Wie lässt sich Widerstand gegen hegemoniale Strukturen denken – und organisieren – in einer Zeit wachsender Ungleichheit, autoritärer Tendenzen und gesellschaftlicher Spaltung? Antonio Gramsci liefert Antworten. Sein Denken über Hegemonie, Sprache, Bildung und Solidarität ist aktueller denn je. Dieser Beitrag verbindet Gramscis Theorie mit heutigen Herausforderungen und zeigt, warum die Arbeiterkammer Wien mit dem Gramsci-Preis ein starkes Zeichen für kritische Wissenschaft, Demokratie und soziale Gerechtigkeit setzt.
Antonio Gramsci (1891–1937) war ein italienischer marxistischer Philosoph, Politiker und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista d’Italia, PCI). 1926 wurde er vom faschistischen Regime Mussolinis verhaftet, um – wie der Staatsanwalt später im Prozess formulierte – „dieses Gehirn für zwanzig Jahre am Denken zu hindern“. In der Haft verfasste er unter schwersten Bedingungen seine berühmten „Gefängnishefte“ (Quaderni del carcere), in denen er eine umfassende Gesellschaftstheorie entwickelte, die bis heute weltweit diskutiert wird.
Zwischen 1929 und 1935, während seiner Haft, schrieb Antonio Gramsci in insgesamt 33 Schulheften fast 3.000 Seiten Notizen und Reflexionen. Diese Schriften sind keine klassischen Bücher, sondern gedankliche Skizzen, theoretische Entwürfe und fragmentarische Analysen – verfasst unter Zensurbedingungen und in stark eingeschränkter gesundheitlicher Verfassung. In ihnen entwickelte er zentrale Konzepte wie kulturelle Hegemonie, organische Intellektuelle, die Rolle der Zivilgesellschaft und seine Philosophie der Praxis – ein Denken, das Theorie und Handlung untrennbar miteinander verbindet.
Gramscis zentrale Beiträge für die Unterdrückten:
- Er zeigt, dass Unterdrückung nicht nur durch Gewalt funktioniert, sondern durch Kultur, Bildung und Sprache.
- Er legt offen, wie man sich dieser kulturellen Hegemonie widersetzen kann – durch Sprache, durch Organisation, durch eigene Institutionen.
- Er betont die Rolle von organischen Intellektuellen – also Menschen, die aus der Arbeiter:innenklasse kommen und ihr helfen, bewusst und handlungsfähig zu werden.
- Und er sagt: Veränderung ist möglich – aber sie muss organisiert, gedacht und kulturell verankert sein.
Hegemonie: Die unsichtbare Macht der Zustimmung
Gramscis zentrale These: Herrschaft funktioniert nicht nur durch Zwang (Polizei, Justiz, Militär), sondern vor allem durch Konsens. Über Schule, Religion, Medien und Kultur wird eine „kulturelle Hegemonie“ aufgebaut, in der die Perspektiven der herrschenden Klasse als „gesunder Menschenverstand“ erscheinen. Diese scheinbar selbstverständlichen Deutungen prägen unser Denken – und machen Widerstand dagegen schwerer.
In einer Zeit, in der autoritäre Ideologien erstarken, soziale Ungleichheiten wachsen und rechte Parteien europaweit und auf der ganzen Welt Zulauf erhalten, ist Gramscis Analyse aktueller denn je. Die Angriffe auf migrantische Rechte, die Entrechtung von Arbeiter:innen, der Backlash gegen feministische Errungenschaften – all das sind Symptome einer hegemonialen Krise, wie sie Gramsci beschrieb.
Das Interregnum: Krise als Gefahr und Möglichkeit
Gramsci beschreibt unsere Zeit mit einem eindringlichen Begriff: „Interregnum“. Es ist die Phase, in der die alte Ordnung stirbt, aber die neue noch nicht geboren ist. In dieser Zwischenzeit, so schreibt er, „treten die verschiedenartigsten morbiden Erscheinungen auf“ (Gefängnishefte, § 34). Genau das beobachten wir heute weltweit: die Erosion demokratischer Institutionen, die Normalisierung von Rassismus und Sexismus, die Ausweitung von Überwachung und autoritären Regimen.
Doch Krise bedeutet für Gramsci auch Möglichkeit: die Chance, neue gesellschaftliche Mehrheiten, neue Formen der Solidarität und neue Gegenhegemonien zu entwickeln. Dafür bedarf es für Gramsci immer auch einer neuen Sprache. Denn für Gramsci ist Sprache nie neutral. Sie transportiert Weltbilder, Werte, Machtverhältnisse. Die herrschende Sprache erzählt die Geschichte der Sieger – und produziert Zustimmung. Wer eine gerechtere Gesellschaft will, muss auch eine andere Sprache finden. Literatur, Theater, politische Bildung, migrantische Erzählungen – sie alle sind Orte, an denen neue, widerständige Sprachen entstehen können. Sprache wird so zum Werkzeug der Befreiung.
Bildung und die Rolle der organischen Intellektuellen
Im Sinne dieser Selbstermächtigung fordert Gramsci eine demokratische Bildung, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern das Denken und die politische Mündigkeit aller Menschen fördert. Er prägte das Konzept der „organischen Intellektuellen“: Menschen aus der Arbeiter:innenklasse oder anderen unterdrückten Gruppen, die aus ihrer Erfahrung heraus gesellschaftliche Kritik formulieren und zur Veränderung beitragen. Diese Intellektuellen wirken nicht in Elfenbeintürmen, sondern in Gewerkschaften, Vereinen, Kulturinitiativen und sozialen Bewegungen.
