Das Retro-Menschenbild in der Arbeitslosenversicherung

30. Juni 2023

Mit welchem Menschenbild politisch regiert wird, drückt sich vor allem auch beim Umgang mit jenen aus, die sich in einer Notlage auf den Sozialstaat verlassen müssen können. Dies zeigt sich auch am Beispiel Arbeitslosenversicherung. Allen voran Wirtschafts- und Arbeitsminister Kocher forderte in der Arbeitslosenversicherung – unter dem trügerischen Begriff „Anreize“ – Kürzungen zu Lasten der Arbeitnehmer:innen.  Hinter der Debatte um Anreize steckt ein längst überholtes Menschenbild. Mit der scheinbaren Wissenschaftlichkeit des Begriffes werden radikale Politikmaßnahmen und ein Klassenkampf von oben verschleiert. Eine zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik braucht ein realistisches, modernes Menschenbild.

Viel Geld wird in Unternehmen für Führungskräfteausbildungen ausgegeben. Beinahe überall hat man sich von Drohungen und Angstmethoden verabschiedet – in dem Wissen, dass sich diese negativ auf Motivation und Engagement bei den Beschäftigten auswirken. Stattdessen treten Themen wie Vorbildwirkung, Sinnstiftung, Selbstwirksamkeit und Stärken erkennen in den Vordergrund. „Intrinsische Motivation“ ist fast zum Zauberwort geworden, nicht zu Unrecht. Klar ist – das zeigen viele Erhebungen – gute Bezahlung ist wichtig, reicht aber alleine nicht. Die Realität in vielen Firmen wird dem zwar nicht oder nur teilweise gerecht, aber wer heute für Methoden der Drohung und Angstmache wirbt, gilt als out und retro, findet keine Arbeitskräfte, verliert erfahrene Kolleg:innen. Gerade in Zeiten knapperer Arbeitskräfte wird es umso wichtiger, sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren.

Aber sobald du arbeitslos bist, gilt das nicht mehr?

Arbeitslosigkeit bedeutet für viele Betroffene eine hohe Belastung. Wurde mit der Kündigung und der folgenden Notwendigkeit der Arbeitssuche nicht gerechnet, konnte die vorherige Arbeit wegen Krankheit oder unzumutbarer Arbeitsbedingungen nicht mehr geschafft werden, sperrte die Firma zu oder ging in Konkurs – auf einmal steht man vor der Herausforderung, sich neu orientieren zu müssen. Massiver, abrupter Einkommensverlust aufgrund viel zu niedriger Nettoersatzrate machen das Verdauen auch nicht leichter. Was wäre die sinnvollste Reaktion? Angst nehmen, Chancen und Perspektiven zeigen, Möglichkeiten eröffnen und Mut machen, Neues auszuprobieren. Die Stärken sichtbar machen, Entwicklungsperspektiven bearbeiten. Doch das Arbeitslosenversicherungsgesetz und die Vorgaben ans Arbeitsmarktservice (AMS) hinken diesen Ansprüchen völlig nach. Viel drastischer umschreibt es Natascha Strobl in „Klassenkampf von Oben“ (S. 63), „…sondern es geht auch darum, auf der Ebene des Kulturkampfs Arbeitslose gesellschaftlich als Nichtsnutze, Leistungsverweiger:innen und in der „sozialen Hängematte“ liegend abzuwerten.“

Der Anreiz-Fetisch in der Arbeitslosenversicherung

Sowohl in der türkis-blauen als auch in der türkis-grünen Regierung war die Erhöhung des Drucks durch Schaffung von sogenannten Arbeitsanreizen in der Arbeitslosenversicherung ein zentrales Politikvorhaben. Während erstere sogar die Notstandshilfe abschaffen wollte, hat Wirtschafts- und Arbeitsminister Kocher eine noch degressivere Gestaltung des Arbeitslosengeldes vor Augen, „damit arbeitslose Menschen wieder schneller ins Erwerbsleben zurückkehren können“. Es steht also das Bild im Raum, dass Arbeitssuchende nur unter Druck und strenger Beobachtung wieder zu arbeiten beginnen. Genau an diesem Punkt manifestiert sich das Retro-Menschenbild, das Arbeitslosen selbst die Schuld an ihrer misslichen Lagen gibt und die Arbeitslosenversicherung zum Druck- und Angst-Instrument degradiert, damit Arbeitslose ihr Problem individuell lösen. Die Existenzängste sollen dazu zwingen, jeden Job um jeden Preis anzunehmen. Die Schwächung der Verhandlungsmacht der Arbeitssuchenden und der Arbeitnehmer:innen in Summe ist das wahre Ziel in der Anreizdebatte.  Dabei wird verschleiert, dass für die Arbeitslosigkeit die Nachfrage des Staates, der Unternehmen und der Arbeitnehmer:innen entscheidender sind als das Arbeitslosengeld an sich. Gerade die aktuellen Forschungen rund um eine degressive Ausgestaltungen des Arbeitslosengeldes verdeutlichen, dass eine Abkehr von diesem Anreiz-Fetisch und von diesem veraltenden Menschenbild dringend notwendig ist.

