Warum die Gender-Apartheid in Afghanistan auch Europa angeht

02. Juli 2025

Afghanische Frauen erleben seit der Machtübernahme der Taliban eine beispiellose Entrechtung. Doch Gender-Apartheid endet nicht an den Grenzen Afghanistans – auch in Österreich kämpfen geflüchtete Afghaninnen gegen Unsichtbarkeit, Diskriminierung und institutionelle Hürden. Was die Politik jetzt tun muss – und was Empowerment wirklich heißt.

Kein Vergehen ohne Namen: Warum die Gender-Apartheid in Afghanistan ein globales Thema ist – und was Europa tun muss

Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 erleben Frauen und Mädchen in Afghanistan eine systematische Entrechtung – mit einer Brutalität, die in ihrer Totalität erschüttert. Ihr Alltag ist durchzogen von rigiden Verboten: Sie dürfen keine Schulen besuchen, nicht studieren, nicht arbeiten, nicht reisen – außer in männlicher Begleitung. Selbst öffentliche Parks, Fitnessstudios oder Friseursalons sind für sie verboten. Es ist ein Leben hinter unsichtbaren Mauern, ein Leben im Ausschluss.

Die Vereinten Nationen sprechen von „Apartheid aufgrund des Geschlechts“. Diese Bezeichnung ist zutreffend – und doch bleibt sie bislang nur eine politische Metapher, keine völkerrechtlich verbindliche Kategorie. Genau das ist das Problem. Denn solange diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit keinen klaren Namen haben, bleiben sie ohne rechtliche Konsequenz. Und damit unsichtbar – für die internationale Strafgerichtsbarkeit, für Sanktionen, für den historischen Diskurs.

Ein namenloses Leid bleibt folgenlos

Was keinen Namen hat, kann nicht bestraft, nicht aufgearbeitet, nicht verhindert werden. Diese sprachliche Leerstelle ist nicht nur juristisch relevant – sie ist auch eine Form der sekundären Gewalt: Das Unrecht wird verschwiegen, weil es nicht benannt werden kann. Das zu ändern, ist Ziel einer transnationalen, feministischen Bewegung, angeführt von afghanischen Frauen im Exil. Der Policy Brief Gender Apartheid in Afghanistan des VIDC (Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation) legt den rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Handlungsrahmen offen – und appelliert an die Verantwortung Europas, nicht länger zuzusehen.

Gender-Apartheid betrifft auch Europa

Denn das Problem beginnt nicht erst an den Grenzen Afghanistans – es reicht bis nach Europa. Auch hierzulande leben rund 15.250 afghanische Frauen, die meisten von ihnen sind vor der radikalen Geschlechterpolitik der Taliban geflohen. Ihre Erwerbsquote liegt laut Integrationsfonds bei lediglich 21,7 Prozent, die Arbeitslosenquote bei über 50 Prozent. Diese Zahlen erzählen nicht von Passivität – sondern von strukturellen Hürden, von fehlender Anerkennung, von politischen Versäumnissen. Viele dieser Frauen mussten in Afghanistan ohne Schulbildung aufwachsen – jahrzehntelanger Ausschluss vom Bildungswesen hat Spuren hinterlassen: geringe Alphabetisierung, kaum formale Abschlüsse, kaum berufliche Erfahrung.

In Österreich angekommen, stoßen sie erneut auf Barrieren: komplexe Behördengänge, mangelnde Kinderbetreuung, Sprachkurse ohne ausreichende Unterstützung. Die Folge: geringe Chancen auf Teilhabe, finanzielle Abhängigkeit von männlichen Familienmitgliedern, psychische Belastungen.

Hürden und Mehrfachdiskriminierung schränken soziale Teilhabe ein

Wie Judith Kohlenberger in ihrer Studie „Perspektiven für die Integration geflüchteter Frauen“ betont, sehen sich afghanische geflüchtete Frauen in Österreich mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert: geringe formale Bildung, fehlende Berufserfahrung, Sprachbarrieren sowie eingeschränkte Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Diese Faktoren führen zu einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit und erschweren den Zugang zum Arbeitsmarkt erheblich. Zudem erleben viele dieser Frauen Mehrfachdiskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihres Migrationsstatus.

Psychosoziale Belastungen und Gesundheitsversorgung

Studien zeigen, dass afghanische Frauen häufiger unter psychosozialen Belastungen wie Angststörungen und Depressionen leiden als andere Bevölkerungsgruppen. Diese Belastungen werden durch traumatische Fluchterfahrungen, unsicheren Aufenthaltsstatus und mangelnde soziale Unterstützung verstärkt. Zudem berichten viele Frauen von ungedeckten Gesundheitsbedürfnissen, was auf strukturelle Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung hinweist.

Rolle der Familie und Sorgearbeit

Über 30 Prozent der afghanischen Frauen wurden in Österreich erneut Mutter – oft ohne familiäres Netz, ohne Entlastung, ohne Großeltern. Viele sind für die Betreuung ihrer Kinder alleine verantwortlich, was ihre Teilnahme an Sprachkursen und beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen einschränkt. Die fehlende Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsplätzen verschärft dieses Problem und führt zu einer zusätzlichen Belastung der Frauen.

Herausforderungen bei der Arbeitsmarktintegration

Geflüchtete Frauen sind trotz teilweise hoher Bildungsabschlüsse und Mehrsprachigkeit seltener erwerbstätig als Männer. Hindernisse wie Sorge- und Familienarbeit, fehlende Betreuungsmöglichkeiten, geringe Berufserfahrung sowie sexistisch oder rassistisch bedingte Diskriminierung erschweren den Einstieg in den österreichischen Arbeitsmarkt. Laut der Studie Perspektiven für die Integration geflüchteter Frauen geben 45 Prozent der Befragten an, keine kurzfristige Betreuungsmöglichkeit für ihre Kinder außerhalb der Kernfamilie zu haben – eine zentrale Ursache für Überlastung und chronischen Stress.

