Was bisher als Kapitalmarktunion in der EU bekannt war, heißt jetzt Spar- und Investitionsunion und wird weiter gefasst. Die großen Herausforderungen der grünen und digitalen Transformation, der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit mittels Steigerung des Produktivitätswachstums, der geopolitischen Spannungen und Konflikte, die die Sicherheitsausgaben nach oben treiben, sowie des Wegfalls der USA als verlässlicher und berechenbarer Partner bedeuten einen enormen Investitionsbedarf in der EU. Doch gibt die Spar- und Investitionsunion die richtigen Antworten?
Was ist die Spar- und Investitionsunion (SIU)?
Zunächst ist festzuhalten, dass die SIU ebenso wie davor die Kapitalmarktunion ein „moving target“ bleibt. Sie ist wie eine Art Mantel zu sehen, unter dem verschiedene, zum Teil wiederkehrende, zum Teil veränderliche und wechselnde Maßnahmenpakete zusammengefasst werden. Damit ist sie nur beschränkt mit der Bankenunion vergleichbar, die als Antwort auf die Finanzkrise das Bankensystem durch klare quantitative und qualitative Anforderungen und eine Harmonisierung und Vergemeinschaftung von Regulierung und Aufsicht resilienter gemacht hat.
Die Kommission hat im März 2025 eine Mitteilung veröffentlicht, die die wesentlichen Elemente und die geplanten Schritte der SIU darlegt. Mit der SIU sollen über vier Maßnahmenpakete die Voraussetzungen verbessert werden, um Sparen und Investieren auf europäischer Ebene besser in Einklang zu bringen: (A) Bürger:innen und Sparvermögen, (B) Investitionen und Finanzierung, (C) Integration und Größe und (D) Effiziente Aufsicht im Binnenmarkt.
(A) Bürger:innen und Sparvermögen – mehr Möglichkeiten, aber wem nützen sie?
Die Bürger:innen sollen mehr Möglichkeiten bekommen, Einkünfte und Ersparnisse gewinnbringend am Kapitalmarkt anzulegen. Geplant ist die Veröffentlichung einer Blaupause für Spar- und Anlagekonten oder -produkte im 3. Quartal 2025. Idealerweise wären solche Produkte mit Vorhaben zu kombinieren, wonach die Kommission unter anderem mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) und den nationalen Förderbanken im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) prüfen will, wie der Zugang der Kleinanleger:innen zu Finanzprodukten ausgeweitet werden kann, mit denen sie einen Beitrag zur Finanzierung der EU-Prioritäten leisten können.
Solche Produkte hätten – richtig angewandt – tatsächlich Potenzial: Sie könnten Sparer:innen nicht nur näher an wichtige Projekte von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI), also industriepolitische Ziele, bringen und so die grüne und digitale Transformation unterstützen. Sie könnten auch so gestaltet sein, dass sie den Transmissionsmechanismus für geldpolitische Entscheidungen verbessern und den Wettbewerb beleben, indem Zinsschritte der EZB rascher an Sparer:innen weitergegeben werden. Leider findet sich zu Letzterem kaum etwas in der Mitteilung und die Maßnahmen zum Spar- und Anlagekonto und deren möglicher Beitrag zur Finanzierung der EU-Prioritäten bleiben in der Mitteilung ohne inhaltliche Verbindung.
Auch viele andere Punkte bleiben vage: So ist etwa von möglichen steuerlichen Anreizen durch die Mitgliedstaaten die Rede, was in Zeiten klammer Budgets vor allem unter Verteilungsaspekten zu hinterfragen ist. Und auch die Finanzkompetenz der Bürger:innen soll wieder einmal gesteigert werden. Dies ist grundsätzlich begrüßenswert, darf aber keineswegs ein Ersatz für umfassenden Konsument:innenschutz sein. Vorsicht ist auch geboten, wenn es um Fragen der Pensionsvorsorge geht. In der zweiten und dritten Säule sieht die Mitteilung erhebliches Potenzial für mehr Liquidität an Kapitalmärkten. Doch bei Fragen der Pensionsvorsorge sollte es wohl nicht maßgeblich um die Vertiefung der Kapitalmärkte gehen. Problematisch ist ein solcher Zugang vor allem, weil in der Folge meistens (gleichzeitig) Einsparungen im Umlagesystem und steuerliche Anreize in der kapitalgedeckten Vorsorge gefordert werden.
