Wie Bildungsungleichheiten wahrgenommen werden und den Trend zur Privatisierung des Schulerfolgs erhöhen

08. August 2023

Bildung gilt in Österreich häufig als für alle zugänglich. Durch die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte hat sich für viele junge Erwachsene der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen erhöht. Sie wird deshalb auch nicht selten politisch als Erfolg durchgesetzter Chancengleichheit beschrieben: „Wer nur will, kann es schaffen.“ Dennoch bleiben soziale Bildungsungleichheiten in Österreich – so zeigen vielfältige Untersuchungen – seit Jahrzehnten bestehen und haben sich im Zuge der COVID-bedingten Schulschließungen sogar weiter verstärkt. Ungleichheiten in der ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcenausstattung von Kindern sind in der Schule weiterhin bedeutsam. Dass der Bildungserfolg in Österreich stark von den finanziellen Mitteln und der familiären Unterstützungsleistung abhängt, spiegelt sich mittlerweile auch – wie wir in diesem Beitrag zeigen – in der Wahrnehmung von Bildungschancen wider. Das hilft zu verstehen, warum im letzten Jahrzehnt die Privatisierung von Bildung, vor allem in Form von privat organisierter bzw. finanzierter Nachhilfe, in Österreich stark zugenommen hat.

Wie werden Bildungschancen wahrgenommen?

Das Erreichen hoher Bildungsqualifikationen wird in Österreich als eine wichtige Grundlage für den sozialen Aufstieg angesehen. Rund 84 Prozent der 3.213 befragten Eltern im diesjährigen AK-Nachhilfe-Barometer stimmten eher (43 Prozent) oder völlig (41 Prozent) der Aussage zu, dass durch einen guten Schulabschluss jeder sozial aufsteigen kann. Diese hohen Zustimmungswerte belegen die in der Bildungsforschung gut dokumentierte Verschiebung des Bildungsbewusstseins: Bildung wird heute sehr eng mit Qualifikationen, Berufs- und Lebenserfolg und damit mit dem sozialen Status in Verbindung gesetzt, während Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung eher in den Hintergrund rücken.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse der Elternbefragung, dass die Bildungschancen in Österreich als nicht gleich verteilt angesehen werden. Rund sieben von zehn befragten Eltern stimmen (eher oder völlig) zu, dass in Österreich ein guter Schulabschluss nur dann erreicht werden kann, wenn die Eltern der Schulkinder über ausreichend finanzielle Mittel verfügen und/oder ihre Kinder ausreichend beim Lernen unterstützen. Dabei existieren kaum Unterschiede im Antwortverhalten nach sozialer Lage (Einkommen, Bildung) oder soziodemografischer Zusammensetzung der Eltern. Auch die besuchte Schulform der eigenen Kinder scheint dieses Bild nicht zu beeinflussen. Die hohen Zustimmungswerte zeigen, dass die realisierte Chancengleichheit im österreichischen Bildungswesen als gering angesehen wird und die subjektive Einschätzung damit auch wissenschaftlichen Befunden entspricht. Zugleich wird deutlich, dass Eltern die Ursachen für den Bildungserfolg jenseits der meritokratischen Ideologie einer Leistungsgesellschaft realistisch einschätzen. Das heißt, es besteht zumindest ein deutliches Bewusstsein dafür, dass der Bildungserfolg nicht (nur) eine Frage der eigenen Leistung ist.

Auf der einen Seite wird also der Stellenwert eines guten Schulabschlusses für den sozialen Aufstieg und die gesellschaftliche Positionierung der Kinder als hoch erachtet, auf der anderen Seite kann das Erreichen ebendieses Abschlusses in der Wahrnehmung der Eltern nur dann gelingen, wenn die eigene Unterstützungsleistung hoch ist. Vor allem dann, wenn die kompensatorische Leistung von Schulen mehrheitlich als nicht ausreichend eingestuft wird (vgl. Grafik 2). Und genau das machen Eltern in Österreich: Sie investieren viel Zeit und Geld in den Schulerfolg ihrer Kinder ­– zumindest, wenn ihnen diese Ressourcen ausreichend zur Verfügung stehen. Damit werden Lern- und Bildungsprozesse stark ins Private verlagert.

