Ist eine Reform der österreichischen Krankenversicherung notwendig? Unser Gesundheitssystem im internationalen Vergleich.

08. Januar 2018

Das österreichische Gesundheitssystem wird in der Studie der London School of Economics (LSE) überwiegend positiv beurteilt. Es gehört zu jenen mit den niedrigsten ungedeckten Bedarfen und den höchsten Zufriedenheitswerten. Die Gesundheitsausgaben liegen mit 10,4 % des BIP nur unwesentlich über dem EU-Durchschnitt (9,9 %).

Im Dezember 2016 wurde die LSE vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz mit der Durchführung einer Effizienzanalyse des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems beauftragt. Die Studie wurde im Juli 2017 veröffentlicht. Die Untersuchung enthält einen internationalen Vergleich wichtiger Versorgungsindikatoren, Stellungnahmen von rund 30 österreichischen Stakeholdern – darunter auch der Arbeiterkammer –, eine „Situationsanalyse“ durch die Contrast Ernst & Young Management Consulting GmbH (Wien), eine Liste von politischen Handlungsoptionen und eine rechtliche Beurteilung dieser Vorschläge.

Organisationseffizienz in der Sozialversicherung

Zur Verbesserung der Organisationseffizienz der Sozialversicherung (SV) werden von der LSE vier Varianten präsentiert, wovon sich drei auf die bundesweite Zusammenlegung von Krankenkassen beziehen (teils gemeinsam mit den Unfallversicherungsträgern, teils unter Einbeziehung der BVA bzw. getrennt nach Unselbstständigen und Selbstständigen). Die vierte Variante hingegen verzichtet auf eine Trägerreform und zielt darauf ab, einerseits die Krankenkassen zu einer Leistungsharmonisierung zu verhalten und sie insgesamt besser durch den Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (HV) zu koordinieren, andererseits die derzeitige Mittelaufbringung durch einen „Risikostrukturausgleich“ für die Kassen fairer zu gestalten und vorhandene Rücklagen für neue Leistungen umzuverteilen. Variante 4 wird damit begründet, dass Österreich laut LSE zu den Staaten mit den niedrigsten Verwaltungsausgaben zählt (2 % der Ausgaben der Krankenversicherung). Im Vergleich dazu sind es in Deutschland 4,6 %, in Frankreich 2,8 % und in der Schweiz 2,5 %. Deutschland weist derzeit noch 117 gesetzliche Krankenkassen auf (im Jahr 2000 waren es noch rund 450) und in der Schweiz sind es rund 60 öffentliche und private Krankenkassen, die staatlich zur Vollziehung der gesetzlichen Krankenversicherung ermächtigt sind.

Die wahren Herausforderungen des österreichischen Gesundheitssystems

Vor diesem Hintergrund wird rasch klar, dass finanzielle Probleme nur zu einem geringen Teil auf das österreichische Mehrkassensystem zurückzuführen sind. Die zentralen Herausforderungen des österreichischen Gesundheitssystems werden in der Studie daher nicht in einer veränderten Organisationsstruktur der Sozialversicherung, sondern in der Lösung von folgenden über die Vorschläge der vier Varianten hinausgehenden Bereichen gesehen: Qualitätssicherung, Arzneimittelpolitik, Spitalshäufigkeit, Leistungsangebot (Patientenorientierung) und Prävention. Diese Ansätze finden sich zum Teil auch schon in der Art 15a B-VG-Vereinbarung zur „Zielsteuerung-Gesundheit“ aus dem Jahr 2013.

Zusammenlegung von Krankenkassen – Bundeskrankenkasse

Die Zusammenlegung der Kassen ist daher kein erklärtes Ziel der Studie, wird aber dennoch angesprochen. Die Studienautoren weisen darauf hin, dass eine „Kassenfusion“ mittelfristig zu höheren Kosten führen würde, später aber durchaus Synergien und Einsparungen zu erwarten sind. Aus ökonomischer Sicht spricht – wenn man diese Hypothese teilt – demnach wenig gegen eine Trägerkonzentration.

