombiniert mit einem investierenden Sozialstaat. Mehr Selbstbewusstsein in Bezug auf die Stärken des Sozialstaates wäre angesichts der Erfolge und des internationalen Vergleichs allemal angebracht.

Kein Zweifel, im Vergleich mit den USA oder gar den Ländern des globalen Südens ist die soziale Absicherung in Europa unvergleichlich gut. Hier bestehen fast überall funktionierende Gesundheitsversorgung, Instrumente zur Armutsbekämpfung, kollektiv finanzierte Systeme zur Unterstützung im Alter und meist auch handlungsfähige soziale Institutionen.

Je konkreter aber die Frage gestellt wird, desto klarer kommen die Unterschiede auch zwischen den EU-Staaten zum Vorschein. Wie mit wachsender Ungleichheit zwischen Arm und Reich, grassierender Arbeitslosigkeit, notwendiger sozialer Unterstützung für Familien, im Alter, bei Pflegebedürftigkeit oder sozialer Mobilität umgegangen wird, unterscheidet sich zum Teil drastisch. Vor allem seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ist in vielen vor allem südeuropäischen Ländern harscher Sozialabbau die Praxis der europäischen Sparvorgaben.

Die vielen Gesichter des Wohlfahrtsstaates

Wie ein Sozialstaat konkret funktioniert und welche Aufgaben er wahrnimmt, ist letztendlich eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses und der politischen Machtverhältnisse, die sich von Land zu Land unterscheiden und mit der Zeit auch ändern. Ein gut ausgebauter Sozialstaat kann viele Aufgaben erfolgreich lösen, wie vor allem die skandinavischen Länder vorzeigen: Sei es die Absicherung von Menschen in schwierigen Lebenslagen (etwa bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit), den Erhalt von sozialem Frieden, die Inklusion benachteiligter Gruppen in Wirtschaft und Gesellschaft, die wirtschaftliche und soziale Stabilisierung in Krisenzeiten oder die Unterstützung für ein emanzipatorisches Wirtschafts- und Sozialprojekt.

Anderen Mitgliedsländern gelingt es heute nicht einmal mehr, die seitens der Europäischen Kommission erklärten Minimalanforderungen zu erfüllen, jene „3 S“ von Sozialschutz, Stabilisierung und Sozialinvestitionen. Griechenland kann nach den selbstverschuldeten wirtschaftspolitischen Fehlern und der gescheiterten Rosskur durch die europäischen Institutionen als mahnendes Beispiel dienen. Ist angesichts dieser Unterschiede sozialer Fortschritt für alle Menschen in der EU überhaupt noch denkbar?

Traditionell werden vier Modelltypen europäischer Wohlfahrtsstaatsregime hinsichtlich ihrer Merkmale und Performanz unterschieden: das nordische Modell, das liberale Modell, das kontinentaleuropäische Modell und das rudimentäre Modell.

Das nordische Modell, für das Schweden und Dänemark stehen, ist an den Maximen Chancengleichheit und Gleichstellung der Menschen („equality“) ausgerichtet: hoher Sozialschutz in der Pensions- oder Arbeitslosenversicherung, gut ausgebaute soziale Infrastruktur bei Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und Pflege und ein universeller Charakter beim Leistungszugang, der allen Menschen Absicherung und Förderung garantiert. Für das liberale Modell stehen Großbritannien und Irland, wo über Jahrzehnte der allgemeine Sozialstaat infrage gestellt wird. Vielfach werden sozialstaatliche Aktivitäten auf die Armutsbekämpfung reduziert. Statt sozialstaatlicher Ausgleichsmechanismen und bewusster Umverteilung stehen Vertrauen auf die Marktkräfte und private Absicherung im Mittelpunkt. Das Ergebnis: „Poor services for poor people“.

Ähnlich trist ist es um die materielle Absicherung der Menschen im Rahmen des rudimentären Modells bestellt, das in vielen osteuropäischen Ländern, nach den drastischen EU-Kahlschlägen aber auch im europäischen Süden dominiert: Sozialstaatliche Traditionen und Institutionen fehlen oder wurden gekappt, soziale Schutzleistungen der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit geopfert und der Umgang mit sozialer Bedürftigkeit in die familiären Netze zurückgespielt.