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Zunehmende Privatisierung von Bildung

Die zunehmende Privatisierung des Bildungserfolgs lässt sich im jährlich erhobenen Nachhilfe-Barometer der Arbeiterkammer dokumentieren. Seit dem Jahr 2010 ist die Nachhilfequote österreichweit um 10 Prozentpunkte auf 30 Prozent im Schuljahr 2022/23 angestiegen. Dabei sind die Ausgaben der Eltern beträchtlich. Im letzten Schuljahr sowie in den letzten Sommermonaten davor gaben Familien insgesamt 121,6 Millionen Euro für private Nachhilfe aus, womit die Gesamtausgaben um 18,9 Millionen Euro höher waren als noch im Jahr zuvor. Die Kosten für Nachhilfe beliefen sich im Schuljahr 2022/23 im Mittel auf rund 720 Euro pro Schulkind, was eine Zunahme im Vergleich zum Vorjahr darstellt (2022: im Schnitt 630 Euro). Während der Anteil der bezahlten Nachhilfe auf hohem Niveau stabil ist, sind die mittleren Kosten für jede betroffene Familie merklich angestiegen. Aber die teure, bezahlte Nachhilfe können sich viele Familien nicht leisten, weshalb im letzten Jahrzehnt auch die Gratisnachhilfe angestiegen ist. Und der Bedarf an Nachhilfe wäre sogar noch größer: In Summe hätten sich die Eltern von rund 200.000 Schüler:innen im letzten Jahr gerne (mehr) bezahlte Nachhilfe für ihr Kind gewünscht.

Neben den finanziellen Ressourcen sind Zeit- und Bildungsressourcen von Eltern ausschlaggebend. So zeigt das AK-Nachhilfe-Barometer auch, dass die Lernzeit ins Private verlagert wird. Fast vier von fünf Kindern (78 Prozent) werden zu Hause zumindest hin und wieder beim Lösen der Hausaufgaben, Lernen und Üben beaufsichtigt. Knapp einem Viertel der Kinder wird von ihren Eltern praktisch täglich geholfen; bei einem weiteren Drittel trifft dies zumindest einmal in der Woche zu. Rund sechs von zehn Kindern werden also zumindest einmal in der Woche bei den Aufgaben und beim Lernen beaufsichtigt. Gerade Ein-Eltern-Familien und Eltern, die selbst eine kurze Schulzeit hatten oder die Schule in einem anderen Land besucht haben, können diesen Ansprüchen in der Realität nicht gerecht werden. Ihre Kinder haben weniger Unterstützung beim Lernen.

Schlussfolgerungen für die Bildungspolitik

Wer den Blick in die Zukunft richtet, wird jedenfalls über drei große Herausforderungen nachdenken: Digitalisierung, Klimawandel und den demografischen Wandel. Ganz unabhängig von der Bewertung dieser Entwicklungen wird deutlich, dass diese großen Herausforderungen mit mehr Fachkräftebedarf und mehr Weiterbildungsbedarf einhergehen. Der Widerspruch zwischen dem hohen Stellenwert von Bildung, der realistischen Wahrnehmung von Bildungsungleichheiten und der parallel zunehmenden Privatisierung muss uns alarmieren. Dass durch die jüngsten bildungspolitischen Maßnahmen die Bildungsungleichheit zunimmt und die reduzierte Bildungsteilhabe für ressourcenschwache Gruppen verstärkt wird, ist sozial und ökonomisch nicht tragbar. Es braucht eine Bildungspolitik, die Privatisierungstendenzen eindämmt und die Aneignung der Grundkompetenzen sowie Förderung der individuellen Stärken sicherstellt. Dieses hohe Ausmaß an Bildungsungleichheit wird zum Bremsklotz bei der Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen.

Elementarbildung, Schule und Weiterbildung müssen so gestaltet werden, dass sie nicht auf private Ressourcen setzen, sondern jedem und jeder zugänglich sind. Schulen mit vielen Kindern mit großen Herausforderungen brauchen mehr und intensivere Lernsettings, um Kinder aus ressourcenschwachen Familien zu fördern. Bildungseinrichtungen müssen nach dem AK-Chancenindex finanziert werden. Schulen müssen so organisiert sein, dass neben der Vermittlung von Lerninhalten auch Zeit zum Üben, Fragenstellen und Wiederholen bleibt. Ganztagsschulen müssen ausgebaut und weiterentwickelt werden. Auch Lerninhalte sollten priorisiert werden. Hinzu kommt, dass es Zeit und Ressourcen in der Schule braucht, damit sich Stärken und Potenziale von Kindern (weiter-)entwickeln und sichergestellt werden kann, dass sich jeder und jede die Grundkompetenzen gut aneignet. Mit solchen bildungspolitischen Maßnahmen kann es auch gelingen, das Vertrauen der Eltern und Kinder ins öffentliche Bildungssystem wieder zu stärken und Privatisierungstendenzen zu mindern.

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