Endlich Daten: Ein Rückblick auf die soziale Lage in der COVID-19-Pandemie

16. August 2023

Hochwertige Statistiken haben in der Regel einen großen Nachteil: Die Erhebung und Aufbereitung der Daten nimmt viel Zeit in Anspruch und Ergebnisse sind oft erst Jahre später verfügbar. Somit erlauben erst jüngst veröffentlichte Daten einen umfangreichen Blick auf die soziale Lage während der COVID-19-Pandemie. Dabei zeigt sich vor allem eine Zunahme der Armutsbetroffenheit bei gleichzeitig sehr hoher Vermögenskonzentration, noch bevor die Teuerungskrise voll Fahrt aufgenommen hat.

Schnellboote und Tanker

Auch bei Statistiken gibt es wendige Schnellboote und schwere Tanker. Zur ersten Gruppe zählte in der COVID-19-Pandemie das von Wissenschafter:innen der Universität Wien aufgesetzte „Austrian Corona Panel Project (ACPP)“. Kaum zwei Wochen nach dem ersten Lockdown wurde diese Panelerhebung ins Leben gerufen und bis Februar 2023 in 34 Wellen durchgeführt. Die Ergebnisse konnten rasche erste Indizien zur Entwicklung der Haushaltseinkommen liefern. Bereits im April 2020 zeigten die ACPP-Daten einen Anstieg der Zahl jener Haushalte, die mit einem sehr niedrigen Haushaltseinkommen von unter 1.100 Euro pro Monat auskommen mussten. Bis September 2020 meldeten vermehrt auch Haushalte in der Mitte und am oberen Ende der Einkommensverteilung Einkommensverluste, besonders Selbstständige waren betroffen.

Im Sommer 2020 startete eine Kooperation rund um das Institut für Höhere Studien (IHS) eine weitere Panelstudie (AKCOVID), die auf die Auswirkungen von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit auf die finanzielle Situation von Haushalten fokussierte. Auch diese Auswertungen zeigen, dass vor Beginn der Krise noch weniger als 10 % der Haushalte schwer mit ihrem Einkommen zurechtkamen, sich dieser Anteil bis Juni 2020 aber verdoppelte und im Verlauf der Pandemie bis Jänner 2021 auf diesem hohen Niveau blieb. Dementsprechend groß war der Anteil der Befragten, die befanden, der Sozialstaat sei mit Beginn der Krise „viel wichtiger“ geworden: Er stieg von rund einem Drittel im Juni 2020 auf 40 % im Jänner 2021.

Ende 2021 ließ auch Statistik Austria ihr Schnellboot vom Stapel: den SILCExpress: „So geht’s uns heute“. Es ist das Beiboot des großen Tankers EU-SILC, der eine jährliche europaweite Stichprobenerhebung ist und die Grundlage für die international vergleichbaren Indikatoren zu Armut und Einkommensungleichheit in Österreich darstellt. Der SILCExpress ist hingegen eine kleinere quartalsweise durchgeführte Befragung mit Fokus auf Einkommensänderungen und finanzielle Schwierigkeiten. Im Frühjahr 2023 publizierte Statistik Austria schließlich die Ergebnisse aus dem EU-SILC 2022. Im Juni 2023 folgte die Oesterreichische Nationalbank mit ihrem Flaggschiff der Vermögensdaten, dem Household Finance and Consumption Survey (HFCS) 2021. Welches Bild über die soziale Lage in der COVID-19-Pandemie zeichnen die neu veröffentlichten Daten?

Armut hat zugenommen

Eine Tücke der EU-SILC-Daten muss gleich vorweggenommen werden: Manche Variablen zur Vermessung der sozialen Lage, etwa zur materiellen Deprivation, werden im Erhebungsjahr festgestellt, andere wichtige Variablen, etwa das Einkommen, gelten allerdings für den Vorjahreszeitraum. Der im April 2023 veröffentlichte SILC-Datensatz misst also die materielle Deprivation im Jahr 2022, aber die Armutsgefährdung anhand der Einkommen von 2021.

