Technologische Unabhängigkeit in der digitalen und grünen Transformation

14. Februar 2024

Die jetzige Situation der doppelten Transformation (digital und grün) ist eine industrielle Revolution. Maßgeblich sind hier neue Technologien, die diese Transformationen prägen. Die EU strebt angesichts großer globaler Dynamik im Rahmen des Green Deal Industrial Plan (GDIP) und des Net-Zero Industry Acts (NZIA) Produktionsziele von 40 Prozent für kritische Technologien an und treibt diese Strategie gemeinsam mit einigen Mitgliedstaaten zügig voran. Dennoch ist sie sehr unter Druck geraten: „too little, too late“, gemessen an der rasenden weltweiten Entwicklung und den zu erreichenden Klimazielen, und gleichzeitig sehr überfordernd, wenn es darum geht, die notwendige Fülle der Maßnahmen in allen Mitgliedstaaten auf den Boden zu bringen. Die EU muss das Thema Technologiesouveränität aus ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Gründen bei der Transformation umfassend im Blick haben. Technologien werden eine maßgebliche Rolle in der Transformation spielen und sie werden wichtig sein, wenn die EU auch weiterhin eine Wohlstandsunion sein will.

Technische Innovation und Technologien sind in der Transformation in Richtung einer klimaneutralen und digitalen Zukunft (Twin Transition) ein zentraler Baustein. Technologien als auch Innovationsprozesse sind dabei eng verwoben mit gesellschaftlichen Strukturen, sozialen Beziehungen und Machtverhältnissen. Die Chancen für Wohlstand, die mit Forschung, Innovation und Technologien verbunden sind, sind evident. Als Motor wirtschaftlicher Entwicklung können sie den notwendigen Wandel in Richtung Klimaneutralität vorantreiben und gleichzeitig neue Felder erschließen, um dort auszugleichen, wo Beschäftigung und Wertschöpfung in Zukunft schrumpfen. Der Wettlauf um neue Technologien und Innovationen ist voll im Gange.

Patent it, Baby! Der Wettlauf um (grüne) Technologieführerschaft

Die EU steht im grünen und digitalen Strukturwandel vor einer großen Herausforderung. Das industrielle Rückgrat der Union bzw. wichtige Industriesegmente – von der Automobilindustrie über die Chemie bis hin zum Maschinenbau – beruhen auf technologischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von dem Punkt der global führenden Rolle in diesen Technologien wurde eine industriepolitische Strategie des Optimierens und Verbesserns verfolgt: eine die letzten Jahrzehnte erfolgreiche Strategie, die nun im Zuge eines tiefgreifenden Technologiewechsels hin zu digitalen und grünen Technologien jäh an ihre Grenzen stößt.

In einer solchen Situation kommt Forschung und Entwicklung eine besondere Bedeutung zu. Sie spielen eine wesentliche Rolle in der Umsetzung der Energiewende, bei Möglichkeiten zum sparsameren Umgang mit Energie und Ressourcen und im Aufbau einer kreislauffähigen Wirtschaft. Technologische Durchbrüche können die Kosten für die technisch notwendig gewordenen Systemumstellungen drastisch senken und damit ihre Durchsetzung beschleunigen. Nebenbei ermöglichen sie neue Geschäftsfelder, Beschäftigung und Wertschöpfung. Die Qualität und Zielrichtung unserer Forschungsaktivitäten sind ausschlaggebend dafür, wie fit unsere Wirtschaft für eine klimaneutrale & digitale Zukunft ist.

Im digitalen Bereich gelten die USA und Asien seit Langem als führend, der EU fällt es schwer, hiermit einen Umgang zu finden. Ähnliches könnte im Bereich der grünen Technologien passieren. Eine positive Nachricht ist, dass in den vergangenen Jahren die weltweiten Forschungsaktivitäten in grünen Technologien stark zugenommen haben. Neue Studien zeigen, dass sich die Zahl der Weltklassepatente (die als wichtiger Indikator gelten) im Bereich der grünen Technologien zwischen 2010 und 2022 von knapp 50.000 auf über 150.000 mehr als verdreifacht haben. Jedoch ist der wichtigste Akteur neben den USA und Japan neuerdings auch China. China hat in den letzten Jahren mit einem enormen Tempo aufgeholt und legt alles daran, die USA vom Spitzenplatz zu verdrängen (siehe Grafik). Die Volksrepublik greift mit ihren industrie- und wirtschaftspolitischen Strategien nicht nur die USA, sondern ebenso Europa in seinen Schlüsselindustrien an. Ein Beispiel für diese Strategien ist die „Made in China 2025“-Strategie.

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Technologische Souveränität versus strategische Abhängigkeiten

Im Herbst 2023 schrieb bereits die „Financial Times“ (08/09/2023), dass Chinas Vormachtstellung in der Lieferkette für saubere Technologien mit dem großen Einfluss Saudi-Arabiens auf dem Ölmarkt vergleichbar sei. China dominiert bereits heute die Produktion von Schlüsseltechnologien in drei für die Transformation strategisch wichtigen Bereichen: erneuerbare Energien, saubere Mobilität und Batterietechnologie.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig, können aber grob unter dem Schlagwort einer strategisch und fokussiert ausgerichteten Industrie- sowie Forschungs- & Entwicklungspolitik zusammengefasst werden. Ihr Ziel: die Technologieführerschaft im Green-Tech-Bereich. Wie kam es dazu? Lange Zeit hatte sich China zur Werkbank der Welt entwickelt. Vor allem europäische Unternehmen waren bestrebt Produktionsschritte nach China zu verlagern. Einerseits mit dem Ziel, China als Markt für die eigenen Produkten zu eröffnen, und andererseits, um Gewinne aufgrund geringerer Produktionskosten, vorwiegend aufgrund von niedrigeren Arbeitskosten und Umweltauflagen, zu maximieren. Mit dem strategisch gewählten wirtschaftspolitischen Fokus auf den Bereich Green Tech und den Skalenvorteilen, die sich aufgrund der Produktionsmengen ergeben, hat sich China in den letzten Jahren als zentraler globaler Player im Green-Tech-Bereich entwickelt.