Zwischen den gut ausgebauten Systemen in Skandinavien und den Minimalstandards in der südlichen und östlichen Peripherie Europas liegt das kontinentaleuropäische Modell, das etwa in Frankreich, Deutschland und Österreich betrieben wird: Es setzt vor allem auf das Sozialversicherungsprinzip, das über den Lebenszyklus besonders Menschen mit einer guten Arbeitsmarktintegration, guten Einkommen und durchgängigen Erwerbskarrieren absichert. Hingegen führen unterbrochene Erwerbskarrieren und prekäre Beschäftigung oft zu ungenügender sozialer Absicherung. Dagegen hilft neben aktiver Beschäftigungs- und Mindestlohnpolitik vor allem der Ausbau sozialer Dienstleistungen von Kinderbetreuung über Gesundheit bis Pflege, also die Annäherung ans skandinavische Modell. Österreich ist hier weiter vorangekommen als die anderen Länder der Gruppe und hat vor allem in Bezug auf die soziale Absicherung im Alter die Nase gegenüber Deutschland weit vorn.

Von den vier genannten Modellen können nur das nordische und das kontinentaleuropäische Modell den Anforderungen von Sozialschutz, Stabilisierung und Sozialinvestitionen gerecht werden. Hier sichert der Sozialstaat nicht nur gegen Armut ab, sondern bildet eine der Grundlagen für das Entstehen einer breiten Mittelschicht. Hingegen sind das liberale und das rudimentäre sozialstaatliche Modell weit zurückgefallen: Von Verlässlichkeit der Systeme und von einer Planbarkeit des Lebens kann keine Rede mehr sein. Leistungsumfang und Leistungshöhen wurden teils so stark verringert, dass die Sicherung eines minimalen Lebensstandards nicht mehr gewährleistet ist. Damit hat die Mittelschicht oft ungeschützt die Abstiegsgefährdung vor Augen.

In der Bewertung des österreichischen Sozialstaates ergibt sich ein paradoxes Bild. In Österreich selbst wird von liberaler und konservativer Seite ein Bild der Unfinanzierbarkeit und Ungerechtigkeit gezeichnet. Doch international mausert sich der österreichische Sozialstaat zum Vorbild, das auch wissenschaftlichen Untersuchungen standhält.

Österreich: Zu Hause kritisiert, international gelobt

Die Analysen der OECD lassen keinen Zweifel daran, dass der österreichische Sozialstaat sowohl unter Gesichtspunkten der von ihm getätigten Ausgaben als auch in Bezug auf das Ergebnis in Form von sozialer Absicherung und Lebensstandard der breiten Masse der Bevölkerung im internationalen Spitzenfeld liegt.

Herbert Obinger vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen kommt nach dem internationalen Vergleich von 30 Indikatoren zum Schluss, dass in Österreich trotz konservativer Strukturmerkmale die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates überdurchschnittlich hoch ist. Mit Erstaunen konstatiert er: Die guten Ergebnisse im internationalen Vergleich stehen in Kontrast zu einem rufschädigenden Sozialstaatsdiskurs in Österreich selbst.

Nicht anders schätzt dieses Verhältnis der Soziologe Bernd Marin ein, der bislang um ein kritisches Wort zur Selbstgefälligkeit der Sozialstaatsdiskussion in Österreich kaum verlegen war. Seine jüngste Untersuchung, die er im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung gemeinsam mit Jan Arpe verfasst hat, wird mit „Österreich zwischen gut und besser: Soziale Inklusions-Bilanz in vergleichender Sicht“ betitelt. Und dort heißt es prominent: „Insgesamt wird Österreich seinen Ambitionen und seinem Selbstbild als sozial einigermaßen fortschrittliches, in Einzelbereichen mitunter sogar vorbildliches Land mit vergleichsweise eher umfassender gesellschaftlicher Einbindung der Bürger und einem erträglichen Ausmaß an wahrgenommener Ungerechtigkeit durchaus gerecht.“

