Österreichs EU-Politik auf Ratsebene: Quo vadis Austria?

15. Mai 2024

Die EU braucht zur Bewältigung aktueller und künftiger Herausforderungen handlungsbereite Staaten, die sich für gesamteuropäische Lösungen einsetzen. Die österreichische Bundesregierung steht jedoch insbesondere bei für Arbeitnehmer:innen entscheidenden Themen auf der Bremse – und bewegt sich durch eine zunehmende Isolierung Österreichs auf gefährliches Terrain. Ein Resümee der österreichischen EU-Politik angesichts des bereits angelaufenen Wahljahres.

Kurzer Überblick

Österreich hat sich in den vergangenen Jahren durch eine ambivalente Haltung in der EU-Gesetzgebung ausgezeichnet. Vereinzelt werden zwar konstruktive Positionen eingenommen, wie etwa bei der Unterbindung von Versuchen anderer Mitgliedstaaten, Atomenergie als „grüne Energie“ neu zu klassifizieren. Überwiegend führt die österreichische Regierung jedoch auch auf Ratsebene eine bereits auf innerstaatlicher Ebene kritikwürdige Politik fort. So werden bei neuen EU-Gesetzen viele progressive Lösungsvorschläge erheblich verwässert und blockiert, wenn sie dem innenpolitischen Spin zuwiderlaufen.

Österreich erweist sich damit nicht nur als kein fähiger Bündnispartner bei jenen Initiativen, die die Zukunft der EU bestimmen: Österreich isoliert sich auch zunehmend in Verhandlungen angesichts einer unilateralen Politik, die generell europäischen Kompromissen skeptisch gegenüberzustehen scheint. Aus Anlass der bevorstehenden EU-Wahl und einer damit einhergehenden Neubestellung der Kommission soll anhand von ausgewählten Beispielen ein kurzes Resümee der österreichischen EU-Politik auf Ratsebene gezeichnet werden.

Grafik: Stimme für Demokratie © A&W Blog
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Ein Arbeitsminister positioniert sich gegen die arbeitenden Menschen

Mit dem Scheinargument, dass die Mindestlohnrichtlinie in die österreichische Sozialpartnerautonomie eingreife, sprach sich Österreich gegen eine gesamteuropäische Regelung eines angemessenen Mindestlohns aus – eine der wichtigsten sozialpolitischen Initiativen auf EU-Ebene. So sollte diese besser als bloße unverbindliche Empfehlung beschlossen werden. Die Mindestlohnrichtlinie stellt jedoch ein wichtiges Element des sozialen Fortschritts dar. Ihre Umsetzung kann vielen Arbeitnehmer:innen in jenen Mitgliedstaaten nutzen, in denen die Abdeckung durch Kollektivverträge derzeit zu niedrig (unter 80 Prozent) ist oder zwar gesetzliche Mindestlöhne bestehen, deren Höhe aber zu gering ist. Die Mindestlohnrichtlinie wurde schließlich im Oktober 2022 erlassen, womit ein wichtiger Schritt in Richtung mehr sozialer Gerechtigkeit erreicht wurde.

Eine ganz ähnliche Begründung nutzte Bundesminister Kocher bei seiner Weigerung, die La-Hulpe-Deklaration zu unterstützen: Die Autonomie der Sozialpartner wäre sonst berührt. Dabei unterstützen bis auf die Konzernlobby Businesseurope alle anwesenden EU‑Sozialpartner den Text. Die Erklärung unterstreicht die Bedeutung der sozialen Marktwirtschaft in Europa und bekräftigt, dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt miteinander verknüpft sind. Neben Österreich weigerte sich nur die schwedische Regierung, die Erklärung zu unterzeichnen, was vor Ort für Irritationen sorgte.

Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innenvertretungen haben jahrelang einen EU-weiten Rechtsrahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen gefordert. Die im April beschlossene Richtlinie zur Plattformarbeit ist zwar aus Arbeitnehmer:innensicht zu begrüßen, der Gesetzestext wurde aber zulasten der Beschäftigten verwässert. So soll für die Arbeitnehmer:innen zwar die Vermutung gelten, dass ein unselbstständiges Beschäftigungsverhältnis bei der Plattform vorliegt, und dieselbe das Gegenteil beweisen müssen; die Kriterien, wann ein solches unselbstständiges Arbeitsverhältnis vorliegt, werden aber nun von den Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, bereits in der EU-Richtlinie festgelegt. Arbeitsminister Kocher hat sich bereits diesbezüglich festgelegt: So ist das Ziel der Richtlinie für ihn bereits dann erfüllt, wenn die Plattformbeschäftigten als freie Dienstnehmer:innen tätig sind. Nur: Die Arbeitsbedingungen für freie Dienstnehmer:innen sind ungleich schlechter als für unselbstständige Beschäftigte, weil sie unter anderem keinen Urlaubsanspruch haben, keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und beispielsweise auch ihr Einkommen selbst versteuern müssen. Aus Arbeitnehmer:innensicht ist ein solches Ergebnis nicht zufriedenstellend und der österreichische Arbeitsminister muss hier noch einen großen Schritt machen, um die Situation der Beschäftigten zu verbessern. Immerhin bedeutet die Richtlinie in Bezug auf Datenschutz und algorithmisches Management aber eine Verbesserung, weil die Beschäftigten und ihre Vertreter:innen eine Einsichtnahme und gegebenenfalls Korrektur bei den gesammelten Daten verlangen können.

Betreffend die Richtlinie über Standards bei den Gleichstellungsstellen im Bereich der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Frauen und Männern in Arbeits- und Beschäftigungsfragen wurde der ursprüngliche Vorschlag von der österreichischen Regierung abgelehnt. Als Begründung wurde auf das sich in Österreich seit Jahrzehnten erfolgreich erweisende System verwiesen. Diese Einschätzung kontrastiert allerdings mit den Tatsachen, denn in Österreich liegt der Gender-Pay-Gap weit über dem EU-Durchschnitt: So arbeiten Frauen nach wie vor im Schnitt zwei Monate im Jahr „gratis“; überdies klafft eine Geschlechterlücke von 40,5 Prozent bei Pensionen, vor allem Frauen sind stark von Altersarmut betroffen. Schließlich war mehr als jede vierte Frau bereits von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen. AK-Forderungen für eine effektive Gleichbehandlung wurden vonseiten der Bundesregierung in den Ratsverhandlungen nicht berücksichtigt.

Sparpolitik statt Investitionen für die Zukunft

Österreich nahm als einer der „sparsamen vier“ Mitgliedstaaten zu Beginn der Pandemie eine offen kritische Haltung zur Schuldenaufnahme durch die Union ein und sprach sich gegen eine „Vergemeinschaftung“ von Schulden aus: So wurde das Wiederaufbauinstrument NextGenerationEU klar abgelehnt. Weiters sprach man sich gegen die zeitweise Aussetzung der strengen europäischen Fiskalregeln – insbesondere des Stabilitäts- und Wachstumspakts – mittels einer sogenannten „Ausweichklausel“ aus. Die Klausel wurde im März 2020 aktiviert, um den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der Pandemie mehr fiskalischen Spielraum einzuräumen. Diese wurde bis 2023 in Kraft belassen, was von sparsamen Mitgliedstaaten wie Österreich schon für das Jahr 2022 kritisiert wurde.

Im Sinne der bereits vielfach kritisierten Sparpolitik positionierte sich Österreichs Regierung gegen eine konstruktiv-wiederaufbauende Maßnahme, die die Notwendigkeit von öffentlichen Investitionen in langfristige, nachhaltige Zielsetzungen erkannt hatte. Denn zur Bewältigung der multiplen Krisen, von der Klima- bis zur Energiekrise, sind öffentliche Investitionen ebenso von zentraler Bedeutung wie zur Wahrung von Wohlstand und Arbeitsplätzen. Fest steht jedenfalls, dass Investitionen, die heute nicht in den sozial-ökologischen Umbau getätigt werden, uns alle später teuer zu stehen kommen werden: So muss an dieser Stelle insbesondere auf einschlägige Studien verwiesen werden, die die sogenannten „Kosten des Nichthandelns“ für verschiedene Sektoren aufzeigen, wie sie beispielsweise vom Wegener Center für Klima und Globalen Wandel ermittelt wurden.

