Das Startchancen-Programm: Was Österreich vom deutschen Chancen-Index lernen kann

09. April 2024

Um Schulen mit großen Herausforderungen besser zu unterstützen, wird in Deutschland nun das sogenannte Startchancen-Programm ins Leben gerufen: Über 10 Jahre sollen 20 Milliarden Euro für Schulen in schwieriger Lage bereitgestellt werden. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über dieses Programm und diskutiert, warum auch in Österreich eine bedarfsorientierte Finanzierung des Schulsystems dringend notwendig ist.

Ungleiche Startchancen

Österreichs Schulsystem weist schon lange starke Muster der Bildungsbenachteiligung nach sozialer Herkunft auf. Aktuelle Untersuchungen zeigen zudem: Die ungünstigeren Voraussetzungen für Schüler:innen aus ressourcenschwächeren Haushalten haben sich in den Krisen der vergangenen Jahre (COVID-19-Pandemie, Teuerung) zusätzlich verstärkt und damit Bildungsbenachteiligungen weiter anwachsen lassen. Dabei variieren Bildungschancen stark nach Schulstandorten. Schulen mit einer hohen Zahl an Kindern aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten stehen vor großen Herausforderungen, ihren Schüler:innen ein förderndes Lernumfeld zu bieten und sie erfolgreich zum Bildungsziel zu begleiten. In Österreich besuchen rund 346.000 Kinder und Jugendliche Schulen, die vor großen bis sehr großen Herausforderungen stehen. Allein 14 Prozent aller Volksschulen befinden sich in „schwieriger Lage“ (Stand: 2018). Sie sind häufiger in großen Städten zu finden – unabhängig vom Bundesland. Dabei zeigt sich, dass Schüler:innen an diesen Standorten durchschnittlich deutlich niedrigere schulische Leistungen erzielen können (siehe Grafik).

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Um Startnachteile an Schulen mit vielen benachteiligten Schüler:innen über Schulentwicklungs- und Unterstützungsangebote auszugleichen, brauchen diese Schulstandorte höhere Zusatzmittel. Die Arbeiterkammer hat deshalb die Einführung einer bedarfsorientierten Schulfinanzierung vorgeschlagen: den AK-Chancen-Index. Er zeigt, unter welchen Bedingungen jede einzelne Schule arbeitet – und welche zusätzlichen Mittel sie braucht, um allen Schüler:innen ihre Chancen zu geben. Sein Grundprinzip ist eine solide Basisfinanzierung für alle Standorte, für Schulen mit größeren Herausforderungen gibt es zusätzliche Mittel, entsprechend dem jeweiligen Indexwert der Schule.

Eine flächendeckende Umsetzung dieses Modells blieb allerdings bislang aus. Gegenwärtig werden lediglich in einem Pilot- bzw. Forschungsprojekt des Bildungsministeriums 100 Schulen mit besonderen Herausforderungen über drei Jahre mit zusätzlichen Mitteln für Schulentwicklungsprozesse unterstützt (Gesamtvolumen: 15 Mio. Euro). Hinzu kommen einzelne kleinere Schulentwicklungsprojekte, wie das Wiener Bildungsversprechen oder die Favoriten Challenge auf Bezirksebene. Anders sieht die Situation in Deutschland aus, wo mit dem Startchancen-Programm nun ein Paradigmenwechsel hin zu einer langfristigen, flächendeckenden und bedarfsorientierten Schulfinanzierung vollzogen wurde.

Das deutsche Startchancen-Programm

Deutschland investiert ab Sommer 2024 über zehn Jahre hinweg rund 20 Milliarden Euro in das sogenannte Startchancen-Programm. Mit diesem Programm hat sich die deutsche Bundesregierung zum Ziel gesetzt, Chancengerechtigkeit im Bildungssystem voranzutreiben. Insbesondere soll der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Herkunft und Bildungserfolg, der ähnlich stark ausgeprägt ist wie in Österreich, aufgebrochen werden. Konkret beinhaltet das Programm drei Säulen, in denen Verbesserungen erzielt werden sollen:

  • Investitionsprogramm für eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung
  • Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung
  • Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams

Über einen Zeitraum von zehn Jahren sollen 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil „sozial benachteiligter Schüler:innen“ finanziell gestärkt werden. Ein starker Fokus – rund 60 Prozent des Budgets – soll auf den Grundschulen (Volksschulen) liegen. Die Finanzierung erfolgt je zur Hälfte über den Bund und die Länder.

