Zug um Zug: Wie Europa mit der Bahn­industrie den Weg in eine sozial-ökologische Wirtschafts­politik findet

04. Dezember 2025

Die EU-Kommission hat nun einen Plan vorgelegt, wie sie die wichtigsten europäischen Städte mit Hochgeschwindigkeitszügen verbinden will. Nahezu zeitgleich wurden in Österreich erstmals chinesische Züge zugelassen. Diese Entwicklungen zeigen: Europa braucht eine Wirtschaftsstrategie für die Bahnindustrie. Der Sektor bietet alles, was es für eine soziale und ökologische Mobilitätswende braucht – wenn die EU ihre Technologieführerschaft dazu strategisch nutzt und dafür aktiv plant.

Vom Werk ins Netz: Industrielle Potenziale für Europas Verkehrsziele nutzen

Anfang November präsentierte EU-Verkehrskommissar Tzizikostas stolz den Aktionsplan für das Hochgeschwindigkeits-Schienennetz, das die Großstädte Europas miteinander verbinden soll. Damit werden die ambitionierten verkehrspolitischen Ziele der EU – u. a. soll der Hochgeschwindigkeits-Personenverkehr bis 2030 verdoppelt und bis 2050 verdreifacht werden – durch neue und raschere Verbindungen konkretisiert. Ziel ist es, Europa über die Schiene besser zu vernetzen und das Fliegen auf Mittel- und Kurzstrecken weitgehend überflüssig zu machen.

Wirtschaftspolitisch eröffnen diese Ziele Chancen für eine nachhaltige Nachfrage, zusätzliche Beschäftigung und die Entwicklung von Zukunftstechnologien. Allein der Ausbau des Hochgeschwindigkeits-Schienennetzes erfordert bis 2050 Investitionen von 550 Mrd. Euro. Hinzu kommen EU-weit jährlich rund 46 Mrd. Euro für neue Züge. Die flächendeckende Einführung des einheitlichen Zugsicherungssystems ERTMS schlägt bis 2050 mit weiteren 190 Mrd. Euro zu Buche und erhöht dank Digitalisierung die Kapazität des Schienennetzes.


© A&W Blog


Im Unterschied zu anderen Bereichen der Dekarbonisierung sind die EU und insbesondere Österreich – wie eine aktuelle AK-Studie zeigt – gut aufgestellt, die Mobilitätswende hin zur Schiene selbst zu produzieren. Die europäische Bahnindustrie ist ein High-Tech-Sektor mit weltweiter Spitzenstellung: Über 650.000 Beschäftigte erwirtschaften 45,8 Mrd. Euro Umsatz; in Deutschland arbeiten rund 50.000 Menschen in der Branche und erzielen 12 Mrd. Euro. Pro Kopf liegt jedoch Österreich weltweit an der Spitze – kein anderes Land verzeichnet höhere Exporte, F&E-Investitionen oder Patentanmeldungen. Insgesamt schafft der Sektor direkt und indirekt bereits 34.000 Arbeitsplätze, wobei zunehmend Fachkräfte aus der krisengeplagten Autoindustrie aufgrund ähnlicher Qualifikationsprofile in die Bahnindustrie wechseln.

Strategische Weichenstellung für eine neue Wirtschaftspolitik

Damit spitzt sich im Gegenzug die Frage zu: Wer profitiert künftig von den wirtschaftspolitischen Chancen der Mobilitätswende? Denn Anfang November kündigte die Westbahn an, als eines der ersten EU-Unternehmen chinesische Züge einzusetzen. Kritische Reaktionen von AK, Gewerkschaften und dem Verband der Eisenbahnindustrie lösten jedoch eine kontroverse Debatte über eine aktive und planende Wirtschaftspolitik aus: Wollen wir die Fehler bei Photovoltaik, Batterien und E-Autos wiederholen – oder die wirtschaftspolitischen Alleinstellungsmerkmale des Bahnsystems und die Technologieführerschaft der europäischen Bahnindustrie nutzen, um eine neue EU-Wirtschafts- und Industriepolitik voranzutreiben?

