Warum Geld umverteilen allein keinen Systemwandel ermöglicht - das Beispiel Brasilien

04. Januar 2017

Die brasilianischen Sozialstaatsreformen der letzten Jahre zeigen die Grenzen einer Politik der Umverteilung von Geld: Zwar kann Hunger und extreme Armut bekämpft und der Massenkonsum der Armen gefördert werden, aber ein Kultur- und Systemwandel ist ohne neue Institutionen und Infrastrukturen nicht zu verwirklichen.

In kapitalistischen Marktgesellschaften geht es bei der Befriedigung von Bedürfnissen scheinbar vor allem um eines: den Zugang zu Geld. Aus diesem Grund forciert die neoliberal dominierte Weltbank seit langem sogenannte Conditional Cash Transfers – an Bedingungen geknüpfte Geldleistungen – als effiziente Form der Armutsbekämpfung. In Brasilien wurde dieses Modell adaptiert als Familienbeihilfeprogramm Bolsa Familia umgesetzt. Über 13 Millionen Familien werden unterstützt. Für die Armen ist dieses Grundeinkommen bedingungslos, wenn davon abgesehen wird, dass die Kinder in die Schule zu gehen haben.

Bolsa Familia und viele andere Programme haben dazu beigetragen, dass viele Millionen ehemals Marginalisierte nun – wenn auch in bescheidenem Ausmaß – am Massenkonsum teilhaben können. Und anlässlich der UN-Vollversammlung 2014 konnte die damalige Präsidentin Rousseff basierend auf einem Update der FAO World Hunger Map der Weltgemeinschaft mitteilen, dass Brasilien erstmals in seiner Geschichte den Hunger abgeschafft hatte. Ein riesiger zivilisatorischer Fortschritt.

Geldleistungen allein ….

Heute sehen wir jedoch, wie prekär die Hoffnung ist, mit staatlichen Geldtransfers allein ein gutes Leben führen zu können. Zwar gelang es der brasilianischen Sozialpolitik bis zur Wirtschaftskrise der letzten Jahre, aus Armen KonsumentInnen zu machen. Gescheitert ist vorerst aber der Versuch, die tiefsitzenden Strukturen der brasilianischen Sklavenhaltergesellschaft zu durchbrechen. Arme in Einkaufszentren und am Flughafen waren für viele Bessergestellte kein sozialer Fortschritt, sondern vor allem eine Gefährdung des eigenen guten Lebens. Der Aufstieg der Armen legte die Unzulänglichkeiten einer Gesellschaftsstruktur offen, die dem Ideal des Massenkonsums genauso verhaftet ist wie tiefsitzendem Rassismus und Herrenmentalität.

… ermöglichen kein gutes Leben

Das war der Grund für die Explosion sozialer und politischer Konflikte in den letzten Jahren. Die einen wollten endlich passende Institutionen und Infrastrukturen, damit sie mit ihrem Geld und ihrer höheren Bildung auch einen höheren Lebensstandard genießen können. Die anderen – insbesondere gute Teile der Mittelschicht – vermuteten, dass der geförderte Zugang der Armen zur Universität, aber auch der starke Anstieg des Autoverkehrs nicht zu einem besseren Leben für alle, sondern zur Konkurrenz um knapper werdende Jobs und Güter führen werde: härtere Bewerbungsverfahren einerseits, ermüdende tägliche Staus andererseits.

Im Rückblick ist es tragisch, dass der Auslöser der Proteste 2013, die die Regierung der Arbeiterpartei drei Jahre später zu Fall bringen sollte, die Forderung nach Freifahrt bei öffentlichen Verkehrsmitteln war; einer Forderung, die das Statussymbol eines nicht verallgemeinerbaren Lebensstils problematisierte – das Auto. Als in den vergangenen Jahren die gestiegene Kaufkraft genutzt wurde, um endlich ebenfalls mit einem eigenen Auto unabhängig zu sein, verschärfte dies die ökologische Krise und machte vor allem Brasiliens Megastädte noch unwirtlicher.

