In Österreichs bildungspolitischer Debatte wird regelmäßig der Einfluss der elterlichen Herkunft sowohl aus sozioökonomischer wie auch migrationsbezogener Perspektive diskutiert. Der sogenannte „Migrationshintergrund“, der auf einen eigenen und/oder elterlichen Geburtsort außerhalb Österreichs verweist, wird dabei als Erklärungsfaktor für ungleiche Bildungsverläufe angeführt, zumeist aus einer benachteiligenden Perspektive. Außer Acht gelassen wird in dieser Betrachtung häufig, welche Rolle der institutionelle Schulstandortkontext für diese Ungleichheit spielt: Inwieweit beeinflusst die Zusammensetzung bzw. der Herausforderungsgrad eines Standorts auch die Wahrscheinlichkeiten für Schüler:innen unterschiedlicher familiärer Hintergründe, niedrige oder höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen? Dieser Frage geht der folgende Beitrag im Lichte des nunmehr von der Bundesregierung vorgestellten Chancenbonus für besonders herausgeforderte Schulstandorte nach.
Schulstandortkomposition und Bildungswege
Der Einfluss der Zusammensetzung (Komposition) von Schüler:innen in Lerngruppen (Klassen, Schulstandorten etc.) auf Aspekte wie Lernerfolg oder Bildungsabschlüsse des einzelnen Schülers bzw. der einzelnen Schülerin wird in der Bildungsforschung zu Kompositionseffekten untersucht: Während der sozioökonomische Hintergrund des Elternhauses als Einflussfaktor am meisten beforscht und in seiner Bedeutung abgesichert ist, ist die Befundlage zum Einfluss des Migrationshintergrundes etwas diffuser (sowohl aufgrund der grundsätzlichen Problematik dieser Kategorie, andererseits aufgrund sehr unterschiedlicher Migrationsmuster zwischen Staaten im internationalen Vergleich). Eine Registerdatenanalyse des IHS im Auftrag der Arbeiterkammer Wien (Reiter und Steiner 2024) lässt nun konkretere Aussagen über den Einfluss des Schulkontextes in Österreich zu: In der Studie wird die Schuleinstiegskohorte 2006/07 (die also bei normalem Verlauf im Jahr 2015 die Pflichtschule und 2018 bzw. 2019 die Sekundarstufe II abgeschlossen hat) in ihrem Schulverlauf analysiert und die Wahrscheinlichkeit für den Besuch von Schulen unterschiedlichen Herausforderungsgrades sowie das Erreichen niedriger oder hoher Bildungsabschlüsse errechnet.
Der U-förmige Effekt des „Migrationshintergrunds“
Die Befunde der Regressionsanalysen zeigen, dass – entgegen der landläufigen Annahme in der öffentlichen Debatte – ein Migrationshintergrund signifikant positive Effekte sowohl auf das Erreichen niedriger als auch hoher Schulbildungsabschlüsse (max. Pflichtschulabschluss einerseits, Maturaabschluss andererseits) hat. So erhöht sich die Chance auf einen Maturaabschluss bei Schüler:innen mit Migrationshintergrund der ersten Generation um rund 3%, der zweiten Generation um rund 7%. Gleichzeitig steigt am anderen Ende der Bildungsabschlüsse mit dem Migrationshintergrund der ersten Generation auch die Wahrscheinlichkeit, lediglich Pflichtschulabschluss zu erreichen, um rund 1%, bei der zweiten Generation nicht signifikant. Dieses für die Bildungsforschung durchaus nicht überraschende Ergebnis lässt sich über unterschiedliche Ansätze erklären, etwa dass bei zugewanderten Schüler:innen bei gleichen sozioökonomischen Hintergründen und schulischen Leistungen oftmals höhere Bildungsaspirationen und Bildungswegentscheidungen vorliegen, andererseits aber auch, dass die Vorteile mehrsprachiger Sozialisation hier zum Tragen kommen.