Ein Möglichkeitsfenster für erste Umsetzungsschritte in diese Richtung öffnete dann Peter Hanke, Bundesminister für Innovation, Mobilität und Infrastruktur: Er kündigte an, das Thema auf die europäische Ebene zu heben und sich für eine EU-Wirtschaftsstrategie für die Bahnindustrie einzusetzen.

Und genau dort muss angesetzt werden: Denn über Jahrzehnte verfolgte die EU keine aktive und planende Wirtschaftspolitik. Politische Zielsetzungen wurden primär durch strikte Wettbewerbs- und Beihilferegeln flankiert – den Rest sollte der Markt regeln. Spätestens die jüngste Entwicklung zeigt, dass dieses marktliberale Paradigma an seine Grenzen stößt: In zentralen Zukunftstechnologien ist die EU gegenüber Ländern und Wirtschaftsblöcken wie China, die gezielt auf strategische und planende Wirtschaftspolitik setzen, technologisch ins Hintertreffen geraten.

Das Bahnsystem bietet dabei besonders günstige Voraussetzungen, um als ein zentraler Leitsektor den sozialen und ökologischen Umbau voranzutreiben und industrielle Produktion in Europa zu sichern. Denn neben der Technologieführerschaft der Bahnindustrie ist die Bahn einer der wenigen Wirtschaftsbereiche, die immer noch ganz überwiegend durch öffentliche Mittel und Eigentum getragen werden. Damit kann die öffentliche Hand – anders als in vielen anderen Industrien – unmittelbar wirksame nachfrageseitige Industriepolitik betreiben: durch langfristige Investitionsprogramme, strategische Vergabekriterien und klare industriepolitische Leitplanken.

Dabei geht es nicht nur um das „Ob“, sondern auch um das „Wie“ der Nachfrage, über das die öffentliche Hand steuern kann: Durch öffentliche Beschaffung lassen sich soziale, ökologische und regionale Kriterien (local content) verbindlich festlegen, die Innovation fördern und faire Arbeitsbedingungen sichern. Zugleich kann die Bahnindustrie als Lokomotive für weitere europäische Zukunftstechnologien wirken – etwa für grünen Stahl, Bionik, Sensorik sowie Mikro- und Nanoelektronik. Der deutsche Stahlgipfel, bei dem die Deutsche Bahn auf den Einsatz von grünem europäischem Stahl verpflichet wurde, zeigt exemplarisch, wie die Bahnindustrie als „Technology-Pull“-Sektor andere Zukunftsbranchen mit- bzw. hochziehen kann.

Kurz gesagt: Kaum ein Sektor ist so prädestiniert für die Entwicklung einer neuen sozial-ökologisch planenden Wirtschaftspolitik, welche den notwendigen Umbau strategisch und rasch umsetzt, gute Arbeitsplätze schafft und damit den Ausstieg aus fossilen Industrien und die Reduzierung von Endenergie- und Ressourcenverbrauch erst ermöglicht.

Eine EU-Wirtschaftsstrategie für die Bahnindustrie

Um dieses Potenzial zu heben, braucht es aber einen Bruch mit der alten marktliberalen Wirtschaftspolitik, deren Dysfunktionalität in den letzten Jahren immer offenkundiger wird. Und trotz der Freude über den im November vorgestellen Aktionsplan für den Hochgeschwindigkeits-Schienenverkehr ist dieser immer noch in seinem Kern durch das alte Denkmuster geprägt: Man setzt sich ambitionierte Ziele, den Rest erledigt der Markt. Daher muss der Aktionsplan jetzt durch eine EU-Wirtschaftsstrategie für die Bahnindustrie ergänzt werden, die auf drei Säulen aufbaut: Finanzierung, Industrie- und Beschäftigungspolitik.

Finanzierung sichern: EU-Mittel für den Bahnausbau aufstocken

Die bereits genannten Zahlen sprechen für sich: Das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz und die Digitalisierung der Bahn brauchen massive Investitionen. Daher muss das CEF-Transport-Budget im kommenden EU-Finanzrahmen (2028–2034) dringend auf 100 Milliarden Euro aufgestockt werden. Das ist nicht nur aufgrund der gigantischen Investitionslücke notwendig, sondern auch, weil mit dem Auslaufen der finanziellen Unterstützung durch NextGenerationEU ab 2026 rund 50 Milliarden Euro an bisherigen Schienenförderungen wegfallen, die im letzten EU-Finanzrahmen zusätzlich zur Verfügung standen. Das ist gerade für das Bahnland Österreich entscheidend: Jeder Euro, der in Schienenprojekte in Europa fließt, stößt aufgrund der starken heimischen Bahnindustrie überproportional Nachfrage in Österreich an.

