ILO-Über­einkommen 190: Ein Meilen­stein für den Schutz vor Gewalt und Beläs­tigung in der Arbeits­welt

02. Juni 2025

Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sind keine Einzelfälle – sie sind strukturelle Probleme. Mit der Ratifizierung des ILO-Übereinkommens Nr. 190 verpflichtet sich Österreich erstmals völkerrechtlich, für sichere und respektvolle Arbeitsbedingungen zu sorgen. Doch der Verweis auf „keinen Anpassungsbedarf“ im nationalen Recht wirft Fragen auf. Was fehlt? Und was muss jetzt passieren?

Am 11. September 2024 hat Österreich das Übereinkommen Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert, das sich dem Kampf gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt widmet. Es ist das erste international verbindliche Instrument, das explizit ein Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung anerkennt. Doch obwohl die Ratifizierung ein wichtiger politischer Akt ist, bleibt die eigentliche Herausforderung: die Umsetzung in der Praxis. Die österreichische Bundesregierung sieht laut Erläuternden Bemerkungen „keinen Anpassungsbedarf“. Ein Befund, der bei näherem Hinsehen mehr Fragen als Antworten aufwirft.

Ein langer Weg bis zur Ratifizierung

Das Übereinkommen Nr. 190 wurde im Juni 2019 auf der 108. Internationalen Arbeitskonferenz verabschiedet. Nach jahrzehntelangem gewerkschaftlichem Engagement entstand so endlich ein völkerrechtlich verbindlicher Rahmen zur Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. 2024 folgte Österreich 44 anderen Staaten und ratifizierte das Übereinkommen, das ab 11. September 2025 in Kraft tritt. Begleitend wurde die (unverbindliche) Empfehlung Nr. 206 verabschiedet, die detaillierte Umsetzungshilfen bietet.

Das Problem: Gewalt am Arbeitsplatz ist weit verbreitet

In der Theorie genießt Österreich hohe arbeitsrechtliche Schutzstandards. In der Praxis hingegen ist Gewalt am Arbeitsplatz Alltag: Laut Statistik waren bereits jede dritte Frau und jeder fünfte Mann in Österreich von Belästigung oder Gewalt betroffen. Ein Spezialmodul der Arbeitskräfteerhebung 2020 nennt über 300.000 Menschen, die aktuell davon betroffen sind. ESENER-Umfragen der EU-Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zeigen: Österreichische Betriebe sind unzureichend vorbereitet. Zwei Drittel der Unternehmen haben keine Verfahren zum Umgang mit Mobbing oder Belästigung.

Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Trotz dieser Faktenlage erklärte die Regierung, dass keine gesetzliche Anpassung notwendig sei. Dies ist erstaunlich, denn weder das Arbeitsvertragsrecht noch das Gleichbehandlungsrecht verpflichten Arbeitgeber zur Prävention. Zwar existieren Generalklauseln wie die Fürsorgepflicht (§ 1157 ABGB, § 18 AngG) oder das Arbeitnehmer:innenschutzgesetz (ASchG), doch fehlt es oft an konkretisierbaren oder durchsetzbaren Pflichten.

ILO 190 bringt neue Verpflichtungen – und Chancen

Das Übereinkommen verpflichtet Staaten, Arbeitgeber zur Umsetzung präventiver Maßnahmen zu verpflichten. Dazu zählen:

  • Arbeitsplatzpolitiken gegen Gewalt und Belästigung
  • Interne Leitlinien und Beschwerdemechanismen
  • Schulungen für Führungskräfte und Belegschaft
  • Schutz von Betroffenen und Hinweisgeber:innen

Diese Pflichten müssen in Betriebsvereinbarungen (§ 96, § 97 ArbVG) verankert werden. Problematisch: Nur wenige davon sind erzwingbar. Eine gesetzliche Erweiterung der Mitbestimmungsrechte wäre hier notwendig.

Vertiefung: Warum ILO 190 mehr ist als ein Symbol

Das ILO-Übereinkommen 190 markiert nicht nur eine politische Willensbekundung, sondern einen Paradigmenwechsel: Erstmals wird Gewalt in der Arbeitswelt als systemisches Problem und nicht bloß als individuelles Fehlverhalten anerkannt. Diese Perspektive rückt auch strukturelle Machtverhältnisse und geschlechtsspezifische Gewalt in den Fokus – etwa in Form von sexueller Belästigung, Abwertung oder subtiler Ausgrenzung. Gerade in patriarchal geprägten Betrieben oder Branchen sind solche Dynamiken oft tief verankert und normalisiert.

Das Übereinkommen stellt zudem klar: Gewalt in der Arbeitswelt ist nicht auf den physischen Arbeitsplatz beschränkt. Sie kann sich auf dem Weg zur Arbeit, in betrieblichen Unterkünften oder über digitale Kommunikationsmittel (z. B. E-Mails, Chats, soziale Netzwerke) manifestieren. Damit reagiert ILO 190 auf die modernen Realitäten der Arbeitswelt, die durch Homeoffice, prekäre Beschäftigung und Digitalisierung stark verändert wurde.

Ein Blick auf betroffene Gruppen: Wer braucht besonderen Schutz?