Ein Arbeitsrecht für Arbeitslose?

Im Arbeitsrecht wurden viele Rechte erkämpft. Angeführt seien beispielsweise die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, Arbeitnehmerschutz und Arbeitszeitgesetz, Recht auf Urlaub und vieles mehr. Es bleibt der Arbeitgeber in einer deutlich mächtigeren Position, umso wichtiger sind Schutzbestimmungen neben starken Betriebsrät:innen und gewerkschaftlicher Organisation. Arbeitnehmer:innen haben zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts nur die eigene Arbeitskraft als Einnahmequelle – die Allerwenigsten könnten auf Erbschaften oder Kapitaleinnahmen ausweichen. Gerade deswegen wurden diese Arbeitsrechte erkämpft, um sie der Willkür der Unternehmer nicht völlig auszuliefern. Diese Notwendigkeit findet aber kein Abbild in den Arbeitslosenrechten. Im Fokus steht hier die eigene, umso länger die Arbeitslosigkeit dauert, beinahe bedingungslose Verpflichtung zur Selbstvermarktung. Es gibt nur ganz wenige Möglichkeiten, über die Bedingungen zu verhandeln. Dies führt dazu, dass man z. B. betonen muss, dass der Lohn laut Kollektivvertrag natürlich ausreicht, auch wenn man gerne mehr verdienen würde, weil man es ganz einfach verdient hat. Hält man sich nicht daran, folgt die Sanktion – diese bedeutet 6 Wochen keinerlei Leistung aus der Arbeitslosenversicherung, ein dramatischer Eingriff in die Existenzsicherung. Was dies alles mit sich bringt, hat Thomas Pilgerstorfer hier gut dargestellt.

Ein modernes, respektvolles Menschenbild muss überall gelten: in der Arbeit und in der Arbeitslosigkeit

Ein modernes Arbeitslosenversicherungsrecht darf sich nicht auf „Arbeitsfähigkeit, Arbeitswilligkeit und Verfügbarkeit“ (§§ 7, 8, 9 AlVG) reduzieren. Selbstwirksamkeit stärken, Perspektiven aufzeigen und Mut machen – und das auf Augenhöhe – müssen hier abgebildet werden. Im Fokus müssen die Rechte stehen, immerhin wird hier in ein Versicherungssystem eingezahlt. Menschen muss Sicherheit in dieser Situation vermittelt werden. Und volle Verhandlungsmacht über die eigene Situation. Die Arbeitslosenversicherung soll den Warencharakter der Arbeit mindern, indem sie die Menschen davor bewahrt, zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes unfaire Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren zu müssen. Der Schutz guter Standards zeichnet den emanzipatorischen Charakter der Arbeitslosenversicherung aus.

Die Übermacht der Unternehmen darf nicht noch verschärft werden durch ein ridgides Arbeitslosenrecht, das Menschen dazu zwingt, Mindeststandards zu akzeptieren. Gerade für ältere, erfahrende Betroffene ist dies abwertend und demotivierend. Menschen müssen stolz auf ihre Fähigkeiten und Erfahrungen sein dürfen und dafür auch den entsprechenden Preis verlangen können.

Simple Vorgaben, wieviel Bewerbungen man schreiben muss und Jobbörsen, die Menschen zu Marktständen machen, sind alles andere als moderne, zukunftsweisende Modelle. Sanktionsdrohungen und viele verbindliche Vorsprachetermine bringen Menschen dazu, sich in dieses System einzufügen, brav zu sein mit dem Fokus darauf, keine Fehler zu machen. Gleichzeitig wissen wir aber auch aus der Arbeitswelt, dass jene Menschen besonders produktiv und kreativ sind, die sich einbringen können, die eigene Ideen verwirklichen wollen, die über den eigenen Tellerrand schauen und sich aktiv einbringen. Das ist ein modernes Menschenbild, Sanktionsdrohungen und braves Funktionieren ist retro.

Eine zukunftsorientierte Arbeitslosenversicherung

Eine zukunftsorientierte Arbeitslosensicherung unterstützt Transformationsprozesse: Voranschreitende Digitalisierung, Bemühungen, die Klimaziele zu erreichen, sowie der demografische Wandel, um nur einige zu nennen. Der Anreiz-Fetisch und das Retro-Menschenbild haben in der Vergangenheit nur darauf abgezielt, möglichst schnell zu vermitteln, unabhängig von der Qualität der Arbeit. Negative Arbeitsbedingen wurden nicht adressiert. Eine zukunftsorientierte Arbeitslosenversicherung mit emanzipatorischen Zielsetzungen fokussiert stärker auf die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Wünsche der Arbeitsuchenden.

Seien wir mutig, trauen wir den Menschen mehr zu und stärken wir sie in ihren Fähigkeiten und Qualifikationen. Geben wir ihnen Verhandlungsmacht über ihre Zukunft und sorgen wir für ein Stück mehr Machtausgleich im sogenannten Arbeitsmarkt. Weil es unsere Arbeitslosenversicherung für unsere Zukunft ist.