Europäische Produktion und Technology-Pull ermöglichen

Die im österreichischen Regierungsprogramm vorgesehene Beschaffungsstrategie im Verkehrssektor sieht vor, dass „regionale Wertschöpfung, die Qualität der Leistungserbringung und die Einhaltung der arbeits- und sozialrechtlichen Standards bei der Vergabe von Dienstleistungsverträgen, Beschaffungsprozessen und Förderungen im Verkehrssektor Priorität haben“. Diese Grundsätze müssen auf EU-Ebene abgesichert und zumindest als verpflichtende Kriterien für die Nutzung von EU-Mitteln verankert werden.

Das muss auch für private Bahnunternehmen sichergestellt werden. Wer gemeinwirtschaftliche Leistungen erbringt und dafür öffentliche Gelder erhält – wie etwa im Rahmen des Klimatickets –, muss an verbindliche europäische Sozial-, Umwelt- und Wertschöpfungsstandards (local content) gebunden werden. Öffentliche Finanzierung darf nicht zu Sozialdumping beitragen und muss Produktion in Europa sicherstellen.

Zudem sollte die EU die Chance nutzen, die Bahnindustrie als Hebel für andere klimarelevante Industrien einzusetzen. Eine Grünstahlquote im Bahnsektor – etwa als Voraussetzung für den Abruf von CEF-Transport-Mitteln – könnte jene Leitmärkte schaffen, die europäische Unternehmen wie die Voestalpine benötigen, um Investitionen in klimafreundliche Produktionsverfahren, wie etwa Elektrolichtbogenöfen, langfristig abzusichern.

Technologische Souveränität: Sicherheit digitaler Systeme gewährleisten

Mit der Zulassung chinesischer Züge in Europa stellt sich auch die Frage nach technologischer Souveränität und Sicherheit. Die EU muss sicherstellen, dass Schienenfahrzeuge – so zuletzt auch Josef Doppelbauer, bis zum Vorjahr Chef der europäischen Eisenbahnagentur –, die im europäischen Personen-, Güter- oder sogar Militärverkehr eingesetzt werden, höchsten Sicherheits- und Integritätsanforderungen entsprechen und nicht aus Drittstaaten ferngesteuert werden können.

Dafür braucht es eine Anpassung der Technischen Spezifikationen für Interoperabilität (TSI) und eine verpflichtende umfassende Prüfung der digitalen Autonomie und Cybersicherheit. Dazu gehört auch die Nutzung von Instrumenten der öffentlichen Beteiligung an Unternehmen, um die Kontrolle über Schlüsselbetriebe nicht zu verlieren. Gerade im Bereich kritischer Infrastruktur und entsprechender Technologie darf Europa nicht in gefährliche Abhängigkeiten geraten.

Jetzt die Weichen für eine neue Wirtschaftspolitik stellen

Europa steht damit an einem entscheidenden Punkt: Entweder wir überlassen die Mobilitätswende weiter dem Markt – und riskieren erneut, dass Wertschöpfung, Arbeitsplätze und technologische Führung verloren gehen. Oder wir nutzen die historische Chance, die Bahnindustrie zum Herzstück einer neuen, sozial-ökologisch planenden Wirtschaftspolitik zu machen. Die nötigen Technologien sind vorhanden, die wirtschaftlichen Potenziale enorm, der Handlungsbedarf offensichtlich.

Eine europäische Wirtschaftsstrategie für die Bahnindustrie wäre daher weit mehr als ein branchenspezifisches Programm – sie wäre der Einstieg in eine Wirtschaftspolitik, die Klimaziele nicht nur ausruft, sondern durch planvolles und strategisches Handeln auch erreicht.

Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0: Dieser Beitrag ist unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International zugänglich. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/. Weitere Informationen https://awblog.at/ueberdiesenblog/open-access-zielsetzung-und-verwendung