„Man muss funktionieren, damit alles andere funktionieren kann“: Systemrelevant Beschäftigte in und nach der Pandemie

29. April 2025

Vor fünf Jahren trat der erste Lockdown zur Eindämmung des Corona-Virus in Kraft. Für einen Teil der Beschäftigten galt er allerdings nicht. Unter großen Belastungen mussten sie funktionieren, damit alles andere funktioniert. Unregelmäßige Arbeitszeiten dieser Beschäftigtengruppe haben sich seither verfestigt. Die Anerkennung für die Systemerhalter:innen war nur von kurzer Dauer und heute fühlen sie sich weniger vom politischen System repräsentiert als zuvor, wie eine neue Studie zeigt.

Wir erinnern uns nur ungern zurück: Vor fünf Jahren – am 16. März 2020 – trat im Zuge der Ausbreitung des Corona-Virus der erste landesweite Lockdown in Kraft. Die Angst vor einer Ansteckung ging einher mit der Unsicherheit, wie man sich und seine Angehörigen am besten schützen könne. Geschäfte, Lokale, Schulen, Freizeit- und Kultureinrichtungen wurden geschlossen, Versammlungen verboten und die Bevölkerung aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Ein verordneter Stillstand für alle.

Funktionieren, damit alles andere funktioniert

Für manche Beschäftigte lautete der Auftrag aber ganz anders, wie unsere neue Studie nun aufzeigt. Eine Pflegerin erzählt uns darin zum Beispiel: „Bei uns war das eher ein: ‚Wenn du nicht kommst, dann kommst du gar nicht mehr.‘“ Ein Essenslieferant erinnert sich: „Bei uns sind zwei ausgefallen, krank, die wurden gekündigt.“ Und ein Postbote fasst zusammen: „Man muss funktionieren, damit alles andere funktionieren kann.“ Der Aufforderung an alle, zu Hause zu bleiben, stand die Erwartung an manche entgegen, trotz hoher Ansteckungsgefahren weiterhin in ihre Arbeit zu kommen, um:

  • Menschen zu retten und zu pflegen,
  • Supermärkte und Apotheken offen zu halten,
  • Bestellungen auszuliefern,
  • Klein- und Schulkinder zu betreuen,
  • öffentliche Verkehrsmittel zu lenken,
  • kritische Infrastruktur und öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten,
  • all diese Arbeitsplätze weiter zu reinigen.

Schnell fand man damals einen Begriff für diese Beschäftigten: systemrelevant.

Bis heute gibt es keine einheitliche Liste, wer als systemrelevant gilt. Im Auftrag der Arbeiterkammer Wien identifizierten wir 2020 elf Berufsgruppen als „systemrelevant“, in der nun erschienenen Nachfolgestudie sind es 13. Es sind Berufe, die die Grundversorgung vor Ort auch während eines Lockdowns gewährleisten, meist im direkten Kontakt zu anderen Menschen. Darunter finden sich Supermarktangestellte, Pflegekräfte und Ärzt:innen, Beschäftigte in der Kinderbetreuung, IT-Fachkräfte, Servicetechniker:innen, Lieferdienste, Polizist:innen, Reinigungskräfte oder Müllentsorger:innen. In Summe sind 1,4 Millionen Menschen oder fast ein Drittel der Beschäftigten in Österreich in systemrelevanten Berufen tätig. 61 Prozent dieser Beschäftigten sind Frauen – in acht der dreizehn Berufe bzw. in den drei größten Berufen stellen Frauen die Mehrheit. Auch Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind in manchen Berufen deutlich häufiger präsent, z. B. in der Reinigung, in Fahr- und Lieferdiensten oder in der Altenpflege.

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Verfestigung unregelmäßiger Arbeitszeiten und Arbeit auf Abruf

Mit Befragungsdaten des Österreichischen Arbeitsklima Index und in persönlichen Interviews mit einer Gruppe von systemrelevant Beschäftigten haben wir deren Arbeitssituation der letzten fünf Jahre untersucht. Ein erster Befund: Während überlange Arbeitszeiten in den restlichen Berufen zurückgingen, sahen sich systemrelevant Beschäftigte während der Pandemie mit einem Anstieg ihrer Arbeitsstunden konfrontiert – um durchschnittlich sechs und bis zu 21 Stunden pro Woche. Ein Zusteller beschreibt seine Situation im ersten Lockdown: „Die ganze Welt hat online bestellt. Ich hatte vor der Pandemie meine fünf Überstunden pro Woche, plötzlich waren es 15 bis 20 Stunden pro Woche.“ Ein Altenpfleger ergänzt: „Es gab Leute bei uns, die haben zehn Nachtdienste hintereinander gehabt.“ Also wurden nicht nur Arbeitszeiten, sondern auch die Arbeitszeitregelungen aufgeweicht: Arbeiteten vor der Pandemie 15 Prozent der systemrelevant Beschäftigten zu unregelmäßigen Arbeitszeiten oder auf Abruf, stieg der Anteil im ersten Lockdown auf 24 Prozent und liegt nach wie vor um 8 Prozentpunkte höher als unter den restlichen Beschäftigten. Das „Einspringen“ hält angesichts vermehrter Abgänge und Krankenstände bis heute an.

