Verschärfte Armut wird bewusst in Kauf genommen – die Situation arbeitsloser Personen verschlimmert sich

23. Juni 2023

Auch wenn vom Arbeitskräftemangel die Rede ist, die Zahl der Arbeitslosen ist nach wie vor sehr hoch und beginnt wieder zu steigen. Trotz des starken Arbeitskräftebedarfs suchen vor allem ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen sehr lange nach einem Job. Erwerbslose Personen bekommen die Teuerung besonders zu spüren: Ihr Einkommen ist niedrig und die Preise sind hoch. Aktuelle Zahlen belegen: Vor allem arbeitslose Menschen können sich viele notwendige Ausgaben nicht mehr leisten. Das hätte durch eine dauerhafte Erhöhung der Arbeitslosenleistungen abgemildert werden können. Weil dies nicht geschehen ist, wird Armut von Arbeitslosen offensichtlich bewusst in Kauf genommen.

Arbeitslosigkeit ist nach wie vor ein gravierendes gesellschaftliches Problem. Im April 2023 waren über 330.000 Personen beim AMS als arbeitsuchend gemeldet. Und trotz der hohen Nachfrage nach Arbeitskräften waren etwa 30 Prozent davon – rund 110.000 Personen – langzeitbeschäftigungslos, suchten also schon seit über einem Jahr nach einem Job.

Besonders bei Personen über 45 Jahren und bei gesundheitlich beeinträchtigten Menschen ist die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit lang. Unter den Arbeitsuchenden mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen waren im Februar 2023 nicht weniger als 46 Prozent, also fast die Hälfte, langzeitbeschäftigungslos. Zugleich sind Arbeitslose umso häufiger und umso stärker von Armut betroffen, je länger sie nach einer Erwerbsarbeit suchen.

Wenn die Preise sehr stark steigen, wie es seit mittlerweile über einem Jahr der Fall ist, dann verschärft sich die Lage der arbeitsuchenden Personen und insbesondere der Langzeitarbeitslosen. Zum einen wird der Grundbetrag des Arbeitslosengeldes nicht nach dem Einkommen der letzten zwölf Monate, sondern auf Basis der Zeit davor berechnet. Das bedeutet derzeit eine deutliche Kürzung der Berechnungsgrundlage allein durch die Inflation in Höhe von etwa 10 Prozent. Dazu kommt die fehlende Anpassung des laufenden Bezugs von Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe an die Inflation. Dies trifft vor allem diejenigen, die länger nach Arbeit suchen, wie insbesondere Ältere und gesundheitlich Beeinträchtigte.

Mit Blick auf die Bedarfsgerechtigkeit ist das desaströs, wie wir unten zeigen werden. Aber auch unter dem Gesichtspunkt der Leistungsgerechtigkeit ist eine solche Entwicklung inakzeptabel, weil es viele betrifft, die lange erwerbstätig waren, und auch diejenigen, die Arbeitsunfälle erlitten haben oder durch belastende Erwerbsarbeit krank geworden sind.

Armut heute: Es wird zunehmend schwieriger, mit dem Einkommen auszukommen

Gerade sind neue Ergebnisse der jährlichen EU-SILC-Befragung zu Einkommen, Armut und Lebensbedingungen der Bevölkerung in Österreich veröffentlicht worden (Statistik Austria 2023). Aufgrund der gegenwärtig hohen Inflation sind vor allem jene Ergebnisse interessant, die Auskunft darüber geben, wie Menschen in Österreich mit ihrem Einkommen auskommen. Dafür wird anhand von 13 Indikatoren erfasst, was aktuell für Haushalte noch finanzierbar ist – und was nicht mehr.

Die entsprechenden Indikatoren reichen von der Möglichkeit, unerwartete höhere Ausgaben oder die Miete bezahlen zu können, bis hin zur Finanzierung von kostenpflichtigen Freizeitaktivitäten (siehe Tabelle unten). Im Fachjargon liegt eine „materielle und soziale Deprivation“ dann vor, wenn von den insgesamt 13 Merkmalen zumindest fünf zutreffen. Treffen mindestens sieben Merkmale gleichzeitig zu, dann gilt man als erheblich sozial und materiell depriviert.

Die Zahl derjenigen, die im Jahr 2022 von Deprivation betroffen waren, ist gegenüber 2021 stark gestiegen. Im Jahr 2021 waren etwa 386.000 Personen in der Gesamtbevölkerung sozial und materiell depriviert, 160.000 davon waren erheblich sozial und materiell depriviert. Im Jahr 2022 hat sich ihre Anzahl um 20 Prozent bzw. 25 Prozent erhöht. 2022 werden bereits 460.000 Personen als sozial und materiell depriviert und 201.000 Personen als erheblich depriviert ausgewiesen. Das ist ein mehr als deutlicher Hinweis darauf, dass das Einkommen im Hinblick auf die steigenden Ausgaben bei immer mehr Menschen zunehmend knapp – und für viele zu knapp – wird.