Zum Einfluss des Schulkontexts: 4 Prototypische Profile im Vergleich
Will man die Rolle der Schulkomposition für diese Erfolgswahrscheinlichkeiten untersuchen, lässt sich dies etwa entlang der Zuordnung von Schulstandorten auf Sozialindizes wie dem AK-Chancenindex berechnen. Dieser ordnet Schulstandorte nach ihrer Schüler:innenzusammensetzung bezüglich elterlicher Bildungsabschlüsse sowie familiärer Alltagssprache nach sieben Stufen (wobei 1 einem geringstmöglichen Herausforderungsgrad und 7 einem höchstmöglichen Herausforderungsgrad des Standorts entspricht). Auf dieser Basis lässt sich dann für unterschiedliche Schüler:innengruppen berechnen, wie hoch ihre Wahrscheinlichkeit zum Besuch von Standorten der jeweiligen Stufen ist bzw. anschließend, wie sehr die Abschlusswahrscheinlichkeiten sich zwischen diesen Stufen unterscheiden. Für eine plastische Veranschaulichung stellen die Autor:innen dafür vier prototypische Personenprofile entlang bestimmter sozioökonomischer Merkmale gegenüber – diese Profile sind freilich nur als methodische Konstruktionen zur Überprüfung des Einflusses unterschiedlicher Merkmalskombinationen zu verstehen:
Schulbesuch nach Indexstufen. Vergleicht man die Befunde der vier Profile entlang der sieben Indexstufen (vierfärbige Balken in der Grafik), so haben sowohl die Tochter der ländlichen Arbeiter:innenfamilie als auch der bildungsbürgerliche Sohn aus der Vorstand eine über 15-prozentige Wahrscheinlichkeit auf den Besuch einer kaum herausgeforderten Schule (Stufen 1 oder 2). Am wahrscheinlichsten ist für beide der Besuch einer Schule der mittleren Stufen 3 oder 4 (zusammen rund 71%), wogegen die Wahrscheinlichkeit eines Besuchs besonders herausgeforderter Standorte (6 und 7) unter 5% liegt.
Stellt man dem die beiden Profile mit Migrationsbezug gegenüber, wird die Rolle der sozioökonomischen Ressourcen besonders deutlich: Denn die Tochter kosmopolitischer Expats hat sogar eine fast 30-prozentige (also fast doppelt so hohe!) Chance, eine Schule mit geringem Herausforderungsgrad (1 und 2) zu besuchen, eine 64-prozentige Wahrscheinlichkeit für den Besuch der mittleren Stufen 3 und 4 und eine halb so niedrige Wahrscheinlichkeit für den Besuch einer stark herausgeforderten Schule der Stufen 6 und 7 (2,4%) – also insgesamt die deutlich geringste Standortherausforderung. Demgegenüber hat der Sohn zugewanderter Eltern mit niedrigem Bildungsstand und Arbeitslosigkeitserfahrung aus der Stadt (für Töchter würde Ähnliches gelten) de facto kaum eine Chance auf einen Besuch gering herausgeforderter Standorte (1 oder 2), eine gerade mal 16-prozentige Wahrscheinlichkeit auf den Besuch einer Schule der mittleren Stufen 3 oder 4, während sogar eine rund 65-prozentige Wahrscheinlichkeit des Besuchs einer besonders herausgeforderten Schule (6 oder 7) besteht – also deutlich niedrigere Chancen auf den Besuch gering bis mäßig herausgeforderter Standorte als die drei übrigen Typen; und das, obwohl in diesem Modell die schulische Leistung konstant gehalten wurde (siehe Profilbeschreibung).
Bildungsabschlüsse nach Indexstufen. Inwieweit nimmt nun aber der Besuch unterschiedlicher Schulkontexte Einfluss auf die erreichten Bildungsabschlüsse? Für alle vier prototypischen Profile zeigen die Berechnungen (blaue Markierungspunkte in Grafik 1), dass ihre Wahrscheinlichkeit auf eine Matura von über 60% beim Besuch von Standorten der Stufe 1 und 2 bereits ab der Stufe 3 deutlich abnimmt. Doch während der bildungsbürgerliche Sohn aus der Vorstadt und die kosmopolitische Expat-Tochter selbst auf Stufe 7 noch eine über 50-prozentige Wahrscheinlichkeit auf eine Matura haben, liegt die Matura-Wahrscheinlichkeit für die beiden ressourcenschwächeren Profile (ländliche Arbeiter:innentochter und großstädtischer Arbeiter:innensohn mit Migrationshintergrund) bei unter 10% (ähnliche Muster finden sich auch für Stufe 6).