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Hinzu kam die Ansteckungsgefahr mit einem gefährlichen Virus. Systemrelevant Beschäftigte fühlten sich am wenigsten geschützt vor dem COVID-19-Virus, jeder und jede Vierte berichtete 2020, dass sie täglich Angst hatten vor einer Ansteckung. „Wir sind dort hingekommen, wir haben uns angezogen, ich hab eine Haube aufgesetzt, dann ein Visier, ich hatte darunter noch eine Skibrille. Und wir haben wirklich nicht gewusst: Was ist das, was kriegen wir ab oder nicht?“, erinnert sich eine Pflegerin auf einer Intensivstation. Unsere Studie verdeutlicht die Notwendigkeit betrieblicher und gesetzlicher Regelungen für alle systemrelevant Beschäftigten, trotz oder gerade wegen einer fehlenden Definition. Während nämlich umfassende Schutzmaßnahmen wie z. B. Hygienekonzepte, Testungen, Schutzkleidung oder zumindest Masken im Gesundheitswesen schnell weit verbreitet waren, gab es diese in anderen (meist niedrig entlohnten) Berufen maximal lückenhaft. Daten aus anderen Ländern zeigen, dass systemrelevant Beschäftigte eine doppelt so hohe Übersterblichkeit hatten wie andere Berufe, besonders betroffen waren aber Beschäftigte im Transportwesen, Zusteller:innen und Reinigungskräfte.

Nicht nur die Angst vor einer Ansteckung führte zu einer emotionalen Überlastung, zumal systemrelevant Beschäftigte sich häufig im Privaten isolierten. Auch der Verlust von Patient:innen, die Auseinandersetzung mit aggressiver werdenden Kund:innen und Klient:innen sowie der Spagat zwischen Vorgaben und eigentlichen Aufgaben belasten systemrelevant Beschäftigte bis heute. Beschäftigte in Spitälern, in der öffentlichen Sicherheit, in der Kinderbetreuung und im Unterrichtssektor fühlen sich nach wie vor durch die emotionalen Herausforderungen ihrer Arbeit zu mehr als 40 Prozent, in der Altenpflege und Behindertenbetreuung sogar mehrheitlich stark belastet.

Bislang wenig beachtet wurde die innerbetriebliche Situation. Systemrelevant Beschäftigte berichten auffällig häufig, dass sich das Arbeitsklima in den letzten fünf Jahren rapide verschlechterte. Ein Zusteller erzählt etwa, dass „bei uns auch viele deshalb gegangen sind, weil denen einfach die Prämien gestrichen worden sind, obwohl die durchgehend mehr gehackelt haben.“ Ein Betriebsrat in einem Altenheim ergänzt: „Wennʼs dann Zeitausgleich gehabt haben, dann hatʼs einen Tag vorher geheißen, es ist nun doch gestrichen. Da hatʼs kein Danke gegeben oder irgendwas.“ Diese Erzählungen können wir durch Daten untermauern: Besonders stark verschlechtert hat sich die Einschätzung der innerbetrieblichen Situation unter Beschäftigten in der medizinischen Assistenz (-16 Prozentpunkte), unter Kindergartenpädagog:innen (-14 Prozentpunkte) und Lehrer:innen (-12 Prozentpunkte) sowie Beschäftigten in Handwerksberufen (-9 Prozentpunkte). „Systemrelevant“ hieß für manche Arbeitgeber:innen offenbar: „Du musst ja eh.

Anerkennung für die meisten nur für kurze Dauer

Damit stellt sich unweigerlich die Frage, wie systemrelevant Beschäftigte für ihren Einsatz entlohnt werden. Der mittlere Monatslohn lag 2022 bei 2.850 Euro, um rund 400 Euro niedriger als in anderen Beschäftigtengruppen. In neun der dreizehn systemrelevanten Berufe lag das Einkommen über diesem Durchschnitt. Nur vier Berufe verdienten unterdurchschnittlich – Altenpflege und Behindertenbetreuung, Kinderbetreuung, Supermarktbeschäftigte und Reinigungskräfte. Die hohe Teilzeitquote in diesen Berufen ist übrigens nicht verantwortlich für die Einkommensunterschiede. Vielmehr gilt: Je höher der Frauenanteil in einem systemrelevanten Beruf, desto niedriger bereits der Stundenlohn. Abgefedert wurde dies durch die gesellschaftliche Anerkennung. Immerhin empfanden 41 Prozent in den Lockdowns eine gestiegene Wertschätzung ihrer Arbeit. Unsere Studie zeigt aber auch: Diese Wertschätzung war nur von kurzer Dauer und innerbetrieblich nie wirklich vorhanden.

