Innerbetriebliche Bürokratie – wo das wahre Potenzial für Deregulierung schlummert

23. April 2018

Deregulierung und Entbürokratisierung scheinen der Wirtschaft und den wirtschaftsnahen Parteien derzeit als das Gebot der Stunde. Insbesondere Vorgaben zum Arbeitnehmerschutz und zur Arbeitszeit stehen seit geraumer Zeit unter Beschuss. Die Arbeitsinspektion, als gesetzlich berufenes Kontroll- und Beratungsorgan, wurde zum Sündenbock hochstilisiert. Vereinfachte, kurzsichtige, teilweise sogar unwahre Behauptungen wurden von zahlreichen Medien weitgehend unhinterfragt aufgegriffen.

Fachleute mag dies – beispielsweise im Zusammenhang mit dem Arbeitnehmerschutz – verwundern, sind doch die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer/-innen gemacht. Weshalb ist es dennoch anders? Eine Antwort darauf könnte sein, dass sich viele Menschen tatsächlich massiven bürokratischen Aufwendungen und komplexen Regulierungen ausgesetzt sehen. Ein Blick in die Arbeitswelt verrät jedoch: gesetzliche Vorgaben oder die Arbeitsinspektion sind nur selten für überbordende Bürokratie und Regulierung verantwortlich.

Deregulierung – was wirklich in den Unternehmen ankommt

Schon in der vorhergehenden Legislaturperiode wurden zahlreiche Schritte zur Deregulierung umgesetzt. Die Übermittlung von Unterlagen zu Eignungs- und Folgeuntersuchungen an die Arbeitsinspektion wurde vereinfacht, die Aufzeichnungspflicht für Beinaheunfälle ist entfallen, die Aushangpflicht arbeitnehmerschutzrelevanter Gesetze wurde gestrichen (Artikel 20 des Deregulierungsgesetzes 2017) usw. Hierbei fällt zunächst auf, dass von den Sozialpartnern und den damaligen Regierungsparteien stets ein maßvoller Umgang bei der Deregulierung gefunden wurde. Dort, wo es sinnvoll war, konnte dereguliert bzw. entbürokratisiert werden, ohne dass es zu einer massiven Beeinträchtigung der Interessen von Arbeitnehmer/-innen kam.

Doch was kam von der angeblich so dringend benötigten Deregulierung in den Unternehmen an? In der Praxis zeigt sich, dass zahlreiche Unternehmen weggefallene Regelungen weiter anwenden. Entfallene Melde- und Aufzeichnungspflichten werden häufig weiterhin erfüllt. Die ehemals aushangpflichtigen Gesetze werden weiterhin vielerorts aufgelegt. Letztlich mag dies wenig verwundern. Die durchschnittliche jährliche Kostenersparnis pro Unternehmen für den Entfall der Aushangpflicht beispielsweise wurde in der wirkungsorientierten Folgenabschätzung des Sozialministeriums mit zehn Euro pro Unternehmen angegeben. Was hier von manchen wirtschaftsnahen Akteuren/-innen als große Entlastung verkauft wurde, scheint in Wahrheit wenig zu bringen. Die Bücher werden weiterhin, nun unter anderem Titel, abgesetzt und aufgelegt. Viele Unternehmen sind offenbar der Meinung, dass die Auflage arbeitnehmerschutzrelevanter Gesetze mehr nützt als sie kostet.

Innerbetriebliche Bürokratie

Dennoch ist die Kritik an zu viel Bürokratie und Überregulierung nicht ganz unberechtigt. Sämtliche betriebliche Akteure/-innen, von den Beschäftigten über die Führungskräfte bis hin zu den obersten Verantwortungsträgern bzw. Verantwortungsträgerinnen, sehen sich heute einer Vielzahl von Vorgaben ausgesetzt. Schnell sind die Betroffenen versucht, den Staat oder den „Amtsschimmel“ dafür verantwortlich zu machen. Doch bei näherer Betrachtung hat eine Vielzahl der „lästigen“ Vorgaben ihren Ursprung wo anders.

Umfangreiche Dokumentationsverpflichtungen für die Qualitätskontrolle, Konzernvorgaben aus der weit entfernten Zentrale, die Einhaltung von Normen, die Erfüllung von Zertifizierungsvorgaben, komplexe Freigabeprozesse usw. Diese Liste ließe sich wohl noch lange fortsetzen. Auffällig dabei ist, dass nichts davon auf einer arbeitsnehmerschutzrechtlichen Vorgabe beruht und auch nichts davon von der Arbeitsinspektion kontrolliert oder sanktioniert wird. Vielmehr handelt es sich um bürokratische Aufwendungen und Regulierungen, welche sich durch das Marktumfeld, in dem sich das Unternehmen bewegt, ergeben. Vieles ist auch schlicht selbst auferlegt und entspricht den hierarchischen Unternehmenskulturen.

Sicherheit oder Rechtssicherheit?

