Multiperspektivität in der Klimaforschung – Pragmatismus in der Klimapolitik

18. Januar 2024

Klimaforschung ist zunehmend multiperspektivisch: Sie untersucht die (biophysische) Natur der Erderhitzung sowie ihre sozialen Auswirkungen. Für eine klimasoziale Politik birgt Multiperspektivität Chancen, denn sie erlaubt einen kritischen Blick auf im öffentlichen Diskurs nach wie vor gängige Überbetonungen einzelner Lösungen. Dazu zählen die „Rettung der Welt“ durch individuelle Verhaltensveränderungen oder durch neue Technologien (Stichwort: Carbon Capture and Storage). Multiperspektivität ist die Voraussetzung für ein tiefes Verständnis der Klimakrise – ihrer Treiber und sozial ungleichen Auswirkungen – sowie für vielfältige und pragmatische Lösungen. Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen mit Blick auf die Klimakrise sind vielfältig. Dennoch können idealtypisch vier Perspektiven unterschieden werden: die Markt-, Innovations-, Bereitstellungs- und die Gesellschaft-Natur-Perspektive. Eine effektive Bearbeitung der Klimakrise, so unser zentrales Argument, bedingt eine Kombination der Perspektiven und ihrer „Werkzeugkisten“.

Grafik: Klimaforschung © A&W Blog
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In der Marktperspektive dominieren Preisstrukturen als Analysegegenstand und Preissignale als Steuergröße für nachhaltige Entwicklung. Kostenwahrheit soll nach dem Verursacherprinzip sicherstellen, dass klimaschädliche Produktionsprozesse verteuert und damit Produkte und Dienstleistungen langfristig vom Markt verdrängt werden. Ebenso sollen Menschen als Nachfrager:innen und Konsument:innen zu individuellen Verhaltensänderungen gebracht werden. Die bekanntesten klimapolitischen Maßnahmen im Instrumentenkoffer sind wohl Ökosteuern, CO2-Bepreisung und Emissionshandel. Weiters werden Anreizmechanismen wie Nudging (z. B. durch Smart Meter) propagiert.

In der Innovationsperspektive setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass das gängige Verständnis von Innovation als eine sich am Markt durchsetzende, technologische Lösung zu kurz greift. Was es (aus wissenschaftlicher Sicht) braucht: Innovation im Dienste grundlegender sozio-technischer Veränderungen, die zu neuen klimafreundlichen sozioökonomischen Praktiken führen. Der bloße Umstieg auf E-Autos reicht demnach nicht. Ein post-fossiles Mobilitätssystem inkludiert Produkte und Dienstleistungen für neue klimafreundliche Praktiken, den Umbau von Netzinfrastrukturen, Umschulungsangebote und neue Perspektiven für vom Strukturwandel betroffene Regionen. Neben technischer Innovation braucht es demnach auch organisatorische und institutionelle Innovation (allen voran eine Ausrichtung auf die Elektrifizierung des Energiesystems und den Ausbau der Kreislaufwirtschaft) sowie soziale Innovationen (z. B. gemeinschaftliche Beteiligung an der Energieerzeugung und Sharing-Modelle, leistbare Mobilitätsdienstleistungen). Innovation in diesem Sinne bedingt zudem auch Exnovation, das Beenden klimaschädlicher Praktiken (z. B. ein Aus für Verbrennungsmotoren).

Der Bereitstellungsperspektive liegt ein weit gefasstes Verständnis von Wirtschaft zugrunde, nämlich Wirtschaften als die gesellschaftliche Organisation der Reproduktion menschlichen Lebens. Die umfasst bezahlte und unbezahlte Arbeit; Güter und Dienstleistungen, die am Markt angeboten werden, aber auch Infrastrukturen, die ein klimafreundliches Leben erleichtern (z. B. öffentliche Naherholungsangebote). Öffentliche Institutionen, von Kommunen bis zur Bundesregierung, beeinflussen, ob und inwiefern klimafreundliches Leben überhaupt möglich ist. Der Instrumentenkoffer beinhaltet daher insbesondere Gesetze (z. B. im Sinne von Marktzugangsregeln, die Haushalte zu Stromproduzenten machen können oder dies unterbinden), Raumplanung (z. B. kann sie Zersiedelung unterstützen oder verhindern) und die Sicherstellung der Daseinsvorsorge (z. B. die Standorte von Pflegeangeboten für Ältere und Kinderbetreuungseinrichtungen können dezentrale Versorgung ermöglichen oder zu Zwangsmobilität führen).

Die Gesellschaft-Natur-Perspektive erweitert die anderen drei Perspektiven, indem sie Klimapolitik in den Kontext der gesellschaftlichen und geopolitischen Transformationen stellt. Ausgehend von der Erkenntnis, dass durch die Klimakrise nichts so bleibt, wie es ist, problematisiert diese Perspektive unter anderem das dualistische Verständnis von Mensch und Natur, das in Annahmen wie „Die Technik wird es richten“ nach wie vor prominent ist. Sie klärt darüber auf, dass Versprechen von Naturbeherrschung sowohl historisch als auch gegenwärtig eher ein Treiber von sozial-ökologischen Krisen als deren Lösung ist, da naturbeherrschende Interventionen zumeist soziale und auch ökologische Folgeprobleme nach sich ziehen (der Hochwasserschutz für die einen bedeutet mitunter Hochwasser für andere). Die Gesellschaft-Natur-Perspektive problematisiert auch Logiken kapitalistischer Marktwirtschaften, allen voran deren Wachstumszwang, da Letzterer vor allem im Globalen Norden und nach 1945 ganz wesentlich mit einem hohen CO2-Ausstoß verbunden ist. Wesentlich für die Entwicklung eines Instrumentenkoffers für die Klimapolitik wird ein differenzierterer Zugang zu Wachstum angesehen: Manche Bereiche (z. B. erneuerbare Energien) sollen wachsen, andere werden schrumpfen, teilweise sogar enden müssen (z. B. Fast Fashion oder der Neubau von Eigenheimen auf der grünen Wiese).

Die im Bericht des Austrian Panels on Climate Change (APCC), „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“, als notwendig erachtete Multiperspektivität erfordert eine breite Einbindung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in die Entwicklung klimapolitisch relevanten Wissens unddas Gestalten von konkreten Lösungen. Dies hat auch politische Konsequenzen. Für die Gestaltung klimafreundlichen Lebens gilt nämlich: Wenn mehrere Perspektiven berücksichtigt werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass Problemdiagnosen, Zielhorizonte und Gestaltungsoptionen differenziert verstanden, Prioritäten informiert gesetzt und Inkompatibilitäten sowie Synergien identifiziert werden können.

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