Mag zwar der Begriff „Systemrelevanz“ suggerieren, dass die dreizehn Berufsgruppen gleichermaßen von den Folgen der Pandemie betroffen waren – die Realität sieht anders aus. Am Ende zeigen sich deutliche Klassenunterschiede: Beschäftigte in Berufen mit niedrigem sozioökonomischem Status – d. h. niedrigere Bildungsabschlüsse, berufliche Stellungen und Einkommen – wie z. B. Reinigungskräfte, Berufsfahrer:innen, Kassierer:innen, sind bis heute doppelt so häufig von prekären Beschäftigungsverhältnissen und geringer gesellschaftlicher Wertschätzung betroffen wie ihre systemrelevanten Kolleg:innen mit höchstem Status, also Ärzt:innen oder IT-Fachkräfte. Gesellschaftliche Anerkennung war und ist sowohl vor, in als auch nach der Pandemie eine Frage der Klassenzugehörigkeit und nicht der Systemrelevanz.

Mangelnde Wertschätzung und fehlende politische Repräsentation

Diese Klassenunterschiede werden zunächst im Betrieb spürbar, etwa wenn eine Pflegerin erzählt: „Was nicht gut war, war das Von-oben-Herab. Wir haben uns alle auch ausgenutzt gefühlt. Und wie mit uns umgegangen wurde – man hätte ja auch fragen können, wer möchte aushelfen gehen, weil es hätten sich immer Freiwillige gefunden.“ Eine Auswertung der Daten des letzten Demokratiemonitors zeigt: Pfleger:innen, Reinigungskräfte und Berufsfahrer:innen erleben heute nur mehr zu 25 Prozent, dass ihre Arbeit von der Gesellschaft wertgeschätzt wird. Unter Elementarpädagog:innen und Beschäftigten in der Energie- und Wasserversorgung sind es 63 Prozent, unter IT-Fachkräften, Lehrer:innen, Apotheker:innen und Ärzt:innen 79 Prozent. Diese Unterschiede in der gesellschaftlichen Wertschätzung gehen einher mit realen Vor- und Nachteilen in der Arbeit. Dass etwa das Arbeitsrecht nicht eingehalten wird, ist bis heute für ein Viertel der systemrelevant Beschäftigten normal, besonders aber in Berufen mit niedrigem Status. Die Unverzichtbarkeit ihrer Arbeit führt paradoxerweise dazu, dass die Anliegen von zumindest manchen systemrelevant Beschäftigten verzichtbar erscheinen und demokratisch festgelegte Regelungen und Rechte für sie nicht gelten.


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Diese Klassenunterschiede zeigen sich zuletzt auch in der Frage der politischen Repräsentation. Während sich 44 Prozent der restlichen Beschäftigten im Parlament gut vertreten sehen, gilt dies nur für 32 Prozent der systemrelevant Beschäftigten. Für systemrelevante Berufe gab es z. B. wiederholte Versprechungen der Politik, die Löhne zu erhöhen. Zudem wurden bessere Arbeitszeitregelungen und Arbeitsbedingungen in Aussicht gestellt. Real gab es einmalige Bonuszahlungen, nachhaltige Verbesserungen blieben aber aus. In Summe beließ es der Gesetzgeber damit bei Ankündigungen auf Social Media oder kurzfristigen Maßnahmen, nach wie vor fehlen echte Lösungen, die den strukturellen Problemen in systemrelevanten Berufen begegnen.

Politisch ändern können das systemrelevant Beschäftigte seltener: Viele von ihnen, vor allem aus unteren sozialen Klassen, sind aufgrund ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft vom Wahlrecht und damit von der politisch wirksamsten Form der Mitbestimmung ausgeschlossen. Aber auch innerhalb des politischen Systems fühlen sich viele nicht mehr vertreten. 43 Prozent der systemrelevant Beschäftigten denken, dass sich an ihren Lebensumständen nichts ändert, egal welche Partei in der Regierung ist.

Am Ende verweisen diese Zahlen auf massive und nachhaltige Enttäuschungen unter systemrelevant Beschäftigten. Schon das Klatschen auf Balkonen zu Beginn der Pandemie wurde nicht als echte Wertschätzung empfunden: „Ich habʼs nur wahrgenommen, weilʼs ständig in den Medien wiederholt worden ist“, merkte ein Rettungsfahrer an. Die Beschäftigten selbst erlebten ihre Systemrelevanz vielmehr als „Zwangsverpflichtung“. Der Begriff „Systemrelevanz“ wird von ihnen vor allem als „Marketinggag“ aufgefasst. Diesem stehen die eigenen Erfahrungen gegenüber, die sogenannt „systemrelevant“ Beschäftigte bis heute in ihrer Arbeit machen. „Keine Entschuldigung bis heute“, warf eine Pflegerin am Ende noch ein.

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