Gegen eine gerechtere und nachhaltigere Weltwirtschaft?

In Verhandlungen zur Lieferkettenrichtlinie divergierte die Position des Europäischen Parlaments stark von jener des Rats, der den Finanzsektor aus der Verpflichtung genommen hat und sich für weniger umfangreiche Pflichten für Unternehmen starkmachte. Zudem wurden in der finalen Richtlinie materielle Klimasorgfaltspflichten aus der Richtlinie gestrichen, der Schwellenwert massiv erhöht und eine ungewöhnlich lange Umsetzungsfrist vorgesehen. Österreich zeigte sich bis zuletzt zurückhaltend und enthielt sich einer konstruktiven Position. So kündigte Bundesminister Kocher kurzfristig nach der Enthaltung Deutschlands an, sich der Abstimmung zum Kompromiss aufgrund von lautstarkem Widerstand der Wirtschaftsverbände ebenfalls enthalten zu wollen. Trotz Zugeständnissen ist mit dem EU-Lieferkettengesetz ein wichtiger Schritt gegen Ausbeutung und für faire, menschenwürdige Arbeitsbedingungen weltweit gelungen. Neben Verbesserungen für Arbeitnehmer:innen entlang von globalen Wertschöpfungsketten werden auch positive Nettoeffekte für die europäische Wirtschaft erwartet, wie eine Studie im Auftrag der AK feststellte.

Der Energie-Charta-Vertrag schützt unter anderem Investitionen in fossile Energieträger wie Öl, Gas und Kohle. Damit ist er nicht mit den Klimazielen der EU vereinbar. Außerdem enthält er Klauseln für Schiedsverfahren, welche es Investor:innen erlauben, Staaten auf Schadenersatz zu verklagen, wenn diese etwa den Ausstieg aus diesen Energieträgern im Rahmen ihrer Klimaziele vornehmen wollen. Nachdem u. a. Deutschland, Frankreich, Luxemburg und neuerdings auch das Vereinigte Königreich aus dem Vertrag aussteigen werden, stimmte schließlich auch das EU-Parlament im April für einen Ausstieg der EU. Österreich erwägt hingegen nach wie vor keinen Ausstieg aus dem Vertrag.

Zuletzt trat sogar Landwirtschaftsminister Totschnig in Erscheinung: Auf Druck der protestierenden Wirtschaftsverbände forderte er ohne vorhergehende Koordinierung, die Umsetzung der Entwaldungsverordnung erheblich zu verzögern und inhaltlich abzuschwächen. Die Verordnung regelt, dass künftig relevante Rohstoffe (Rind, Kakao, Kaffee, Ölpalme, Kautschuk, Soja, Holz) und Erzeugnisse daraus nur mehr dann auf den EU-Markt gebracht oder exportiert werden dürfen, wenn sie nachweislich entwaldungsfrei erzeugt wurden. Begründet wurde dieser Protest als Schutzmaßnahme für kleine und mittelständische heimische Betriebe, die doch gerade durch eine lückenlose Kontrolle der Entwaldungsverordnung tendenziell gestärkt werden. So ist diese Kritik auch vor dem Hintergrund der bevorstehenden EU-Wahlen einzuordnen, im Zuge derer konservative und wirtschaftsliberale Kräfte der „Bürokratie“ auf EU-Ebene den Kampf erklärt haben – zulasten einer wirksamen Steuerung und Kontrolle von Arbeitnehmer:innenschutz und Qualität.

Intransparente Demokratie und vernachlässigte Diplomatie

Vor dem Hintergrund des Erstarkens von „Fake News“ sowie politischer Mobilmachung in Foren mit extremistischem und/oder demokratiefeindlichem Inhalt wäre eine Verordnung über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung eine wirksame Maßnahme im Sinne eines fairen und offenen demokratischen Prozesses. Ebenso wären darin enthaltene harmonisierte Vorschriften für die Verwendung von personenbezogenen Daten eine konstruktive Regelung zum Schutz natürlicher Personen. Auch aus diesen Gründen setzt sich die AK für anspruchsvolle Mindeststandards für die technische und administrative Abwicklung von Wahlen ein. Die Verordnung wird derzeit noch ausverhandelt und würde einen ersten gesetzlichen Rahmen in dieser Thematik darstellen. Bundeskanzler Nehammer enthält sich in Verhandlungen jedoch seit Anbeginn.