Materielle und soziale Deprivationsquoten (in %) von Personen im Erwerbsalter (18–64 Jahre), Österreich 2022

 Personen im Erwerbsalter (18–64 Jahre)
Es ist finanziell nicht leistbar …insgesamtArbeitslos im Jahr 2021
Haushaltsebene1–5 Monate6–11 Monateganzjährig
unerwartete Ausgaben in
Höhe von € 1.300 zu tätigen
20354558
einmal pro Jahr Urlaub zu machen13233346
Miete, Betriebskosten oder Kredite pünktlich zu bezahlen5101515
jeden 2. Tag Fisch, Fleisch oder vegetarische Speisen zu essen59(6)21
die Wohnung angemessen warm zu halten3(6)(6)(11)
abgenützte Möbel zu ersetzen8151229
ein Auto zu besitzen5111828
Personenebene    
eine zufriedenstellende Internetverbindung zu haben1(2)(2)(9)
abgetragene Kleidung durch neue zu ersetzen411(9)20
mindestens 2 Paar Schuhe zu besitzen1(2)(2)(5)
Geld für eigenen Bedarf auszugeben610(11)29
regelmäßig kostenpflichtige Freizeitaktivitäten auszuüben9172644
mind. einmal im Monat Freund:innen oder Familie zum Essen/Trinken zu treffen48(5)21
Materielle und soziale Deprivation (mind. 5 von 13)5121732
Erhebliche materielle und soziale Deprivation (mind. 7 von 13)3(7)(6)16
Quelle: Statistik Austria (2023, 43, 45, 47, 75); Zahlen in Klammern beruhen auf geringen Fallzahlen

Arbeitsuchende besonders von materieller und sozialer Deprivation betroffen

Arbeitslose Menschen sind im Hinblick auf ihre finanziellen Ressourcen besonders eingeschränkt. Das zeigt sich an ihrem deutlich höheren Armutsrisiko. Während die Armutsgefährdungsquote in der gesamten Bevölkerung im Erwerbsalter 13 Prozent beträgt, liegt sie bei arbeitsuchenden Personen je nach Dauer ihrer Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent (bei einer Arbeitslosigkeitsdauer von maximal fünf Monaten), 36 Prozent (bei einer Arbeitslosigkeitsdauer von sechs bis elf Monaten) bzw. 42 Prozent (bei ganzjähriger Arbeitslosigkeit). Damit ist ein sehr hoher Anteil unter den erwerbsarbeitslosen Personen von Einkommensarmut betroffen: Für Langzeitarbeitslose ist das Armutsgefährdungsrisiko mehr als dreimal höher als im Bevölkerungsschnitt.

Angesichts der extremen Teuerung stellt sich die Frage, wie erwerbsarbeitslose Personen mit dem niedrigen Einkommen auskommen sollen. Eine Analyse der aktuellen Daten legt nahe, dass Arbeitslose im Hinblick auf alle (!) 13 Deprivationsindikatoren schlechter abschneiden als der Durchschnitt der Bevölkerung im Erwerbsalter – und zwar unabhängig von der Länge ihrer Arbeitslosigkeit. Allerdings nimmt die finanzielle Prekarität mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zu. Das zeigt sich vor allem bei der Gruppe der Langzeitarbeitslosen, deren Risiko, sozial oder materiell depriviert zu sein, sechsmal höher ist als im Durchschnitt aller Erwerbspersonen. Bei Vorliegen von erheblicher sozialer oder materieller Deprivation ist das Risiko immerhin noch fünfmal höher (vgl. Tabelle). Wegen der zu niedrigen Einkommen und wegen der Teuerung können sich erwerbsarbeitslose Personen also notwendige Ausgaben sehr viel häufiger nicht leisten als andere Personen.

Unzureichende materielle Absicherung in der Arbeitslosigkeit

Die Daten zeigen eindrücklich, dass in Österreich die Absicherung bei Vorliegen von Arbeitslosigkeit schlicht nicht ausreicht. Dieses Problem hat sich durch die sehr hohe Inflation erheblich verschärft.

Arbeitsuchende Personen und unter ihnen insbesondere die Langzeitarbeitslosen sind nicht nur von Einkommensarmut betroffen, haben also viel weniger Geld zur Verfügung als andere. Ein Drittel von ihnen kann daher notwendige Ausgaben nicht mehr decken. Unter den Langzeitarbeitslosen könnte mehr als die Hälfte beispielsweise unerwartete höhere Ausgaben nicht decken, muss also ständig in der Angst leben, dass Haushaltsgeräte, wie die Waschmaschine, kaputt werden könnten. Und wenn 44 Prozent der langzeitarbeitslosen Personen (siehe Tabelle) nicht regelmäßig kostenpflichtigen Freizeitaktivitäten nachgehen können, deutet dies auf gravierende Einschränkungen bei ihren sozialen Teilhabemöglichkeiten hin.

Dass die sozioökonomische Lage von Erwerbsarbeitslosen immer prekärer wird, ist kein Naturgesetz. Vielmehr wurde dies bewusst in Kauf genommen. Das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe wurden nicht – wie viele andere Sozialleistungen – an die Inflation angepasst. Auch an den Ersatzraten hat sich nichts geändert. Einmalzahlungen konnten dieses Manko nicht wettmachen, wie die aktuellen Zahlen der Statistik Austria zeigen.

Warum werden Arbeitslosenleistungen nicht erhöht? Dahinter steht wohl die Annahme, dass es finanziellen Druck auf die Betroffenen braucht, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Abgesehen davon, dass dies selten der Fall ist: Wie lässt sich dieses zynische Argument auf ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitslose anwenden, die offensichtlich von den Unternehmen ausgegrenzt werden?

Daher: Es braucht erstens dringend eine Erhöhung und regelmäßige Valorisierung der Arbeitslosenleistungen, da diese der wesentlichste Beitrag zur Existenzsicherung der Arbeitslosen sind. Auch bei der Bemessungsgrundlage des Arbeitslosengeldes sollte die Teuerung einberechnet werden. Und es braucht zweitens deutlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem sozialen Arbeitsmarkt mit längerer Beschäftigung von Transitarbeitskräften sowie mehr Projekte, wie etwa MAGMA in Gramatneusiedl, die es ermöglichen, dass Erwerbsarbeit für alle nicht nur ein leeres politisches Versprechen ist, sondern tatsächlich für alle, die Arbeit suchen, ermöglicht wird.

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