Am anderen Ende des Spektrums sind hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, maximal die Pflichtschule abzuschließen, die Standorteffekte weniger ausgeprägt: Für die ersten drei Profile liegt die Wahrscheinlichkeit auf Stufe 1 bis 3 unter 10% (was dem EU-Ziel der Reduktion von Early School Leavers auf unter 10% der 18- bis 24-Jährigen in der Europe 2020 Strategie entspricht), nur das Profil 4 (großstädtischer Arbeiter:innensohn mit Migrationshintergrund) hat schon ab Stufe 1 eine über 10-prozentige Wahrscheinlichkeit, maximal Pflichtschulabschluss zu erreichen. Für alle vier Profile steigt die Wahrscheinlichkeit jedoch ab Stufe 3 kontinuierlich an, sodass ab Stufe 4 alle Gruppen eine über 10-prozentige Wahrscheinlichkeit aufweisen, wobei vor allem Profil 4 den ausgeprägtesten Anstieg aufweist (für den großstädtischen Arbeiter:innensohn zugewanderter Eltern verdreifacht sich in etwa die Wahrscheinlichkeit von 12,5% auf Stufe 1 auf 35,7% auf Stufe 7). Ab Stufe 5 übersteigt für ihn die Wahrscheinlichkeit auf maximal Pflichtschulabschluss sogar signifikant jene auf das Erreichen einer Matura, für die Arbeiter:innen-Tochter vom Land gilt dies ab Stufe 6. Jedoch erreicht er im Vergleich zu ihr über alle 7 Stufen hinweg mit höherer Wahrscheinlichkeit sowohl Matura wie auch max. Pflichtschulabschluss – was das oben angesprochene U-förmige Effektmuster des Migrationshintergrundes am oberen und unteren Ende des Abschlussspektrums widerspiegelt.
Die Daten verdeutlichen somit den starken Einflussfaktor des schulischen Kontexts vor allem für Schüler:innen aus sozioökonomisch schwächeren Elternhäusern, während für Kinder aus ressourcenstärkeren Hintergründen der Effekt weniger stark ausgeprägt ist, da sie von Grund auf günstigere Voraussetzungen für ihren Bildungsweg zu Hause vorfinden.
Fazit: Ungleiche Ausgangslagen von Schulstandorten ausgleichen
Die ungleichen sozioökonomischen Ausgangslagen der Bevölkerung spiegeln sich auch in der ungleichen Zusammensetzung zwischen Schulstandorten wider. Zwar lag 2022/23 der Großteil (knapp drei Viertel) der österreichischen Schulen beim AK-Chancenindex-Vergleich im mittleren Bereich der Stufen 3 und 4, allerdings standen immer noch über 500 Schulen (etwa 9%) vor besonders großen Herausforderungen aufgrund ihrer Komposition. Um die ungleichen Ausgangslagen dieser Schulstandorte etwas auszugleichen, hat die Bundesregierung im November 2025 die Ausrollung eines sogenannten „Chancenbonus“ angekündigt, der auf internationalen Erfahrungen und Überlegungen ähnlicher Sozialindizes, wie etwa dem AK-Chancenindex, beruht. Mit ihm werden ab dem Schuljahr 2026/27 gezielt 400 besonders herausgeforderte Schulen in ganz Österreich mit zusätzlichen Ressourcen unterstützt – ein wichtiger Schritt zur Stärkung jener Standorte, die schon jetzt Enormes beim Aufholen der Ausgangsnachteile ihrer Schüler:innen leisten. Perspektivisch wird es aber ebenso wichtig bleiben, über den Ausbau der frühen Förderung im Elementarbereich sowie von ganztägigen Schulangeboten, aber auch über die stärkere Begegnung schulischer Segregation für eine ausgewogenere Komposition an Schulstandorten zu sorgen. Denn wie dieser Beitrag gezeigt hat: Vom Einfluss herausfordernder Schulzusammensetzung sind sozioökonomisch schwächere Schüler:innen ungleich stärker betroffen als jene, die beim Beschreiten ihres Bildungsweges auf familiäre Unterstützungsressourcen ausweichen können.