In einem ersten Schritt ermittelt der Bund anhand eines „Sozial-Index“, in welcher Höhe welches Bundesland gefördert wird. Die Berechnungen berücksichtigen den Anteil an armutsgefährdeten Schüler:innen sowie die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit Migrationsbiografie. Zusätzlich wird der Umfang des Bruttoinlandsprodukts der Bundesländer zur Förderberechnung herangezogen. In einem zweiten Schritt teilen die Bundesländer die ihnen zugewiesenen Mittel anhand transparenter Kriterien auf die einzelnen Schulen auf. Standorte, die Fördergelder erhalten, sind an die folgenden Vorgaben zur Verwendung gebunden: 40 Prozent der Fördermittel sind für Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung und damit für Infrastruktur und Ausstattung vorgesehen. Rund 30 Prozent der Zusatzmittel sollen als „Chancenbudgets“ für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung verwendet werden; weitere 30 Prozent dienen der Stärkung multiprofessioneller Teams an Schulstandorten und damit dem langfristigen Aufbau von Schulsozialarbeit.

Zehnmal mehr Budget

Die 4.000 anvisierten Schulstandorte sind die Speerspitze der Schulen in schwieriger Lage – also Schulen mit wirklich sehr großen Herausforderungen. Sie entsprechen insgesamt rund 12 Prozent der deutschen Schullandschaft. Allerdings ist die Langfristigkeit des Programms sowie das Investitionsvolumen beeindruckend: 20 Milliarden Euro, aufgeteilt auf 10 Jahre, entspricht 2 Milliarden Euro pro Jahr. Auch wenn das Budget durch die Bundesländer am Ende bedarfsorientiert verteilt wird, stehen damit umgerechnet jedem Standort grundsätzlich durchschnittlich 500.000 Euro pro Jahr zur Verfügung. Zum Vergleich: Um aus dem gegenwärtig laufenden „100 Schulen – 1.000 Chancen“-Pilotprojekt ein österreichweites „Startchancen-Programm“ nach deutschem Vorbild zu machen, müsste die Zahl der teilnehmenden Schulen verfünffacht, das Investitionsvolumen verzehnfacht und die Förderlänge um sechs Jahre verlängert werden.

Paradigmenwechsel dringend notwendig

Der Blick auf die Entwicklungen des deutschen Startchancen-Programms verdeutlicht: Um Bildungsbenachteiligungen abzubauen, die Zahl der Risikoschüler:innen zu reduzieren und die Kompetenzentwicklungen zukünftiger Fachkräfte zu stärken, muss die Schulfinanzierung an die Standortherausforderungen angepasst und erhöht werden, statt alle Schulen mit demselben Ausstattungsschlüssel zu versehen. Damit werden Schulentwicklungs- und Unterstützungsangebote möglich, die Ausgangsnachteile besser zu kompensieren vermögen. Außerdem braucht Schulentwicklung Zeit und sollte deshalb als langfristiger Prozess angelegt werden. In Deutschland wurde das Startchancen-Programm gerade deshalb als „größtes Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ betitelt.

Obwohl mit dem AK-Chancen-Index für Österreich seit einigen Jahren ein vergleichbares, konkretes Modell für eine neue flächendeckende Schulfinanzierung vorliegt, gehen aktuelle bildungspolitische Bestrebungen nicht über Pilotprojekte hinaus. Ob beispielsweise aus dem „100 Schulen“-Pilotprojekt ein „Startchancen-Programm“ für Österreich werden kann, hängt auch von den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Evaluierung ab. Leider werden diese wichtigen Forschungsergebnisse erst mit Ende des Projekts im Frühjahr/Sommer 2025 vorliegen. Zu einem Zeitpunkt, wo bildungspolitische Schwerpunktsetzungen und budgetäre Spielräume für die neue Legislaturperiode weitestgehend feststehen. In Anbetracht des Ausmaßes an ungleichen Startchancen in Österreich braucht es allerdings dringend einen Paradigmenwechsel hin zu einer bedarfsorientierten Schulfinanzierung. Mit dem AK-Chancen-Index-Modell könnte bereits heute damit begonnen werden.

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