Wie mobil sind Arbeitskräfte in Österreich?

18. Juli 2023

In der öffentlichen Debatte wird eine Erhöhung der Mobilität von arbeitslosen Personen als DIE Lösung für den regionalen Mismatch dargestellt. Erreicht werden soll diese durch erhöhten Druck auf Arbeitssuchende. Das greift zu kurz und wirft auch die Frage auf: Wie mobil sind Österreichs Arbeitskräfte? Die Daten deuten darauf hin, dass Mobilität keine Stellschraube ist, um Arbeitslosigkeit nachhaltig zu reduzieren, und die fehlende Vollbeschäftigungspolitik der Bundesregierung nicht ersetzen kann.

Mit den jüngsten arbeitsmarktpolitischen Zielvorgaben vom 29.6.2023 greift Minister Martin Kocher unter anderem erneut ein Lieblingsthema der Wirtschaftsvertretungen auf: überregionale Vermittlung (ÜRV). Begründet wird die ÜRV mit dem sogenannten „regionalen Mismatch“. Während in manchen Bundesländern nach Arbeitskräften gesucht wird, ist die Arbeitslosigkeit in anderen Bundesländern höher – größtenteils in Bundesländern, die temporär ihren Bedarf an Saisonarbeitskräften nicht decken können. Die Lösung, die – laut Anweisung von Bundesminister Kocher – forciert werden soll, ist eine Erhöhung der Mobilitätsbereitschaft der Arbeitslosen mittels Nutzung aller Möglichkeiten, die das restriktive ALVG ja auch tatsächlich zur Verfügung stellt: sprich einer zunehmenden Sanktionierung und stärkeren Drucks in der AMS-Beratung.

Was ist eine „überregionale Vermittlung“ und wann ist sie gesetzlich zumutbar?

Hinter der „überregionalen Vermittlung“ steckt die im österreichischen Arbeitslosenversicherungsgesetz (ALVG) vorgesehene Möglichkeit, Arbeitssuchende in ein anderes Bundesland zu vermitteln. Gemäß § 9 ALVG ist eine Beschäftigung zumutbar, wenn sie in angemessener Zeit erreichbar ist – das sind zwei Stunden für den Hin- und Rückweg bei einer Vollzeitbeschäftigung. Zumutbar ist eine Beschäftigung auch, wenn eine tägliche Rückkehr an den Wohnort nicht möglich ist, aber eine entsprechende Unterkunft am Arbeitsort zur Verfügung gestellt wird.

Wer einem solchen Vermittlungsvorschlag des AMS nicht Folge leistet, verliert für vier bis sechs Wochen den Arbeitslosengeldbezug. Die gesetzlichen Bestimmungen sehen nur in wenigen Fällen vor, dass eine überregionale Vermittlung nicht zumutbar ist. Zu beachten sind aber jedenfalls gesetzliche Betreuungspflichten, die dadurch nicht beeinträchtigt werden dürfen. Diese bestehen gegenüber Kindern, aber auch gegenüber Ehepartner:innen und eingetragenen Partner:innen.

Wie mobil sind Österreichs Arbeitskräfte

Doch tatsächlich weisen Österreichs Arbeitskräfte bereits eine hohe Mobilität auf. Einen Anhaltspunkt dafür geben die Daten über die sogenannten Statuswechsel in Beschäftigung: Das sind Wechsel im Sozialversicherungsregister von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung oder von Beschäftigung in eine andere Beschäftigung. Verknüpft man diese Wechsel mit den Regionen der Arbeitsorte bzw. der zuständigen regionalen Geschäftsstellen des AMS, so zeigt sich, dass die Österreicher:innen bereits eine hohe Arbeitsmobilität aufweisen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog
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Rund 13 Prozent der Wechsel in Beschäftigung finden in Österreich von einem Bundesland in ein anderes statt. Mit Ausnahme der Pandemiejahre 2020 bis 2022, in denen die Mobilität leicht gesunken ist, sind diese Werte über die Jahre auch konstant. Die Daten deuten zudem tendenziell auf eine höhere Mobilität der Menschen in der Ost-Region als in den westlichen Bundesländern hin.

Eine Erhebung zu den Pendeldistanzen der Arbeitnehmer:innen in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland zeigt jetzt schon eine große Mobilitätsbereitschaft der Menschen: In Niederösterreich legen Auspendler:innen durchschnittlich 33 km zurück, im Burgenland sogar 45 km (Entfernung Wohnort zu Arbeitsort). Zudem zeigen die Zahlen, dass die Zahl der Auspendler:innen aus Wien in die Ost-Region deutlich zunehmen: ein Plus von 24,3 Prozent (Vergleich 2014 mit 2019) auf mehr als 71.000 Menschen, die 2019 von Wien aus beruflichen Gründen nach NÖ oder ins Burgenland auspendelten.