Dabei ist eine der meistzitierten Phrasen Gramscis: „Alle Menschen sind Intellektuelle.“ Er argumentiert, dass zwar nicht alle Menschen eine intellektuelle gesellschaftliche Funktion haben, aber dass im Prinzip alle Intellektuelle sind, weil sie denken – beruflich oder nicht. Daran schließt auch der von der AK Wien gestiftete Gramsci-Preis an, derdie Beforschung genau jener Aspekte des gegenhegemonialen Denkens auszeichnet. Gerade im Kontext der heutigen, migrationsgeprägten und höchst diversen Gesellschaften sind in der Arbeiter:innenschaft neue Stimmen und neues Denken zu fördern, um den heutigen Lebens- und Arbeitsrealitäten gerecht zu werden und neue Formen der Organisation sichtbar zu machen.
Gegenmacht durch Zivilgesellschaft: Gramscis Erbe für heute
Gramscis Theorie bietet einen konkreten Fahrplan für emanzipatorische Politik: Durch Streiks, Proteste, Kulturarbeit, politische Bildung und Organisation in der Zivilgesellschaft kann eine neue Hegemonie entstehen – nicht durch Dominanz, sondern durch die gemeinsame Vision einer gerechten Welt. Gerade Gewerkschaften, Bildungsinitiativen und migrantische Selbstorganisationen sind dafür zentrale Akteur:innen. Um Wirkung und Wirkmächtigkeit zu erreichen, sind Allianzen zwischen (kollektiven) widerständigen Akteur:innen zentral.
Der Antonio Gramsci Dissertationspreis: Wissenschaft als Werkzeug gesellschaftlicher Veränderung
Im Geiste dieses Denkens wurde 2018 von der Arbeiterkammer Wien in Kooperation mit der Universität Bielefeld der Antonio Gramsci Dissertationspreis ins Leben gerufen. Der Preis zeichnet jährlich Dissertationen aus, die migrationsgesellschaftliche Verhältnisse im Kontext von Arbeit, sozialer Ungleichheit, Bildung und Subjektivität als Machtverhältnisse untersuchen. Besonders gewürdigt werden Arbeiten, die eine materialistische und herrschaftskritische Perspektive einnehmen – und damit direkt an Gramscis Theorie anschließen.
Ein herausragendes Beispiel ist die Dissertation von Saskia Kroonenberg: „The Mother Tongue as Immanent Grammar; or, Where Read Gramsci Today?“ Sie untersucht Sprache als politisches Instrument und fragt, was „Muttersprache“ in einer vielsprachigen, postmigrantischen Gesellschaft bedeutet. Aufbauend auf Gramscis Sprachdenken analysiert Kroonenberg literarische Stimmen, die neue Ausdrucksformen jenseits nationaler Normen entwickeln – Ausdrucksformen, die Zugehörigkeit, Widerstand und Vielstimmigkeit verkörpern.
Kroonenbergs innovativer Begriff der „immanenten Grammatik“ beschreibt eine Sprachform, die sich nicht an nationalen oder institutionellen Normen orientiert, sondern aus dem gelebten Alltag entsteht – aus Migration, Vermischung, Marginalisierung und Selbstermächtigung. Ihre Dissertation ist ein Beitrag zur postkolonialen Kritik und zur Frage, wie Sprache, Zugehörigkeit und Macht in Europa neu gedacht werden können. Sie verbindet Literaturwissenschaft, politische Theorie und Migrationsforschung mit Gramscis Sprachdenken – und zeigt auf, wie Sprache nicht nur als Mittel der Kommunikation, sondern auch als Terrain politischer Auseinandersetzung verstanden werden muss.
Warum der Gramsci-Preis politisch notwendig ist
Der Antonio Gramsci Preis ist nicht nur eine Auszeichnung, sondern ein politisches Statement. In einer Zeit zunehmender Entpolitisierung der Wissenschaft und wachsender gesellschaftlicher Polarisierung setzt er ein klares Zeichen: Wissenschaft muss kritisch, engagiert und gesellschaftlich wirksam sein. Er erinnert daran, dass Denken nie neutral ist – und dass Forschung, die bestehende Machtverhältnisse analysiert und Alternativen formuliert, ein zentraler Bestandteil demokratischer Kultur ist.
Die Arbeiterkammer Wien verleiht den Preis mit dem Ziel, jene Stimmen sichtbar zu machen, die zu oft an den Rändern bleiben: junge Wissenschaftler:innen, kritische Perspektiven, migrantisierte, d. h. „als fremd markierte“ Erfahrungen, feministische Analysen. Gerade in einem politischen Klima, in dem autoritäre Tendenzen, Rassismus und soziale Spaltung zunehmen, wird die Förderung von kritischem Denken zu einer aktiven Verteidigung von Demokratie, Solidarität und Gerechtigkeit.
Schlussbemerkung: Denken heißt handeln – mit Gramsci gegen Ungleichheit
Gramsci hat gezeigt, dass jede Macht auf Zustimmung angewiesen ist – und dass diese Zustimmung durch Sprache, Bildung und Kultur erzeugt wird. Wer diese Mechanismen erkennt, kann sie durchbrechen. Der Antonio Gramsci Dissertationspreis würdigt Arbeiten, die genau das tun: kritisch, mutig, solidarisch. In einer Zeit der Spaltung, Entdemokratisierung und sozialen Verunsicherung braucht es mehr denn je ein Denken, das nicht aufgibt, sondern organisiert, verbindet und Hoffnung schafft.
Oder wie Gramsci schrieb: „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“