Doch warum erfüllen Unternehmen noch Vorgaben, die bereits obsolet sind? Hierfür lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Ein Grund könnte sein, dass betriebliche Akteure/-innen die Entwicklung von Gesetzen kaum „in Echtzeit“ beobachten und deshalb die gewohnten Prozesse einfach weiterführen. Lieber mehr bürokratischen Aufwand als rechtlich angreifbar werden. In der Beratungspraxis lässt sich dies regelmäßig in Zusammenhang mit Arbeitnehmerschutz beobachten. Manche Unternehmen betreiben einen hochprofessionellen Aufwand was die Dokumentation der Arbeitsplatzevaluierung und der Unterweisung betrifft, der sich dann aber am Arbeitsplatz schlicht nicht widerspiegelt. Arbeitsanweisungen, Zeitvorgaben und Einhaltung des Arbeitnehmerschutzes passen oft nicht zusammen und Arbeitsunfälle sind die Folge. Die Dokumente gaukeln jedoch ein perfektes System vor, um rechtlich möglichst nicht angreifbar zu sein. Und dieses Phänomen ist nicht nur in Klein- und Mittelbetrieben zu beobachten, sondern durchaus auch in großen Strukturen. Rechtssicherheit scheint hier wichtiger zu sein als die tatsächliche Sicherheit der Beschäftigten. Derart muss die Arbeitsplatzevaluierung den betroffenen Akteuren/-innen tatsächlich häufig vorkommen wie sinnentleerte Bürokratie.

Normen(un)wesen

Normen erfüllen grundsätzlich einen wichtigen Zweck, legen sie doch Standards fest, die letztlich jedem/jeder (Arbeitnehmer/-innen, Bürger/-innen oder Konsumenten/-innen) zugutekommen. Allerdings hat sich im Normenwesen ein lukrativer Markt entwickelt. Und diese Entwicklung hat nicht unbedingt das Gemeinwohl im Auge.

Zunächst sind Normen – anders als Gesetze – nicht frei zugänglich. Man muss sie in der Regel käuflich erwerben. Und das ist nicht billig. Insbesondere deshalb, weil in Unternehmen häufig eine Vielzahl von Normen beachtet werden müssen. Die Gestaltung von Normen entzieht sich auch weitgehend demokratischen Prozessen. Arbeitnehmervertreter/-innen sind gewöhnlich kaum beteiligt. Weiters bedarf es bei der Erstellung von Normen einer hohen fachlichen Expertise, was grundsätzlich nachvollziehbar ist. Derartig hochspezialisierte Experten/-innen haben jedoch nicht selten ein gewisses Naheverhältnis zu Unternehmen, bspw. als Forschungsauftragsnehmer/-innen oder ehemalige Mitarbeiter/-innen. Es entsteht fallweise der Eindruck, dass bestimmte Normen auch als Markteintrittshürde für neue Player bzw. Schutz für Bestehende fungieren.

Rund um das Normen- und dem damit in Zusammenhang stehenden Zertifizierungswesen hat sich ein lukrativer Markt für Berater/-innen, Auditoren/-innen usw. gebildet. Die Einführung neuer bzw. die Änderungen bestehender Normen bedeutet für die Anbieter klingelnde Kassen, für die Kunden – sprich die Unternehmen – jedoch erhebliche Kosten und einen hohen Ressourcenaufwand. Der gesetzliche Arbeitnehmerschutz ist im Vergleich dazu beständiger. Änderungen erfolgen zumeist in kleinem Rahmen und mit Arbeitsinspektion, AUVA oder den Experten/-innen der Sozialpartner stehen Berater/-innen kostenlos zur Verfügung.

Fazit und Ausblick

Die breite Betroffenheit und der Unmut über Bürokratie und Regulierungen ist durchaus verständlich und nachvollziehbar. Die große Last für Unternehmen und deren Beschäftigten liegt aber mitnichten im Bereich des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes. Den wirtschaftsnahen politischen Akteuren/-innen ist es jedoch gelungen, den vorhandenen Unmut anzusprechen und der Debatte eine Richtung zu geben, die ausschließlich auf unliebsame Regelungen aus der eigenen Perspektive abzielt.

Abschaffung von mehrwertfreier Bürokratie für Arbeitnehmer/-innen (z. B. ärztliche Bestätigungen bei kurzfristiger Pflegefreistellung)? Hierfür gibt es keinerlei Signale. Für Menschen, die Leistungen aus dem Sozialsystem benötigen, wird der bürokratische Aufwand sogar erhöht, was selbstredend auch die zuständige Verwaltung betrifft (z. B. bei der Indexierung der Familienbeihilfe). Bürokratischer Aufwand und Überregulierung scheinen für die Wirtschaftsvertreter/-innen jedenfalls kein Problem zu sein, solange es den eigenen Kontrollbedürfnissen genügt bzw. der Aufwand in erster Linie jemand anderen trifft.

Tatsächlich sind es jedoch zumeist innerbetriebliche bürokratische Vorgaben, welche Effizienz und Produktivität behindern. Dieses Phänomen bleibt natürlich nicht unbemerkt. „Zurück an die Arbeit“, forderte der bekannte deutsche Unternehmensberater und Wirtschaftspublizist Lars Vollmer in einem Buch 2016 und landete damit einen Bestseller. Pointiert beschreibt er darin, wie Unternehmen sich durch Bürokratie, Besprechungsstrukturen und Kontrollinstanzen selbst von der Arbeit abhalten.

Die Pläne der Bundesregierung stimmen freilich wenig zuversichtlich. Arbeitsinspektion, AUVA und das Arbeitnehmerschutzgesetz an sich scheinen auf der Abschussliste zu stehen. Aus ideologischen Gründen soll ein bewährtes System geopfert werden, das sowohl für Betriebe als auch für die gesamte Gesellschaft einen erheblichen Mehrwert bringt. Unternehmer/-innen und betriebliche Akteure/-innen, die aber tatsächlich an einer Reduktion von bürokratischen Aufwand und hinderlicher Regulierung interessiert sind, sollten zunächst ihr Augenmerk nach innen richten. Dies bietet mehr Handlungsoption als das bloße Gejammer über gesetzliche Vorgaben.