Thematisch im Vordergrund dieses Beitrages steht daher weniger die ökonomische, sondern die politische Bewertung der Fusion der Gebiets- und Betriebskrankenkassen zu einer Bundeskrankenkasse aller Unselbstständigen (also unter Einbeziehung der BVA der Beamten, der VAEB der Eisenbahner und des Bergbaus und der Krankenfürsorgeanstalten der Länder und Gemeinden) und einer gemeinsamen Sozialversicherungsanstalt (anstatt der SVB und SVA) für selbstständige Erwerbstätige und Bauern in der KV (Vorarbeiten dazu wurden bereits geleistet). Die anderen Modelle der Studie sind letztlich Abwandlungen dieses Grundmodells. So sieht ein Modell einen Sonderträger für alle öffentlich Bediensteten vor, in einem anderen werden die bisherigen Agenden der AUVA den Krankenkassen zugeschlagen, was in der Sache höchst umstritten ist. Die LSE schlägt jedoch kein „Ländermodell“ vor (alle Unselbstständigen in die jeweiligen Gebietskrankenkassen), vermutlich um eine noch stärkere Föderalisierung des Gesundheitssystems zu vermeiden.

Auswirkungen

Die Umsetzung von Organisationsreformen in der SV wird sich in Anbetracht unterschiedlicher Interessen alles andere als einfach erweisen. Sowohl auf individueller als auch auf politischer Ebene werden Einfluss und Einkommen verloren gehen und Hierarchien entstehen. Die Zusammenlegung von Trägern unterschiedlicher Berufsgruppen wird die bestehenden Mehrheitsverhältnisse in den neu geschaffenen Verwaltungskörpern verändern. Die Einbeziehung von VAEB, BVA (Bundesbedienstete) und der Krankenfürsorgeanstalten in einen gemeinsamen Bundesträger wird von den betroffenen Berufsgruppen als Affront gesehen werden, immerhin geht es auch um bessere Leistungen und in der BVA um erhebliche Rücklagen. Widerstand ist letzten Endes auch von den Bundesländern zu erwarten, die kaum bereit sein werden, „ihre“ Kassen aufzugeben und Mittelabflüsse zu anderen Kassen verhindern wollen. Dazu kommt, dass sie Länderkassen als „Ansprechpartner“ für regionale Gesundheitsprojekte benötigen. Schließlich werden von den Reformen auch Teile der Belegschaft von Kassen und des HV (hinsichtlich ihrer Positionen, Erwartungen etc.) negativ betroffen sein.

Besonders gravierend sind die Auswirkungen einer Abschaffung der autonomen Gebietskrankenkassen und – in Anlehnung an die AUVA und die PVA – deren Umwandlung in Landesstellen. Die Landesstellen werden an Weisungen der Bundeskasse gebunden. Das geht weit über ein erweitertes „Durchgriffsrecht“ des HV auf die Kassen hinaus, wie das seit Jahren von „Zentralisten“ gefordert wird. Bei einer Zusammenlegung von Krankenkassen würden Leistungsharmonisierung und Strukturausgleich zu Managementaufgaben werden und müssten nicht erst mühsam innerhalb des Kassenverbandes im HV verhandelt werden, wo solche Willensbildungen durch einzelne Kassen blockiert werden können. Das Argument, es würde ein für die Vollziehung der gesetzlichen KV zu großer Träger („Moloch“) geschaffen werden, relativiert sich im Hinblick auf die bereits bestehenden bundesweiten Trägerstrukturen in der UV und PV. Ein Vorteil könnte darin bestehen, dass Prozesse zentral gesteuert und beschleunigt werden, die derzeit partikulären Interessen zum Opfer fallen und nicht konsensfähig sind, aber für die SV insgesamt (in ihrem Erscheinungsbild) und für die Versorgung der Versicherten notwendig sind. In den Augen vieler SV-Funktionäre gibt es nicht „eine“ SV, sondern eine durch zahlreiche Träger fragmentierte SV, in der sie ihre eigentliche Rolle sehen.

Wie soll man Versicherten erklären, dass bei gleichem Beitragssatz Leistungen in einem Bundesland oder in einer anderen Krankenkasse höher sind als in der eigenen? Wie macht man der Öffentlichkeit verständlich, dass Kassen nur deswegen gebarungsmäßig erfolgreicher abschneiden, weil ihre Versicherungsgemeinschaft „bessere Risiken“ aufweist? Ob sie wirklich besser wirtschaften, wie so oft behauptet, wird man erst nach dem Risikostrukturausgleich beurteilen können. Dazu ist es aber erforderlich, dass alle Träger daran teilnehmen, also auch die BVA, die über erhebliche Rücklagen verfügt, die sie in erster Linie ihrer günstigen Risikostruktur verdankt. Reformen ohne Einbeziehung der Beamten in den Ausgleich sind reine Klientelpolitik.