Das Übereinkommen betont explizit die Situation vulnerabler Gruppen: Frauen, Migrant:innen, Menschen mit Behinderungen, LGBTQI+-Personen und prekär Beschäftigte. Studien zeigen, dass insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund häufiger Mehrfachdiskriminierungen am Arbeitsplatz erfahren – etwa wenn sie in schlecht geschützten Sektoren wie Reinigung, Pflege oder Gastronomie tätig sind. Auch Lehrlinge, Praktikant:innen oder freie Dienstnehmer:innen befinden sich oft in besonders abhängigen Beschäftigungsverhältnissen – sie erleben Übergriffe häufiger, haben aber geringeren Zugang zu Beschwerdemechanismen oder Rechtsberatung.

Arbeitsrechtliche Leerstelle: das Fehlen klarer Präventionspflichten

In der aktuellen Rechtslage finden sich kaum explizite Präventionsverpflichtungen. Zwar existieren Abhilfeansprüche im Gleichbehandlungsrecht – aber diese setzen einen Verstoß voraus. Präventive Strategien wie verpflichtende Risikoanalysen, psychosoziale Gefährdungsbeurteilungen oder Schulungsmaßnahmen sind selten vorgeschrieben. Eine rechtliche Verankerung dieser Elemente würde nicht nur den Schutz stärken, sondern auch präventiv wirken. In Deutschland wurde mit § 14 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungs­gesetz) ein konkretes Leistungsverweigerungsrecht für Betroffene verankert. Österreich könnte diesem Beispiel folgen – etwa durch eine Anpassung des GlBG oder eine eigene Regelung im AVRAG.

Recht auf sichere Arbeit: zwischen Theorie und Realität

Artikel 10 des Übereinkommens garantiert das Recht, sich von gefährlichen Arbeitssituationen zurückzuziehen – ohne Vergeltungsmaßnahmen befürchten zu müssen. In Österreich gibt es mit § 8 AVRAG zwar eine entsprechende Regelung, doch ist sie unkonkret und in der Praxis schwer anzuwenden. Betroffene müssen nachweisen, dass eine „unmittelbare und ernste Gefahr“ bestand – eine Hürde, die viele nicht nehmen können oder wollen. Eine klarere gesetzliche Regelung mit definierten Schutzmechanismen wäre hier notwendig.

Rechtsdurchsetzung: ein blinder Fleck

Ein besonders heikler Punkt ist die Rechtsdurchsetzung. So wurde einer von sexueller Belästigung betroffenen Arbeitnehmerin laut OGH kein immaterieller Schadenersatz zugesprochen, obwohl sie berechtigt aus dem Arbeitsverhältnis austrat. Das widerspricht sowohl der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie als auch der EU-Grundrechtecharta. Um effektiven Rechtsschutz sicherzustellen, braucht es klarere gesetzliche Regelungen, ein Verbandsklagerecht sowie niedrigschwellige Melde- und Beschwerdemechanismen.

Besonders betroffene Branchen: Gastronomie als Negativbeispiel

Die Empfehlung Nr. 206 nennt Branchen mit erhöhtem Risiko: Gesundheitswesen, Gastgewerbe, Notfalldienste, Bildung. Gerade in der Gastronomie ist sexuelle Belästigung ein gravierendes Problem. Eine gemeinsame Initiative von AK Wien, Wirtschaftskammer, vida und Gleichbehandlungsanwaltschaft hat ein Schutzkonzept für Gastronom:innen entwickelt – ein Best-Practice-Beispiel, das österreichweit Schule machen sollte.

Sensibilisierung und Schulung als Pflicht

Artikel 11 verpflichtet Staaten dazu, Schulungsprogramme und Informationsmaterial bereitzustellen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen sollen ihre Rechte und Pflichten kennen – und Verstöße frühzeitig erkennen und melden können. Auch hier ist bislang wenig passiert. Es braucht flächendeckende Kampagnen, verpflichtende Schulungen und ein Umdenken in der Unternehmenskultur.

Gleichstellung, Daten und Monitoring

Das Übereinkommen fordert datenbasierte Politik: Es müssen Statistiken über Vorkommen von Gewalt und Belästigung, gegliedert nach Branche, Geschlecht und vulnerablen Gruppen, erhoben werden. Solche Daten fehlen in Österreich bisher weitgehend. Auch Gleichstellungsmaßnahmen müssten arbeitsverfassungsrechtlich stärker abgesichert werden.

Der nächste Schritt: Was der Gesetzgeber tun sollte

Damit die Ratifizierung keine leere Geste bleibt, muss der Gesetzgeber aktiv werden. Folgende Punkte wären zentrale nächste Schritte:

  • Einführung einer eigenen „Anti-Gewalt-Betriebsvereinbarung“ als erzwingbarer Tatbestand im ArbVG
  • Verpflichtende Schulungen zu Gewaltprävention für Führungskräfte in bestimmten Branchen
  • Erweiterung des ASchG um eine verpflichtende Risikoanalyse zu Gewaltbelastungen
  • Evaluierung bestehender Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsrichtlinien hinsichtlich der ILO-Vorgaben
  • Rechtsanspruch auf finanzielle Entschädigung bei struktureller Untätigkeit des Arbeitgebers


© A&W Blog


Fazit: Umsetzung statt Lippenbekenntnisse

Mit 11. September 2025 tritt das Übereinkommen in Österreich in Kraft. 2026 beginnt die erste ILO-Berichtspflicht. Jetzt ist die Zeit für konkrete politische Schritte. Österreich sollte aus der Geschichte lernen: Schon das Gleichbehandlungsgesetz 1979 entstand durch internationalen Druck. Heute besteht die Chance, proaktiv zu handeln. Gewaltfreie Arbeit ist ein Menschenrecht. Es liegt an uns, dieses Recht umzusetzen.

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