Globale geo-ökonomische Unordnung: Europa braucht industriepolitische Antworten

21. Februar 2024

Gegenwärtig erleben wir eine sogenannte „neue globale Unordnung“, das erfordert die Entwicklung von neuen politischen Strategien. Geo-ökonomische Strategien gewinnen immer mehr an Bedeutung, das zeigt sich am Vorgehen der USA und Chinas besonders deutlich. Wenn die Europäische Union ihre strategische Unabhängigkeit und Technologiesouveränität bewahren möchte, muss sie darauf Antworten finden und die verteilungspolitischen Konsequenzen mitberücksichtigen.

Die neue globale Unordnung als politisch-ökonomische Herausforderung

Neben der ökologischen Krise erleben wir gegenwärtig eine Krise der politisch-ökonomischen Weltordnung: Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ist die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte, amerikanische Hegemonie ins Wanken geraten. Die Euro-Krise (2010), der Aufstieg Chinas als politisch-ökonomische Macht durch protektionistische Politiken, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ (2015) in Europa und die Wahl von Donald Trump als amerikanischem Präsidenten (2016) sowie seine populistische und protektionistische, teils erratische Politik trugen dazu bei, dass die amerikanische Hegemonie sich in Auflösung befindet. Zugleich gewinnen populistische Regierungen (zuletzt etwa Milei in Argentinien) mit marktradikalen und/oder interventionistisch-protektionistischen Politiken weltweit an Macht. Ferner verstärken die vielen global aufkochenden Konfliktherde, etwa der Ukraine-Russland-Krieg, die Situation im Nahen Osten oder Westafrika, aber auch Ressourcenkonflikte (um Energie oder seltene Rohstoffe) und die wachsende globale Ungleichheit das Gefühl einer „neuen globalen Unordnung“. Diese bricht mit der marktliberalen Weltordnung: Doch eine neue Ordnung hat sich noch nicht vollständig herausgebildet. Um mit der neuen Situation umzugehen, müssen sich politische Akteur:innen neue Strategien überlegen.

Geo-Ökonomie – eine Antwort auf die neuen Herausforderungen?

Diese neue krisenhafte, dynamische und instabile Weltordnung hat eine neuartige politisch-ökonomische Strategie, die sogenannte „geo-ökonomische Strategie“, hervorgebracht: Das Spezifische an der geo-ökonomischen Strategie ist ein Zusammenrücken von nationalen Sicherheitsbestrebungen bzw. Autonomie und der Wirtschaftspolitik. Dabei werden strategische Abhängigkeiten anerkannt, während der politische Fokus auf dem „Balancieren von Abhängigkeiten“ liegt. Zentrale Fragen sind dabei: „Welche Abhängigkeiten sind eine strategische Bedrohung?“ oder „Wie können diese Abhängigkeiten reduziert werden?“ Ziel von geo-ökonomischen Strategien ist es also, politische Macht auf andere Länder oder Regionen auszuüben, um eigene ökonomische Interessen zu realisieren und die Machtposition auf dem Weltmarkt zu sichern. In diesem Sinne ist die „geo-ökonomische Rationalität“ eine Meta-Strategie, die die Ausrichtung der unterschiedlichsten Politikfelder prägt.

Geo-ökonomische Strategie in der EU-Industriepolitik

Während die Europäische Union seit den 1980ern stark auf Weltmarktliberalisierung und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet war, finden seit 2010 geo-ökonomische Strategien Eingang in unterschiedliche Politikfelder. Wirft man einen analytischen Blick auf die EU-Industriepolitik, wird deutlich, dass aufstrebende Wirtschaftsmächte (besonders China) als Konkurrenz in der Verteilung von Profiten, gleichzeitig aber auch als Handelspartner wahrgenommen werden. Um angesichts der verstärkten Konkurrenz und der neuen protektionistischen Strategien der anderen Wirtschaftsmächte auf dem Weltmarkt zu bestehen, wird die EU-Industriepolitik schrittweise nach der geo-ökonomischen Rationalität ausgerichtet. Die fünf wesentlichen Faktoren, die diese Entwicklung getrieben haben, sind die aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indien, eine schwache Resilienz gegenüber Angebotsschocks entlang von internationalen Lieferketten durch strategische Abhängigkeiten, eine hohe Exportabhängigkeit, eine wachsende Bedeutung der EU-Ebene in politischen Prozessen sowie ein privilegierter Zugang des produktiven Kapitals zu industriepolitischen Institutionen.

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Die neue Rationalität spiegelte sich sodann in zwei zentralen Feldern wider:

  1. „Aktives Management des Weltmarkts“ – bzw. bi- (oder multi-)laterale Wirtschaftsdiplomatie etwa in regulatorischen Fragen (etwa bei technologischen, ökologischen oder sozialen Standards), um EU-Firmen den Zugang zu wachsenden Märkten zu erleichtern.
  2. Die Verfügbarkeit von Produktionsinputs (Rohstoffen, Energie und Intermediär-Gütern) sicherstellen, etwa durch das aktive Management von Lieferketten (durch Diversifizierung) oder Förderung von Innovation (in grünen Sektoren) und Substitution von spezifischen Inputfaktoren.

Mit dem Europäischen Grünen Deal (2019) dominiert die geo-ökonomische Rationalität die EU-Industriepolitik. Dies zeigt sich in der neuen Bedeutung von strategischer Autonomie in Ressourcen-fragen und digitaler Souveränität neben „wettbewerbsfähiger Nachhaltigkeit“. Die grüne Transformation erscheint dabei als ein Mittel, um einerseits die Klimakrise zu bewältigen, anderseits aber auch weniger abhängig von globalen Märkten zu sein. Im Feld der EU-Industriepolitik führt dies zu einer Vielzahl an zusätzlichen neuen Politiken, die darauf ausgerichtet sind, ökonomisch-strategische Abhängigkeiten vom Ausland zu reduzieren:

  • Gezielte politische Unterstützung strategischer Industrieprojekte, etwa durch Ausnahmen vom EU-Wettbewerbsrecht(siehe Important Projects of Common European Interest).
  • Sektorale Planung in strategischen Sektoren, um bis 2030 40 Prozent strategisch wichtiger Technologien und Güter in der EU zu produzieren.
  • Protektionistische Handelspolitik, etwa der CO2-Grenzausgleichsmechanismus, durch den CO2-Einfuhrzölle auf Güter in energieintensiven Sektoren erhoben werden).

Die geo-ökonomische Strategie Europas: Was bleibt?

Aufgrund der globalen wirtschaftlichen Trends und Entwicklungen setzte sich nach 2010 in der Europäischen Union langsam eine neue geo-ökonomische Rationalität durch, welche den Europäischen Grünen Deal und damit auch die EU-Industriepolitik stark prägt. Die wirtschafts- und industriepolitischen Instrumente dieser neuen Strategie brechen auch ein Stück weit die zuvor stark verankerte Liberalisierungsagenda der letzten Jahrzehnte. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Die geo-ökonomische Rationalität fokussiert im Besonderen auf den Bedürfnissen und Interessen des produktiven Kapitals in Europa und versucht die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Firmen zu steigern sowie deren Einbindung in globale Lieferketten und deren Zugang zu Märkten zu verbessern. Die Interessen der Arbeitnehmer:innen werden kaum berücksichtigt und haben keinen (privilegierten) Zugang zu den (neuen) politischen Institutionen. Diese einseitige Ausrichtung der EU-Industriepolitik sollte stärker thematisiert werden. Die kommende EU-Wahl stellt eine gute Gelegenheit dafür da.

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