Normung und Standards: Gewerkschaftliches Engagement notwendig

27. Dezember 2023

Normung zielt auf die einheitliche Festlegung von technischen Produkteigenschaften ab. Die Idee dahinter: einheitliche Gestaltung von Gegenständen, damit sie in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen an verschiedenen Orten für verschiedene Personenkreise nutzbar gemacht werden. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gehen Normen weit über das Technische hinaus, beziehen sich auch auf Management und Dienstleistungen. Welche Auswirkungen hat das, wo sind gewerkschaftliche Kompetenzen betroffen? Und wie sollen sich Gewerkschaften in den Gestaltungsprozess von Normen einbringen?

Normung erreicht die Arbeitswelt

Wenn wir an Normen denken, denken wir zunächst vermutlich an Stecker für Elektrogeräte, genormte Ladekabel für Handys oder an Papierformate. Inzwischen betreffen Normen mehr und mehr Management und Dienstleistungen, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Arbeitsprozesse und betriebliche Personalarbeit sowie Arbeitsbedingungen. Im Hinblick auf die duale Transformation (grün und digital) rückt die Normung bezüglich künstlicher Intelligenz in den Mittelpunkt. Aber auch „human centered transition pathways“ (menschenzentrierte Transformationswege) sollen Gegenstand von ISO-Normung werden.

Grafik: Normen erreichen Arbeitswelt © A&W Blog
© A&W Blog


Daher ist es wichtig, die politischen Rahmenbedingungen für die Beteiligung aller betroffenen Stakeholder zu setzen, damit die Normung nicht nur die Interessen der Arbeitgeber unterstützt, sondern auch zur Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beiträgt. Normung kann nämlich auch für Gewerkschaften ein nützliches Instrument sein: Beispiel ist der Normungsantrag der Cockpit Association, unterstützt von der Gewerkschaft vida: Ziel war es, durch eine EU-Norm die Luftqualität in Flugzeugen zu verbessern. Denn aufgrund deren Bauweise können kleine Mengen von Triebwerks- oder Hydrauliköl trotz vorhandener Dichtungen in die Kabinenluft gelangen und dadurch die Gesundheit des Flugpersonals schädigen.

Bedeutung der Normung

Der Prozess, der zu einer Norm führt, ist langwierig und bedarf höchster fachlicher Expertise. Unternehmen stellen die Expertise ihres Personals nicht aus Altruismus oder Interesse am fachlichen Austausch zur Frage, wie breit zum Beispiel die Sprosse einer Leiter sein sollte. Vielmehr geht es darum, welche Technologien, Maße oder Abläufe in Zukunft zertifizierbarer Standard sein sollen. Je mehr die entwickelte Norm den eigenen Methoden oder Systemen entspricht, desto weniger Anpassungskosten sind erforderlich, um die Zertifizierung zu erlangen. Normen spiegeln also die Wünsche von Unternehmen wider und werden oft zur Marktabschottung gegenüber den Konkurrenten genutzt. Sie dienen damit der Untermauerung der Marktstellung marktmächtiger Unternehmen. Denn: Produkte müssen dann, wenn sie zertifiziert und weltweit gehandelt werden sollen, den durch Normung festgelegten Standards entsprechen.

Europäische Normen werden im Auftrag der Europäischen Kommission von drei anerkannten europäischen Normenorganisationen (CEN, Cenelec oder ETSI) entwickelt. Mit ihrer Annahme werden sie Teil des EU-Rechts. In einigen Fällen konkretisieren Normen direkt EU-Gesetzgebung und sind mit ihr verzahnt – wie beispielsweise die EU-Verordnung zur künstlichen Intelligenz.

Mit der Globalisierung hat sich das Normungsgeschehen auf die europäische und internationale Ebene verschoben: Zunehmende Standardisierung auf internationaler Ebene in ISO-Gremien, in denen vorrangig US-amerikanische und chinesische Unternehmen tätig sind, führt auf lange Sicht zu einer technologischen Marktführerschaft anderer Wirtschaftsmächte. Ein Indikator für die Auswirkung von Normung auf arbeits- und sozialpolitische Bereiche sind die in ISO-Normen enthaltenen Bezüge auf die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.

Eine Frage der Demokratie

Es wird immer wieder eingewendet, dass Normen unverbindlich und ihre Anwendung freiwillig seien. Normungsinstitute sehen ihre Funktion dabei als Plattform, die ihre Infrastruktur zur Verfügung stellt. Die Finanzierung erfolgt durch das Entgelt, das für den Zugang zu den ausgearbeiteten Normen zu bezahlen ist.

Doch diese auf Basis privatwirtschaftlicher Interessen ausgearbeiteten Regeln entfalten Drittwirkung. Das ist überall dort der Fall, wo der Gesetzgeber auf den Stand der Technik oder auf eine bestimmte Norm Bezug nimmt. Damit erlangen Normen eine „quasi gesetzliche“ Wirkung, ohne dass ihnen eine demokratische Legitimation zugrunde liegt. Auch wenn der Oberste Gerichtshof inzwischen in seiner Rechtsprechung Denksportaufgaben zur Erkenntnis über den Inhalt von Gesetzen nicht abgeneigt ist, setzt der Verfassungsgerichtshof doch Grenzen auf Basis des Bestimmtheitsgebotes von Art 18 Abs 1 B-VG. Dynamische Verweisungen auf Normen sind u. a. dann verfassungswidrig, wenn das Verweisungsobjekt nicht ausreichend bestimmt oder die verwiesene Norm nicht kundgemacht bzw. die Fundstelle nicht angegeben wurde.