(B) Investitionen und Finanzierung – Vorsicht ist geboten
Es ist angesichts der eingangs erwähnten Herausforderungen evident, dass Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt in der EU Investitionen steigern müssen und dafür die richtigen Instrumente brauchen. Mehr Finanzierungsoptionen werden vor allem für kritische Phasen im Wachstum von Unternehmen nötig sein. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass die traditionell stärker banken- als kapitalmarktfinanzierte Wirtschaft in der EU finanzierungsbeschränkt ist, sondern das verhaltene Wachstum an Finanzierungen (vor allem nach der Normalisierung der Geldpolitik nach dem beispiellosen steilen Zinsanstieg nach dem Energiepreisschock im Gefolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine) stärker durch getrübte Absatzerwartungen und hohe Unsicherheit geprägt ist.
Gefragt sind also auf der Finanzierungsseite maßgeschneiderte europäische Lösungen für bestimmte Wachstumsphasen junger, innovativer Unternehmen. Dies ließe sich auch dadurch erreichen, dass solche Finanzierungen indirekt über Banken und andere institutionelle Anleger finanziert werden können.
Im Rahmen der SIU ist unter anderem Folgendes geplant:
- Maßnahmen, um Beteiligungsinvestitionen institutioneller Anleger wie Versicherungen und Pensionskassen zu fördern:
Aufgrund der Fristigkeiten der Veranlagungen sind dies grundsätzlich sinnvolle Ansätze, das Risikomanagement direkter Beteiligungen setzt aber zum einen spezifisches Know-how voraus und erhöht zum anderen die Komplexität von Risikomanagement, Aufsicht und Regulierung. Äußerst kritisch zu betrachten ist es, wenn sich dadurch letztlich eine höhere Risikobelastung für Arbeitnehmer:innen ergibt, deren Ersparnisse dort angelegt sind. Sinnvoller wäre es wahrscheinlich, für z. B. Pensionsfonds indirekte Beteiligungen über spezialisierte Fonds für Start-ups und Wachstumsunternehmen zu erleichtern, um dort Skaleneffekte zu erzielen und die Aufsicht und Regulierung der spezialisierten Fonds entsprechend zu verbessern. - Die Umsetzung eines Scale-up des TechEU-Investitionsprogramms in Zusammenarbeit mit der EIB, nationalen Förderbanken und Investor:innen soll überprüft werden. Eine European Tech Champions Initiative 2.0 (ETCI) soll über den Europäischen Investitionsfonds (EIF) ins Leben gerufen werden, u. a. mit dem Ziel, private Investitionen in Risiko- und Wachstumskapital zu mobilisieren:
Die Einbettung von Investitionsprogrammen in industriepolitische Strategien unter Einbeziehung privater (institutioneller) Investor:innen ist notwendig, aber nur dann auch hinreichend, wenn die industriepolitischen Strategien klar definiert, nachvollziehbar, berechenbar und transparent sind. Auf diese Weise kann die Politik Unsicherheit als wesentlichen Hemmschuh für Investitionen reduzieren, was viel mehr ihre Aufgabe ist als die direkte Übernahme von grundsätzlich marktfähigen Risken. - Vereinfachung der für Banken und Versicherer geltenden Anforderungen in den Bereichen Sorgfaltspflicht und Transparenz und Konzentration von Aufsichtsanforderungen:
Hier ist insofern höchste Vorsicht geboten, als Verbriefung und die Strukturierung von verbrieften Forderungen maßgeblich zur Finanzkrise 2008 beigetragen haben. Indem die Prüfung und das Tragen von Kreditrisiko auseinanderfallen und so das Problem der Informationsasymmetrie verstärken und nicht-risikoadäquate Anreize setzen, wird diese Gefahr wieder größer. Zusätzlich kommt es indirekt zu einer Aufweichung der Eigenkapitalbestimmungen. Die Stabilität des Finanzsystems, die nach der Finanzkrise durch umsichtigere Regulierung und Aufsicht erreicht wurde, sollte eine stabile Säule der Weiterentwicklung des Finanzsystems bleiben.