Die gute soziale Absicherung der Menschen in Österreich hat nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis. Betrachtet man das Niveau der sozialstaatlichen Ausgaben, so weist Österreich mit etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) die sechsthöchste Sozialquote der EU auf. Mehr für Sozialschutz wird in Frankreich, Dänemark, Finnland, den Niederlanden und in Belgien ausgegeben. Neben der hohen Effektivität und Leistungsfähigkeit lässt sich auch eine fast verblüffende Beständigkeit der Sozialausgaben konstatieren: Seit Mitte der 1990er-Jahre bewegt sich die Höhe der Sozialquote in einem stabilen Band zwischen 28 und 30 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Es scheint wenig überraschend, dass eine an der europäischen Spitze liegende Sozialquote nicht mit der Abgabenquote Lettlands (29 Prozent) finanzierbar ist. Österreich weist mit 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts deshalb in der EU auch den fünfthöchsten Anteil von Steuern und Beiträgen am BIP auf, nach Belgien, Frankreich, Dänemark, Finnland und gleichauf mit Schweden.

In der politischen Diskussion dominiert die Befürchtung, hohe Sozialausgaben und hohe Abgabenlast würden die wirtschaftliche Entwicklung bremsen und damit wieder die Finanzierbarkeit des Sozialstaates gefährden. Doch die Daten beweisen auch hier das Gegenteil: Österreich verfügt mit fast 37.000 Euro über das vierthöchste BIP pro Kopf zu Kaufkraftstandards, nach Luxemburg, Irland, den Niederlanden und knapp vor Dänemark, Deutschland und Schweden.

Im Vergleich mit anderen EU-Ländern ist vor allem der materielle Lebensstandard in der Mitte der Gesellschaft besonders hoch: Das verfügbare Haushaltseinkommen pro Kopf misst das Einkommen nach Abzug der Abgaben und Hinzurechnung von Sozialtransfers und sozialen Dienstleistungen für den Haushalt in der Mitte der Gesellschaft: Dabei liegt Österreich mit knapp 22.000 Euro hinter Luxemburg an zweiter Stelle der EU-Länder, gefolgt von Schweden und Dänemark und mehr als ein Drittel über dem EU-Durchschnitt.

Offensichtlich gehen hoher Lebensstandard in der Mitte der Gesellschaft, wirtschaftlicher Erfolg und hohe Produktivität mit einer hohen Sozial- und Abgabenquote einher. Gesellschaften mit hohen Einkommen und hoher Wirtschaftskraft präferieren soziale Dienstleistungen hoher Qualität: zum Beispiel im Bildungssystem, in der Mobilität und bei der sozialen Sicherheit. Deshalb ist in reichen Ländern wie Österreich die Sozialquote höher als in armen und, um das zu finanzieren, auch die Abgabenquote.

Erfolgsmix für eine breite Mittelschicht

Die Vermeidung von Armut ist ohne Zweifel eine zentrale Aufgabe jedes Sozialstaats. Doch in den Zielvorstellungen seiner Architekten und Architektinnen in Österreich und Skandinavien gingen die Ansprüche weit darüber hinaus: Für entscheidend wurde eine gute soziale Absicherung für die breite Mittelschicht, die von Arbeitseinkommen lebt, erachtet. Das wird bis heute grosso modo auch erreicht.

Denn die Mittelschicht zahlt viel in den Sozialstaat ein, bekommt aber auch viel wieder zurück. Sind die Menschen jung, beschäftigt, gesund und ohne Kinder, dann zahlen sie primär in das soziale Sicherungssystem ein. Kommen dann die Kinder, wird man einmal krank oder arbeitslos und geht man schließlich in Pension, befindet man sich in der Auszahlungsphase. Das ist die typische sozialstaatliche Verteilungswirkung über den Lebenszyklus. Gleichzeitig kommt es zu einer solidarischen Umverteilung zwischen den Menschen, die das Glück eines guten Jobs und einer langen Gesundheit haben, und jenen, die von den Risiken des Lebens getroffen werden. Der soziale Zusammenhalt wäre auf eine harte Probe gestellt, würde der Staat nicht umverteilend und ausgleichend eingreifen.