Die überregionale Vermittlung in der Praxis

Tatsächlich sind die Erfolge der überregionalen Vermittlungsversuche des AMS überschaubar. Natürlich gibt es Good-Practice-Beispiele, insbesondere wenn die Vermittlung gut in einen Beratungsprozess eingebettet ist und freiwillig erfolgt. Aber die Erfahrung aus Pilotprojekten, die versucht haben, Wiener Arbeitssuchende in westliche Bundesländer zu vermitteln, waren nicht sonderlich positiv. Das liegt auch daran, dass die Betriebe „diese“ Arbeitssuchenden oft nicht haben wollten (beispielsweise aufgrund einer anderen Herkunft oder Sprachproblemen).

Die Menschen, die tatsächlich bereit sind, für die Arbeit ihren Lebensmittelpunkt zu verlegen, brauchen eine Unterstützung dabei, in der Region Fuß zu fassen (etwa bei der Organisation einer Kinderbetreuung, Arbeitsmöglichkeiten für Partner:innen, Suche nach einer guten Wohnung etc.). Hier werden künftig die Betriebe und Regionen eine viel aktivere Rolle einnehmen müssen, will man hier einen Schritt vorwärtskommen.

In vielen Fällen führen überregionale Vermittlungsvorschläge zu Sperren des Arbeitslosengeldes, wie selbst der stellvertretende AMS-Vorstand Johannes Kopf Anfang des Jahres 2020 einräumte. Die Zahl der Sanktionen bzw. Sperren ist in den letzten Jahren gestiegen. Mit dem aktuellen Erlass ist zu erwarten, dass diese Zahl noch deutlich in die Höhe gehen wird. Aber nicht weil die Arbeitssuchenden sich anders verhalten, sondern weil gezielt Druck ausgeübt werden soll, damit Menschen (vermeintlich rasch) wieder in Beschäftigung kommen.

Studien zeigen, dass Sanktionen und Druck nicht zu besseren Ergebnissen führen. Eine Studie von SORA kommt zu dem Schluss, dass ein fordernder und sanktionierender Beratungsstil bei den AMS-Berater:innen die Arbeitslosigkeit sogar verlängert und dass die Menschen – da sie seltener auf passenden Arbeitsplätzen landen und eher zu Konzessionen in Bezug auf die künftige Beschäftigung bereit sind – auch häufiger wieder arbeitslos sind. Mit dem zunehmenden Druck muss auch sozial- und gesundheitspolitisch sorgsam umgegangen werden, denn wenn schlechtere Jobs akzeptiert werden, erhöht das nicht unbedingt die Lebenszufriedenheit und befeuert psychische Krankheiten. Alles in allem nicht nur persönlich für die Menschen schlecht, sondern auch aus einer ökonomischen Perspektive negativ zu beurteilen.

Wie könnte es funktionieren?

Überregionale Vermittlung kann nur dann erfolgreich sein, wenn Unternehmen, die einen Fachkräftebedarf haben und gute Arbeitsplätze anbieten mit Menschen zusammengeführt werden, die die Kompetenzen für die Tätigkeit mitbringen und die von sich aus bereit sind, freiwillig dafür an einen anderen Ort zu übersiedeln. Die Arbeitsmarktpolitik sollte das unterstützen: einerseits mit guter Beratung bzw. Vermittlung, Mobilitätsbeihilfen, Informationen über Berufe bzw. Arbeitsmarktchancen und andererseits mit einer Koppelung an gewisse Qualitätskriterien bei den offenen Stellen bzw. Unternehmen hinsichtlich der Einhaltung von arbeits- und sozialrechtlichen Normen, einer entsprechenden Entlohnung und kostenlosen und zeitgemäßen Unterkünften.

Die Arbeitsmarktpolitik darf aber nicht das Vehikel für eine fehlgeleitete Politik sein. Eine überregionale Vermittlung, die auf Zwang und Druck setzt und die Menschen als „arbeitsunwillig“ abstempelt, wird nicht erfolgreich sein: Sie ist frustrierend für die Menschen und kann auch nicht zufriedenstellend für die Unternehmen sein. Es ist eine Politik, die darauf abzielt, die Verhandlungsmacht der Erwerbstätigen zu reduzieren, und Betriebe stützt, die es nicht schaffen, gute Arbeitsbedingungen bereitzustellen.

Zudem gilt: Eine Arbeitsmarktpolitik kann keine Vollbeschäftigungspolitik ersetzen, sondern nur unterstützen. Es bräuchte eine sozial und ökologisch sinnvolle Vollbeschäftigungspolitik für die Vielen (wie sie auch im § 29 Arbeitsmarktservicegesetz definiert ist), die sich möglichst an den Vermittlungswünschen der Arbeitssuchenden zu orientieren hat. Mit mehr Druck auf arbeitslose Personen befriedigt die Bundesregierung hingegen den Arbeitskräftebedarf von Unternehmen, denen es nicht gelingt, diesen mittels guter Beschäftigungsangebote zu decken.

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