Rolle der Kinderbetreuung für Integration

Die Verfügbarkeit von flächendeckender und niederschwelliger Kinderbetreuung ist entscheidend für die soziale Integration geflüchteter Frauen. Schulen, Betreuungsangebote oder Sportvereine, die die Kinder besuchen, können positive Beiträge zur Integration leisten, indem sie die Sozialkontakte der Mütter erhöhen. Freundschaften mit österreichischen Familien helfen, das soziale Netzwerk zu erweitern.

Und dennoch: Diese Frauen kämpfen. Leise, ausdauernd, mutig. Sie organisieren Lerngruppen, begleiten andere Frauen zu Ämtern, übersetzen, bilden sich weiter, leisten emotionale Care-Arbeit – meist unbeachtet, oft unbezahlt. Ihr Engagement bleibt unsichtbar, weil es nicht ins Narrativ von „zu integrierenden Problemgruppen“ passt. Aber genau sie sind es, die integrationspolitische Räume mit Leben füllen – und neue gesellschaftliche Bündnisse ermöglichen.

Internationale Konferenz in Wien: Räume schaffen für Widerstand

Im Mai 2025 organisierte der afghanische Kulturverein AKIS gemeinsam mit dem VIDC, der Arbeiterkammer Wien und den ÖGB-Frauen eine zweitägige internationale Konferenz zum Thema „Gegen Gender-Apartheid. Förderung von afghanischen Frauen und Mädchen durch Bildung und Arbeit“. Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Community-Mitglieder kamen zusammen, um über Wege der Selbstermächtigung zu diskutieren – jenseits von paternalistischer Politik.

Im Zentrum standen Frauen wie Palwasha Kakar, frühere stellvertretende Ministerin für Frauenangelegenheiten, und Shagofah Ghafori, eine junge Menschenrechtsaktivistin, die eindrücklich schilderten, wie der tägliche Kampf gegen das Vergessen aussieht: Online-Schulen, geheime Lerngruppen, digitale Solidarität – kleine Akte des Widerstands, getragen von einem unerschütterlichen Glauben an die Bildung als Befreiung.

Die Konferenz war ein politischer Akt: Gender-Apartheid ist keine kulturelle Eigenheit, kein innerafghanisches Problem. Sie ist ein Angriff auf die Menschlichkeit – und erfordert internationale Solidarität, klare Begriffe, rechtliche Konsequenzen und eine feministische Außenpolitik.

Geflüchtete Frauen als politische Akteurinnen anerkennen

Die Integrationspolitik in Österreich spricht oft von „besonders schutzbedürftigen“ Gruppen. Doch diese Zuschreibung verkennt: Viele Frauen sind nicht nur Betroffene – sie sind Akteurinnen. Sie gründen Organisationen, schaffen Bildungszugänge, leisten Aufklärungsarbeit. So wie Zahra Hashimi, die mit OMID eine Online-Schule gegründet hat, oder Friba Sadeq, die mit dem Frauenmagazin Banu eine feministische Stimme in die Öffentlichkeit trägt.

Sie sind nicht nur Repräsentantinnen einer verlorenen Heimat – sie sind Architektinnen einer neuen, gerechten Welt. Doch ihr politisches Engagement wird selten strukturell gefördert. Die Förderlogik bleibt defizitorientiert, Projekte müssen sich in enge Fördertöpfe pressen, werden oft prekär finanziert und nach kurzer Laufzeit wieder beendet.

Was jetzt notwendig ist: Fünf Forderungen für konkrete Veränderung

  1. Völkerrechtliche Anerkennung der Gender-Apartheid: Damit der systematische Ausschluss von Frauen nicht nur moralisch verurteilt, sondern juristisch geahndet werden kann.
  2. Niederschwellige, frauenspezifische Bildungs- und Arbeitsmarktprogramme: Sprachkurse mit integrierter Kinderbetreuung, Qualifizierungen mit Perspektive, psychosoziale Begleitung mit Trauma-Expertise.
  3. Förderung von Migrantinnenorganisationen und diasporischen Netzwerken: Statt paternalistischer Projekte braucht es Ressourcen für jene, die aus der Community heraus wirken.
  4. Psychosoziale Versorgung gezielt ausbauen: Gerade für Frauen mit Gewalterfahrung, junge Mädchen in prekären Lebenslagen und alleinerziehende Mütter.
  5. Politische Teilhabe geflüchteter Frauen stärken: Beteiligung auf Augenhöhe in Gremien, Panels, Medienformaten. Betroffene müssen zu Gestalterinnen werden.

Empowerment ist kein Geschenk – es ist ein Recht

Afghanische Frauen brauchen keine Integrationskurse, die ihnen erklären, wie „man hier lebt“. Sie brauchen systematische Anerkennung, Teilhabe, Raum – und Respekt für das, was sie bereits tun. Sie bringen Widerstandskraft, Perspektivenvielfalt und gesellschaftliche Verantwortung mit. Es liegt an uns, dieses Potenzial nicht zu übersehen, sondern es politisch und institutionell zu stärken.

Denn: Wer das Schweigen über die Gender-Apartheid hinnimmt, macht sich mitschuldig. Wer afghanischen Frauen zuhört, wird erkennen: Es geht um mehr als Schutz. Es geht um Gerechtigkeit. Oder, wie es eine Rednerin der Konferenz formulierte: „Was man einer Frau nimmt, nimmt man einer Gesellschaft.“

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