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Die USA ziehen nach: der Inflation Reduction Act als Kampfansage

In Reaktion auf Chinas Bestrebungen, die Technologieführerschaft zu erringen und Monopole in zentralen zukünftigen Wertschöpfungsketten zu errichten, versuchen die USA mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ihre Stellung am globalen Weltmarkt abzusichern. Für Europa bedeutet die strategische Neuausrichtung der US-amerikanischen Industrie- und Ansiedlungspolitik diverse Risiken für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Aktuelle Studien identifizieren für Europa Wettbewerbsrisiken, wirtschaftliche Risiken und Divergenz-Risiken. Die Tabelle unten zeigt eine Übersicht über die unterschiedlichen Risiken und ihre Bedeutung für wichtige grüne Technologien.

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Die Antwort der Europäischen Union: Technologieführerschaft und Stärkung der technologischen Unabhängigkeit

In Anbetracht der Dynamik des globalen Wettlaufs um Technologien, Innovation und technologische Souveränität stellt sich die Frage, wie sich die Europäische Union strategisch positioniert, um Wertschöpfung und Beschäftigung und damit Wohlstand zu sichern. Als wichtigen Richtungsweiser und Taktgeber hat die Europäische Kommission den Europäischen Grünen Deal eingeschlagen. Er ist nicht nur ein breites Beschleunigungsprogramm für den grünen und digitalen Strukturwandel, sondern hat ebenso den Anspruch, die Antwort auf das globale wirtschaftliche und technologische Wettrüsten zu sein. Um von der Idee des Grünen Deals zur Umsetzung zu gelangen, war die Kommission die letzten Jahre enorm aktiv und rief unzählige Rechtsakte, Verordnungen und Initiativen ins Leben. Nun müssen die Mitgliedstaaten mit der gleichen Ambition die Umsetzung rasch vorantreiben.

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Zentrale Bausteine der wirtschaftlichen Transformation der Union in eine grüne und digitale Zukunft sind neben dem Rahmen des Green Deal Industrial Plan (GDIP) die Verordnung des Net-Zero Industry Acts (NZIA), der für die Union Produktionsziele von 40 Prozent für kritische Technologien vorgibt, und auch die Plattform für strategische Technologien (STEP). Letztere soll bis zu 160 Milliarden Euro an Investitionen in kritische und strategisch wichtige Technologien mobilisieren und schwerpunktmäßig Digital-, Netto-Null- und Biotechnologien unterstützen sowie dadurch die technologische Unabhängigkeit Europas stärken. Um strategische Rohstoffabhängigkeiten zu reduzieren und neue Wertschöpfungsketten zu generieren, setzt die EU auch auf Kreislaufwirtschaft und will den Ausbau von erneuerbaren Energien und Infrastruktur vorantreiben, zum Beispiel mit dem Aktionsplan Kreislaufwirtschaft.

Quo vadis?

Der Startschuss für den Wettlauf um Technologieführerschaft und die daraus entstehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Vorteile hinsichtlich strategischer Unabhängigkeit, Wertschöpfung und Beschäftigung ist längst gefallen. Global machen sich bereits die ersten großen Player auf den Weg in die digitale und grüne Zukunft. Technologieführerschaft und technologische Souveränität sind dabei kein Selbstzweck, sondern auch der Garant dafür, die Zukunft selbst aktiv gestalten zu können. Denn die Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung der Transformation und Entwicklungsrichtungen hängen maßgeblich davon ab, ob Wissen, Know-how und Technologieführerschaft in Europa vorhanden sind oder eben nicht. Die Frontrunner weisen den Weg für die zukünftigen Entwicklungen. Sie setzen Standards und Normen und bestimmen, was sich schlussendlich durchsetzt und welche Möglichkeiten es zur Mitbestimmung und Teilhabe gibt; Stichwort: digitaler Humanismus. Wenn die Union zum Ziel hat, die Menschen ins Zentrum der Entwicklungen zu stellen und Wohlstand zu erhalten, wie sie es unermüdlich in den mannigfachen Dokumenten des Grünen Deals betont, muss Technologiesouveränität in wesentlichen Bereichen das Ziel sein. Technologiesouveränität ist dabei eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für selbstbestimmtes wirtschaftliches Handeln. Kritische Ressourcen/Rohstoffe und Kompetenzen sind ebenfalls maßgebliche Faktoren, die wirtschaftliche Entwicklung formen und vorantreiben. Es muss also stets ein systemischer Zugang gewählt werden, um sowohl die Widerstands- als auch die Anpassungsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums in einem dynamischen globalen Umfeld zu wahren und weiterzuentwickeln. Wie gut dies der Europäischen Union gelingen wird, hängt von der Qualität ihrer wirtschafts-, struktur- und industriepolitischen Maßnahmen ab. Wichtige Pflöcke sind mit dem Green Deal und all seinen Rechtsakten und Verordnungen eingeschlagen. Doch es gibt noch viel zu tun und es gilt nun, möglichst viel, rasch und in inklusiver Form in Umsetzung zu bringen.

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