Durch die Verfolgung eines verstärkt unilateralen Kurses, wie beispielsweise auch anhand des Schengen-Vetos sichtbar wurde, isoliert sich Österreich zunehmend am internationalen Parkett. So fällt man vor allem durch die fehlende Kompromissbereitschaft auf, sobald innenpolitische Interessen nicht ausreichend bedient werden. Gleichzeitig schafft man es nicht, sich konstruktiv bei den bestimmenden Themen der Zukunft zu positionieren. Man enthält sich sodann aber nicht inhaltlich in betreffenden Verhandlungen, sondern strebt aktiv nach einer wesentlichen Verwässerung der Maßnahme auf Gesamt-EU-Ebene – und damit auch für jene Mitgliedstaaten, die an einer wirksamen Regelung interessiert sind. Beim inhaltlichen Vergleich der österreichischen Kritik bleibt der Eindruck zurück, dass die Bundesregierung progressiven Vorschlägen wenig abgewinnen kann, weil sie an Positionen festhalten möchte, die angesichts globaler Veränderungen und politischer Umdenkprozesse anachronistisch erscheinen. Daraus entsteht auch Frust, der sich in der Folge gegen die EU als Gesamtinstitution richtet.

Eine Politik, die Arbeitnehmer:innen hintanstellt, verstärkt Ungleichheiten und verschärft damit das politische Klima. Um noch zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen, streuen politische Entscheidungsträger:innen gehäuft EU-skeptische Botschaften. Die weit entfernten EU-Institutionen lassen sich in der Bevölkerung immerhin leicht als Feindbild instrumentalisieren. Anstatt die Arbeit der EU auf transparente Weise zu erklären, wird das fehlende Wissen in der Bevölkerung jedoch populistisch ausgenutzt, indem verzerrte oder einseitig formulierte Informationen gestreut werden. Damit wurde eine bislang eher am parteipolitischen Rand angesiedelte EU-Skepsis wieder in die Mitte der Gesellschaft gerückt. So plädierte zuletzt gut ein Viertel der Befragten aktiv für einen Austritt aus der EU, trotz desaströser Folgen, wie im Vereinigten Königreich seit dem Brexit sichtbar ist.

Fazit und Ausblick

Die Europäische Union braucht zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen handlungsbereite Staaten, die sich gemeinsam an gesamteuropäischen, nachhaltigen Lösungen beteiligen. Initiativen für eine sozial gerechtere und nachhaltigere Union – oft hervorgegangen aus Forderungen der Gewerkschaften und des EU-Parlaments – liegen zwar vor, werden jedoch von einzelnen Mitgliedstaaten im Rat, wie zuletzt insbesondere durch Österreich, verwässert und teilweise ausgebremst.

Um soziale Sicherheit und damit eine stabile Demokratie in Österreich zu gewährleisten, darf die Bundesregierung nicht weiter eine Politik betreiben, die die arbeitenden Menschen vernachlässigt. Anstatt Gesetzesinitiativen zu blockieren und abzuschwächen, sollte an gesamteuropäischen Kompromissen gearbeitet werden, die dabei die soziale wie die ökologische Frage als verschränkt begreifen. Die oftmalige Passivhaltung der österreichischen Regierung muss insofern überwunden werden.

Kurzfristig mögen sich unilaterale Alleingänge vielleicht in der eigenen Anhänger:innenschaft erfolgreich verwerten lassen. Langfristig schwächt man damit aber nicht nur Reformen hin zu einer sozial gerechten und nachhaltigen EU. Die österreichischen Entscheidungsträger:innen bringen sich auch selbst in eine Position, die im internationalen Dialog abträglich sein kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man sich als „like-minded state“ bloß bei jenen Mitgliedstaaten wiederfindet, die sich aufgrund ihres nationalstaatlichen Handelns nicht als Bündnispartner auf europäischer Ebene eignen.

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