Aus der EU-SILC-Befragung werden drei Kennzahlen zur Armut erhoben. Die Armutsgefährdungsquote bezieht sich auf das Einkommen eines Haushaltes im Verhältnis zum Medianeinkommen. Liegt dieses unter der Armutsgefährdungsschwelle – im Jahr 2021 betrug diese 1.392 Euro pro Monat für einen Ein-Personen-Haushalt (12-mal jährlich und bezogen auf das Nettoeinkommen inklusive öffentlicher und privater Transfers) – so gelten der Haushalt und seine Mitglieder als armutsgefährdet. Während es in den Jahren vor der COVID-19-Krise einen sinkenden Trend in der Armutsgefährdungsquote gab, ist diese in der Krise wieder angestiegen. Im Jahr 2021 lebten 14,8 % der Bevölkerung, also 1,3 Millionen Menschen, unter der Armutsgefährdungsschwelle. 2020, im ersten Corona-Krisenjahr, waren es ähnlich viele, nämlich 14,7 %, vor der Pandemie (2019) noch 13,9 %. Da die Armutsgefährdungsquote ein relatives Maß ist und die Veränderungen daher meist gering ausfallen, ist der Anstieg um fast einen Prozentpunkt bemerkenswert groß.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Das zweite Maß ist die materielle und soziale Deprivation, bei der anhand von 13 Merkmalen abgefragt wird, ob sich Menschen bestimmte Güter oder Aktivitäten, die zu einem guten Leben dazugehören, leisten können. 2022 waren 5 % der Bevölkerung depriviert (5 von 13 Merkmalen nicht leistbar) und 2 % erheblich depriviert (7 von 13 Merkmalen nicht leistbar). Das sind 460.000 bzw. 201.000 Personen in Österreich. Etwa konnten sich 19 % keine unerwarteten Ausgaben leisten, 5 % waren mit Zahlungen im Rückstand, 6 % konnten es sich nicht leisten, zumindest einmal im Monat Freund:innen oder Familie zum Essen zu treffen, und 12 % konnten aus finanziellen Gründen nicht auf Urlaub fahren.

Das dritte Maß ist die geringe Erwerbsintensität. Diese liegt vor, wenn von den erwerbsfähigen Haushaltsmitgliedern weniger als 20 % des maximal möglichen Erwerbspotenzials (also, wenn alle Mitglieder, die nicht in Ausbildung oder Pension sind, Vollzeit arbeiten würden) ausgeschöpft wird. Im ersten Corona-Krisenjahr 2020 ist der Anteil der Haushalte mit 7 % gegenüber dem Vorkrisenwert konstant geblieben, im Jahr 2021 ist er durch die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt leicht auf 6 % gesunken. Dennoch lebten in Österreich immer noch 363.000 Personen in Haushalten mit geringer Erwerbsintensität.

Als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet gelten jene Personen, auf die zumindest eine dieser drei Kennzahlen zutrifft. In Österreich waren das im Jahr 2021 18 %, also 1,6 Millionen Menschen. Die Zahl ist damit im Vergleich zum Vorkrisenjahr um einen Prozentpunkt gestiegen. Am stärksten betroffen waren (Langzeit-)Arbeitslose, Ein-Eltern-Haushalte, und Menschen mit Migrationsbiografie. Besonders besorgniserregend ist das Problem der Kinderarmut: 353.000 Kinder wachsen in einem von Armut oder Ausgrenzung gefährdeten Haushalt auf, somit ist mehr als jedes fünfte Kind (22 %) betroffen.