(C) Integration und Größe – mehr gemeinsame Regulierung und Aufsicht sind gefragt
In diesem kryptisch klingenden Maßnahmenpaket sind u. a. Legislativvorschläge der Kommission zum Abbau von Hindernissen für stärker integrierte Handels- und Nachhandelsinfrastrukturen geplant. Diese betreffen etwa Vorschriften für Zentralverwahrer, Finanzsicherheiten und Abwicklung sowie über die Handelsmarktstruktur. Der Rechtsrahmen soll an neue Technologien und finanzielle Entwicklungen angepasst und eine bessere Qualität der Ausführung und Preisbildung an EU-Handelsplätzen gewährleistet werden. Bei Investmentfonds und großen und spezialisierten Vermögensverwaltern sollen Hindernisse im unionsweiten Vertrieb beseitigt werden:
Um die Fragmentierung der Kapitalmärkte effektiv zu überwinden, ist dies zwar ein logischer Schritt. Er kann aber nur Hand in Hand mit einer stärkeren Harmonisierung von Regulierung und schrittweisen Vergemeinschaftung der Aufsicht gehen, wie dies in der Bankenaufsicht nach der Finanzkrise geschehen ist. Nachdem Vertrauen von Anleger:innen die wichtigste Währung ist, ist eine Regulierung und Aufsicht, die europäische Finanzstabilität gewährleisten kann und auf die Anleger:innen auch grenzüberschreitend vertrauen können, eine der Grundvoraussetzungen für einen integrierten Finanz- und Kapitalmarkt.
(D) Effiziente Aufsicht im Binnenmarkt – leider nur geringe Ambitionen in diesem zentralen Punkt
Für eine Union, die eine vor allem nationale Fragmentierung der Märkte überwinden will, wären Maßnahmen zu einer effizienteren Aufsicht im Binnenmarkt von zentraler Bedeutung. Doch genau diese Vorhaben, die in der Mitteilung aufgelistet werden, sind jene mit den geringsten Ambitionen bzw. bleiben auch diese sehr vage:
- Die Kommission fordert die Europäischen Aufsichtsbehörden und die zuständigen nationalen Behörden auf, die verfügbaren Instrumente in vollem Umfang zu nutzen und die dargelegte Vereinfachungsagenda umzusetzen.
- Die Kommission wird Maßnahmen vorschlagen, um die Instrumente der aufsichtlichen Konvergenz zu stärken und wirksamer zu gestalten.
- Immerhin plant die Kommission Vorschläge für eine stärker harmonisierte Beaufsichtigung über die Kapitalmärkte vorzulegen.
Schlussfolgerungen
Die Kommission hat den mangelnden Fortschritt – aufgrund nationaler Widerstände – bei der Vergemeinschaftung der Aufsicht über die Kapitalmärkte, wie dies in der Bankenunion der Fall ist, zur Kenntnis genommen und damit den Namen „Kapitalmarktunion“ zu Recht aufgegeben. Im Rahmen der neuen SIU fehlen nun jedoch gerade jene Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Fragmentierung der Kapitalmärkte zu überwinden, also Harmonisierung von Regulierung der Kapitalmärkte und Vergemeinschaftung der Aufsicht. Übrig bleibt nur ein Appell zur Zusammenarbeit bei Regulierung und Aufsicht.
Weiterhin liegt die Hoffnung darauf, dass, wenn mehr Liquidität auf den Märkten geschaffen werden kann, die Märkte die Ziele der Politik hin zu einer nachhaltigeren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft „automatisch“ erfüllen. Am ehesten ist die Erreichung der Ziele jedoch dort zu erwarten, wo gemeinschaftliche Investitionsprogramme versuchen, für private Investitionen gezielte Anreize zur Verzahnung mit industriepolitischen Zielen zu setzen. Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass die Funktion der Wirtschaftspolitik stärker in der Nachfragestabilisierung und der Reduzierung von Unsicherheit durch verlässliche Regulierungspfade als in der Übernahme von marktfähigen Risiken liegt. Schließlich bedeutet dies eine Übertragung des Risikos auf die öffentliche Hand.
Problematisch sind vor allem jene Maßnahmen im Rahmen der SIU, die zulasten der erreichten Resilienz der Finanzmärkte nach dem Fall von Lehman Brothers zu gehen drohen. Dies trifft insbesondere auf die geplante Wiederbelebung der Verbriefung von Krediten zu.
Und über die Forcierung von Spar- und Vorsorgeinstrumenten für private Haushalte, wobei Letztere biografische Risiken im Gegensatz zur öffentlichen, umlagefinanzierten Pensionsvorsorge nicht abfedern können, zu erwarten, die Fragmentierung der Kapitalmärkte zu überwinden, ist nicht nur verteilungspolitisch mit Vorsicht zu genießen. Es heißt auch, das Pferd von hinten aufzuzäumen.