„Freifahrt für alle“ ist die Utopie einer nachhaltigen Form städtischer Mobilität, die nicht nur den Kaufkräftigen, sondern allen erlaubt, in der Stadt mobil zu sein. Eigene Busspuren, Ausbau von Radwegen und eine Stadt der kurzen Wege mit Platz für Naherholung und Nahversorgung sind die Eckpfeiler einer so zu gestaltenden sozialökologischen Infrastruktur, die potentiell das Erbe einer Sklavenhaltergesellschaft überwinden und Lebensqualität für alle gewährleisten könnte: Nicht durch Autos für alle, wohl aber durch öffentliche Verkehrsmittel; nicht durch Privatschulen und Privatvorsorge, sondern durch ein gutes öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem.

Doch leider waren die Erfolge in Brasilien bezogen auf den Aufbau neuer Infrastrukturen deutlich bescheidener als in Bezug auf monetäre Umverteilung.

Linke Zögerlichkeit nicht nur in Brasilien

Nicht nur in Brasilien ist die Linke oftmals sehr zögerlich, die von ihr gewünschten Institutionen und Infrastrukturen eine wohlstandsorientierte Politik aufzubauen. Das hat mehrere Gründe. Erstens gibt es kein objektiv definiertes gutes Leben, sondern dies ist immer kontextabhängig und politisch zu verhandeln. Nicht zuletzt deshalb gibt es in den letzten Jahren vermehrt Debatten darüber (so findet zB kommenden Februar wieder ein großer „Gutes Leben für alle!“-Kongress in Wien statt; 2013/14 gab es eine Veranstaltungsreihe, die im Kurswechsel dokumentiert wurde).

Zweitens sind allzu viele ihrer RepräsentantInnen den vorherrschenden Kulturmustern verhaftet. Manche linke PolitikerInnen wollen nichts anderes als an ebendieser elitären und ausgrenzenden Kultur teilzuhaben – im Notfall auch mit Mitteln der Korruption.

Drittens schrecken Progressive allzu oft davor zurück, ihre Vorstellungen von einem guten Leben für alle auch gegen Widerstand beharrender, gegenwärtig privilegierter Gruppen durchzusetzen. Weil mit ihren konservativen KoalitionspartnerInnen die Ausweitung des Massenkonsums durch monetäre Umverteilung – monetäre Sozialleistungen und Mindestlohnsteigerungen – relativ konfliktfrei umsetzbar waren, konzentrierte die brasilianische Arbeiterpartei ihre Umverteilungspolitik auf Geld. Die ausgrenzende und autoritäre Grundstruktur blieb weitgehend gleich. So verwundert es nicht, dass die Priorität der aktuellen Regierung bei den Einsparungen im Sozialbereich nicht im Kürzen von Geldleistungen liegt, sondern im Aushöhlen verfassungsrechtlich gewährleisteter sozialer Grundrechte.

Infrastrukturen verkörpern Gesellschaftsvisionen

Die im wahrsten Sinne des Wortes reaktionären Kräfte, die Brasilien nach massiven Beugungen der Verfassung seit Mai 2016 regieren, wissen, dass Infrastrukturen und Institutionen Gesellschaftsvisionen verkörpern und individuelles Handeln lenken. Aus Angst vor zu weitreichenden Änderungen in Richtung einer gleichen Teilhabe aller haben sie Konflikte bewusst und erfolgreich geschürt.

Erneut an der Macht stellen sie nun durch Kürzungen bei öffentlichen Schulen und Spitälern die alten Hierarchien wieder her. Gleichzeitig werden ausgrenzende und hierarchisch strukturierte Institutionen und Infrastrukturen gestärkt – hoch subventionierte private Medienkonzerne, autofreundliche Verkehrsinfrastruktur, Privatschulen und Privatkrankenkassen.

So verfestigen sich Gesellschaftsstrukturen, in denen öffentliche Angebote nur in schlechter Qualität verfügbar sind und nur von denjenigen in Anspruch genommen werden, die sich nichts anderes leisten können.