Vermögenskonzentration bleibt angespannt

Die Datenlage zur Vermögensverteilung war schon vor der COVID-19-Pandemie beschränkt und in Österreich nur durch den Household Finance and Consumption Survey (HFCS) abgedeckt. Die mittlerweile vierte Erhebungswelle fand von Mai 2021 bis Februar 2022 statt und wurde im Juni 2023 veröffentlicht. Der HFCS beruht auf freiwilliger Teilnahme, was die Durchführung mitten in der Pandemie erschwerte und die Datenqualität vor allem am oberen Rand erheblich schwächte. Extrem reiche Personen waren schon in früheren HFCS-Erhebungswellen nicht ausreichend vertreten und im HFCS 2021 haben sogar noch weniger Reiche teilgenommen. Bemerkenswert ist allerdings die mitten in der Pandemie veröffentlichte Studie der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB), wonach das reichste 1 % der Bevölkerung in Österreich bis zu 50 % des gesamten Nettovermögens besitzen könnte, wenn man die Spitze der Vermögensverteilung zu den lückenhaften Befragungsdaten hinzuschätzt. Die Ergebnisse zeigen somit eine schon vor COVID-19 demokratiegefährdende und die Klimakrise befeuernde Schieflage bei den Vermögen.

Einschätzungen auf Basis journalistisch recherchierter Reichenlisten legen nahe, dass sich die Vermögenskonzentration sogar weiter verschärft haben könnte. Laut Analyse der Nichtregierungsorganisation Attac von Reichenlisten von “Forbes”, “Vermögensmagazin” und “Trend” hat sich das Vermögen der 100 reichsten Familien im Jahr 2021 um 14 % bzw. um 25 Milliarden auf 205 Milliarden Euro erhöht. Vor allem Milliardär:innen konnten Zugewinne von 28 % bzw. 19 Milliarden Euro verbuchen. Dementsprechend zeigen zahlreiche Umfragen auch klare Mehrheiten in der Bevölkerung für einen fairen Beitrag der Vermögenden zur Finanzierung der sozialstaatlichen Leistungen für alle Menschen. Die aktuellen Werte für die Zustimmung zu vermögensbezogenen Steuern schwanken im Falle der Erbschaftsteuer zwischen 48 % und 70 % sowie zwischen 54 % und 70 % im Falle der Vermögensteuer.

Fazit

Die soziale Lage in Österreich hat sich während der COVID-19-Pandemie vor allem für vulnerable Gruppen verschlechtert. Während der gut ausgebaute Sozialstaat und rasche Maßnahmen von Regierung und Sozialpartnern, wie etwa das Kurzarbeitsmodell, eine weitere Verschärfung abfedern konnten, zeigten sich aber auch Lücken im Sozialsystem und in der Armutsbekämpfung. Wichtige Stellschrauben für einen nachhaltigen Sozialstaat gibt es viele: Abschaffung von Kinderarmut, höhere Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit, bessere Qualifizierungsangebote als Ausweg aus der Niedriglohnbeschäftigung, armutsfeste Sozialleistungen in Notlagen, Ausbau von Pflege- und Gesundheitsleistungen, flächendeckende Kinderbetreuungsangebote etc. 

Die Vermögenskonzentration hat sich in den Krisenjahren nicht entspannt und muss weiterhin im Fokus der Wirtschaftspolitik stehen. Eine Reduktion der Konzentration bei den Superreichen wäre nicht nur demokratie- und klimapolitisch wünschenswert, sondern könnte auch wichtige finanzielle Spielräume beim erwähnten Ausbau sozialstaatlicher Leistungen eröffnen. Der nahtlose Übergang von der COVID-19- in die Teuerungskrise, ein drohender wirtschaftlicher Abschwung, sowie die Herausforderungen durch demographischen Wandel und die Klimakrise dienen zumindest als Warnung, dass ein hoher Lebensstandard keine Selbstverständlichkeit ist, sondern das Resultat sozialer Errungenschaften und laufender Anpassungen im Sozialstaat. Wie sich diese Gemengelage auf die aktuelle soziale Lage auswirkt, werden – wie immer – erst die zukünftigen Datenveröffentlichungen zeigen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Editorials der Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“, 2023, Band 49, Nr. 2. In dieser Ausgabe finden sich u. a. interessante Beiträge zum System der Lohnkoordination in Österreich sowie zu den ökonomischen Effekten einer Jobgarantie.