Bedenken

Die Errichtung von Landesstellen würde erstmals einen Weisungszusammenhang zwischen Krankenkassen herstellen. Zu Recht wird befürchtet, dass eine zentrale Steuerung, die auf die Besonderheiten der Länder nicht ausreichend Bedacht nimmt, regionale Gesundheitspolitik „ersticken“ könnte, wenn in Zukunft keine Spielräume für versorgungspolitisch berechtigte Anliegen der Länder und dafür keine adäquaten finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Ein weiteres Argument gegen eine Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen besteht im Wegfall jeglichen Wettbewerbs zwischen Kassen. Da die Beitragssätze gesetzlich geregelt sind und die Leistungen zumindest weitgehend im Gesetz oder in der Mustersatzung des HV vereinheitlicht sind, kann es sich dabei nur um einen Performance-Wettbewerb (Prozess- und Produktinnovationen) handeln, der sich in der Vergangenheit aber durchaus bewährt hat.

Beide Bedenken zeigen, dass es jedenfalls spezifischer Kooperationsformen zwischen Bundeskasse und Landesstellen bedürfte, um die z. T. räumlich bedingten Versorgungsbedarfe der Länder zu berücksichtigen. Diesen spezifischen Bedarf zu erheben und zu implementieren, ist planwirtschaftlich auch durch das beste Informationssystem nur bedingt lösbar. Trägerreformen müssen daher jedenfalls den Landesstellen weiterhin Befugnisse in der Organisation des niedergelassenen Bereiches („Teilautonomie“ in der Leistungsangebotsplanung, Möglichkeiten flexibler Vertragsgestaltung) einräumen und die Finanzierung sicherstellen. Sinnvoller wäre es aber, die Rechte des Hauptverbandes punktuell zu erweitern, ohne das ganze System zu kippen.

Die Schaffung einer Bundeskrankenkasse ist mit erheblichen Machteinbußen von Gewerkschaften (auf der Länderebene) und wahrscheinlich auch der SPÖ verbunden, die z. B. in Oberösterreich mit der „Gesundheitskasse“ eine wichtige politische Bastion (quasi als soziales „Kompetenzzentrum“) verlieren würde. Es ist davon auszugehen, dass diese machtpolitischen Zusammenhänge auch der künftigen Regierung bekannt sein werden. Zuletzt wurden Pläne bekannt, die Krankenkassen unter Regierungskuratel zu stellen. Es ist damit zu rechnen, dass eine regierungsfreundliche Mehrheit installiert wird, die künftig allen Landesstellen Weisungen erteilen darf. So gesehen ist zu bezweifeln, ob die von den Gremien der AK beschlossenen Anliegen in einer Bundeskrankenkasse rascher und bereitwilliger umgesetzt werden als in Gebietskrankenkassen. Ohne Bindung der von der AK entsendeten Kassenfunktionäre an wichtige Beschlüsse der AK ist darin kein nennenswerter Vorteil erkennbar. Im Gegenteil, wichtige Projekte würden am Widerstand der Bundeskasse scheitern und könnten am Ende in gar keiner Landesstelle umgesetzt werden. Dieser Aspekt spricht gegen eine Zusammenlegung von Krankenkassen.

Es sind auch die verfassungsrechtlichen Schranken einer Fusion zu beachten. Zwar dürfte die Zusammenlegung von ASVG-Krankenkassen kein Problem darstellen, ebenso wenig wie ein gemeinsamer Risikoausgleich oder die Auflösung von Rücklagen zugunsten finanzschwächerer Träger; bei den Krankenfürsorgeanstalten der Länder und Gemeinden bestehen jedoch verfassungsrechtliche Bedenken. Das gilt auch für einen Risikoausgleich zwischen Selbstständigen- und Unselbstständigen-Trägern. Die Studie schlägt ersatzweise eine verfassungskonforme abgabenrechtliche Lösung („Strukturausgleichsabgabe“) vor.

 

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