Der Sozialstaat sorgt auch für Optimismus bei den Menschen, wenn er glaubwürdig Sicherheit im Lebensstandard vermitteln kann. Das ist entscheidend für das Gelingen des wirtschaftlichen Strukturwandels und Modernisierungsprozesses: Schon historisch konnte gezeigt werden, dass es die Länder mit sicherer sozialer Basis im eigenen Land waren, die sich besonders früh an den internationalen Handel wagten. Und auch heute stehen jene Länder wie Schweden, Dänemark und Österreich an der Spitze der weltweiten Wohlstandspyramide, die über einen guten Sozialstaat verfügen. Denn erst soziale Sicherheit ermöglicht es, sich auf Neues einzulassen, sie fördert Aufgeschlossenheit und Innovation, die Ingredienzien wirtschaftlichen Erfolgs.

Allein die Vorstellung, wie die Gesellschaft in Österreich aussähe, wenn nur mehr das Bankkonto über Schlüsselfragen des Lebens ausschlaggebend wäre, reicht als Argument für den Sozialstaat. Wer könnte sich eine länger dauernde Ausbildung oder die Gründung einer Familie leisten? Welche Kinder gingen in Kindergärten oder zur Schule? Wer hätte genug Geld, um sich eine notwendige Zahn- oder Krankenbehandlung zu leisten? Wie würden wir im Alter über die Runden kommen und wie würden wir gepflegt werden? Die Sozialruine würde wohl rasch auch zur Demokratie- und Wirtschaftsruine, wie nicht zuletzt die österreichische Geschichte der 1930er-Jahre gezeigt hat. Österreich liegt politisch richtig, wenn möglichst vielen Menschen ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und eine gute Chance auf wirtschaftliche und soziale Teilhabe gewährt werden.

Dies ist nicht selbstverständlich, denn nicht nur in den südeuropäischen Krisenländern wurde der Sozialstaat zurückgebaut. Auch die unrühmlichen Kürzungen in der deutschen Pensions- und Arbeitslosenversicherung unter der rot-grünen Bundesregierung haben zu einem massiven Anstieg der Ungleichheit in einem der reichsten Länder der Welt geführt. Warum ist die Sache bei uns besser gelaufen? Dazu haben wohl auch institutionelle Besonderheiten wie die starke Konsensorientierung, die Einbindung der Sozialpartner und starke Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen  beigetragen.

Wirklich alles eitel Wonne?

Dass vieles gut funktioniert, ist beruhigend. Vor allem das Pensionssystem hebt sich im EU-Vergleich positiv ab, aber auch das Gesundheitssystem und der Ausbau von Kindergärten und Schulen. Andererseits gibt es Probleme und Herausforderungen, die nicht zu vernachlässigen sind: Bildung wird nach wie vor „vererbt“, das Angebot an leistbarem Wohnraum hält nicht mit dem starken Bevölkerungswachstum Schritt, beim notwendigen Ausbau des Pflegesystems fehlt ohne Erbschaftssteuer das Geld, das männliche Ernährer-Familienmodell bleibt vielerorts dominant, die Einkommens- und Absicherungsschere zwischen den Geschlechtern nimmt zu, wie auch die diffamierende und chauvinistische Note im Sozialstaatsdiskurs.

Mehr Selbstbewusstsein in Bezug auf die Stärken des Sozialstaates wäre angesichts der Erfolge und des internationalen Vergleichs allemal angebracht. Und darauf wäre dann auch aufzubauen: In Form von Investitionen in Bildung, Arbeitsmarktintegration und Pflege, in einer laufenden Evaluierung der Effizienz, was Verwaltung und Strukturen betrifft, und in einer Sicherstellung der Finanzierung des Sozialstaates. Eine radikale Senkung der Abgabenquote ist mit einer guten sozialen Absicherung für alle Menschen per definitionem nicht vereinbar. Statt dumpfem Wohlstandschauvinismus wäre schließlich eine engere Zusammenarbeit mit den erfolgreichen nordischen Wohlfahrtsstaaten angebracht.

Dieser Beitrag ist der aktuellen Falter-Sonderbeilage „Das Rätsel Mitte – Über das große Zentrum unserer Gesellschaft“ entnommen (die als e-Paper online gelesen oder auch als PDF heruntergeladen werden kann). Diese Beilage ist Teil der Reihe „Ökonomie – Eine eine kritische Handreichung“.