Mit der Frage des Rechtszugangs beschäftigt sich derzeit der Europäische Gerichtshof (EuGH). So hält die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen (Rechtssache C-588/21 P; Public.Resource.Org und Right to Know / Kommission u. a.) fest, dass europäische harmonisierte technische Normen wegen ihrer besonderen Rechtsnatur als unionsrechtliche Rechtsakte frei und kostenlos zugänglich sein sollten. Auf europäischer Ebene sind 3.600 Verweise auf Normen im Amtsblatt veröffentlicht. Sollte der EuGH diesem Vorschlag folgen, so müsste das gesamte Geschäftsmodell der Normungsinstitute neu aufgestellt werden.

Eine ähnliche Problematik liegt vor, wenn im Rahmen der öffentlichen Beschaffung die Leistungsbeschreibung auf Normen Bezug nimmt. Alle Bieter:innen müssen entweder entsprechend zertifiziert sein oder nachweisen, dass die von ihnen gewählte Methodik bzw. Technologie der Norm entspricht. Da die öffentliche Beschaffung rund 14 Prozent des EU-BIP ausmacht, entwickeln Normen auch über diesen Weg starke normative Kraft des Faktischen.

Zurückholung der Normung in die Politik

Die EU-Kommission spricht von der Normung als „unauffälligem Fundament des EU-Binnenmarktes“. Dies ist wohl der Hintergrund, weshalb sie die Normung wieder zurück in ihre gestalterisch-politische Sphäre holt. In ihrer Normungsstrategie von 2022 setzt sie daher auf eine bessere Beteiligung von Stakeholdern.

Insbesondere Letzteres ist für Gewerkschaften und Vertreter:innen von Konsument:innen von Bedeutung. Denn derzeit ist es so, dass den Gewerkschaften die zeitlichen und finanziellen Ressourcen für eine aktive Beteiligung fehlen. Wenn sie einmal in den Normungsgremien vertreten sind, kommt ihnen meist nur beratender Status oder ein ungewichtetes Stimmrecht zu. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) vertritt beispielsweise 45 Millionen Mitglieder mit einer Stimme in einer Fachgruppe, in der ihm hoch spezialisierte Unternehmensvertreter:innen gegenübersitzen.

Der EGB hat deshalb gemeinsam mit anderen Institutionen eine gemeinsame Position zur verstärkten Inklusion von Stakeholder-Organisationen in den nationalen, europäischen und internationalen Normungsinstitutionen entsprechend der EU-Verordnung 1025/2012 entwickelt.

Ausblick

Es erscheint geboten, dass sich Gewerkschaften mit der wirtschaftspolitischen Bedeutung von Normen befassen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat konkrete Handlungsempfehlungen für Gewerkschaften und Betriebsräte zur Stärkung bei der Normungsbeteiligung entwickelt. Voraussetzung für das Gelingen ist jedoch, dass die Partizipation nicht zu einem „trojanischen Pferd“ wird. Das Austrian Standards Institute (ASI) hat bereits den Weg des Konsensprinzips und der Partizipation beschritten. Kommt es zu abweichenden Meinungen in den Komitees, so steht eine Schlichtungsstelle zur Verfügung. Stakeholder werden aktiv eingeladen, sich an Facharbeitsgruppen zu beteiligen. Ergänzt könnte dies durch eine Transparenzverbesserung beim Verfahren in den Fachgruppen und Komitees werden.

Das sogenannte Partizipationsprinzip und der Grundsatz „Ein Vertreter – eine Stimme“ sollte weiterentwickelt werden. Zur Stärkung der Teilnahmemöglichkeiten kann das deutsche Beispiel der Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) dienen. Sie vertritt für die Sozialpartner die Interessen des Arbeitsschutzes in der Normung in institutionalisierter Form. In Österreich gibt es die Fachstelle Normungsbeteiligung, die die Interessen der Verbraucher:innen und Menschen mit Behinderung vertritt. Eine ähnliche Einrichtung für Arbeitsschutz wäre anzudenken.

Erstmals fand Normung auch Eingang in das ÖGB-Programm 2023–2028, beschlossen am 20. Bundeskongress, wobei auf die Bedeutung im Rahmen der EU-Industriestrategie verwiesen wird:

  • Normung kann ein Instrument zur Sicherung von guter Arbeit auch auf europäischer Ebene sein, wenn aufgrund von Obstruktion einzelner Mitgliedstaaten keine Rechtsfortbildung gelingt: Als Beispiel sei Luftqualität im Flugzeug genannt. Hier war es die Interessenvertretung der Pilot:innen und Stewardessen, die in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft vida die Standards für die Luftqualität in Flugzeugen über Normung setzen wollte.
  • Die Entwicklung roter Linien dort, wo Normung direkt in Betriebsvereinbarungen oder Kollektivverträge eingreift.

Oder wie der Präsident des österreichischen und europäischen Gewerkschaftsbundes, Wolfgang Katzian, in seiner Rede beim ASI am 24.11.2023 trefflich formulierte: „Wir müssen die dunkle Kammer der Normen aufstoßen, Licht hineinbringen, für eine Demokratisierung sorgen und Normungsaktivitäten in Bereichen ablehnen, die besser durch Gesetze oder Kollektivverträge geregelt werden.“

Der Beitrag fasst die zentralen Punkte eines Workshops am 24.11.2023 zusammen, veranstaltet vom Europäischen und Österreichischen Gewerkschaftsbund, AK und Austrian Standards (ASI), dem österreichischen Normungsinstitut.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung