Schien es zu Beginn des Jahrzehnts, als sei ein „grüner Kapitalismus“ in der EU nicht mehr aufzuhalten, hat sich das Blatt gewendet. Vieles deutet auf einen politischen Backlash hin, der Wettbewerbsfähigkeit zulasten von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit fördern soll. Wir erleben die Wiederkehr eines autoritären Liberalismus in neuem Gewand, der die nationale Wirtschaft von bürokratischen Fesseln befreien und den Klimaschutz in erster Linie dem freien Spiel der Marktkräfte und dem technischen Fortschritt überlassen will. Wie ist das „große Rollback“ zu erklären und was bedeutet es für Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungen?
Gefahr der Deindustrialisierung
Die erste These lautet, dass sich EU-Staaten tatsächlich mit einer realen Deindustrialisierungsgefahr konfrontiert sehen. Zwar zeichnet sich in Langzeitbetrachtungen eher ein Strukturwandel mit allmählichem Bedeutungsverlust industrieller Fertigung als eine disruptive Entwicklung ab. In hoch aggregierten Datenreihen verschwindet jedoch oft, was sich regional und branchenspezifisch abspielt. So wurden allein in der deutschen Auto- und Zulieferindustrie 2024 ca. 19.000 Stellen abgebaut. Zum Jahresende lag die Beschäftigung um 2,4 Prozent unter dem Vorjahresniveau und der Negativtrend hält weiter an. Von einem grünen Wirtschaftswunder kann in Deutschland und der EU keine Rede sein.
Hauptursache der wirtschaftlichen Misere ist jedoch nicht die Dekarbonisierung, sondern die über lange Zeiträume hinweg gewachsene Abhängigkeit des europäischen und hier besonders des deutschen Industriemodells von billigen Rohstoffen sowie preiswertem Öl und Erdgas. Industriemodelle mit solchen Abhängigkeiten funktionieren nur, sofern sie sich in einem stabilen Umfeld entfalten können. In einer unsicheren, von Kriegen, Pandemien und gestörten Lieferketten geprägten Weltwirtschaft verkürzt die zunehmende Unsicherheit den Zeithorizont für Gewinne und Investitionen radikal.
Die inszenierte Krise
Marktzentrierte Politiken, die Klimaschutz über den Zertifikatehandel betreiben wollen, sind keineswegs unproblematisch. Ist der CO2-Preis zu niedrig, hat er keine Lenkungswirkung. Ist er zu hoch, werden vor allem mittlere und niedrige Einkommen unverhältnismäßig stark belastet. Nun kommt eine Problematik hinzu. Erhebliche Teile der Industrie deklarieren steigende CO2-Preise als Wettbewerbsnachteil, der die Wirtschaft angesichts von US-Zöllen, chinesischer Konkurrenz, Rohstoffknappheit und gestörten Lieferketten zusätzlich belastet. Statt die strukturellen Ursachen der Krise anzugehen, wird ein Muster der Krisenbewältigung wiederbelebt, das vor allem Gewerkschaften, überbordende staatliche Regulierung und mangelnde Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmer:innen für die wirtschaftliche Misere verantwortlich macht. Daran zeigt sich, so These zwei, die Wirtschaftskrise der Gegenwart ist auch politisch inszeniert.
Nehmen wir als Beispiel die Auto- und Zulieferindustrie. Der Einbruch bei Absatz und Gewinnen hängt bei VW wie auch bei anderen in Deutschland ansässigen Endherstellern mit einem Geschäftsmodell zusammen, das unter veränderten Weltmarktbedingungen nicht mehr trägt. Ihre hohen Gewinne haben die deutschen Endhersteller in der Vergangenheit hauptsächlich mit financial services und im Hochpreissegment teurer, luxuriöser Fahrzeuge mit hohem Sprit- oder Energieverbrauch gemacht. Das war verhältnismäßig einfach, weil gut betuchte Käufer:innen lange Zeit bereit waren, jeden Preis für einen Neuwagen zu zahlen. Mittlerweile hat sich dies geändert, da „Made in Germany“ selbst im Luxussegment und vor allem bei E-Pkw nicht mehr ohne Konkurrenz ist. Die VW-Krise resultiert wesentlich aus sinkendem Absatz der Premiummarken Porsche und Audi sowie rückläufigen Gewinnen bei den Finanzdienstleistungen. Es rächt sich, dass der VW-Konzern noch immer nicht in der Lage ist, einen konkurrenzfähigen E-Pkw für weniger als 20.000 Euro anzubieten. Wegen des späten Einschwenkens auf Elektromobilität und der Schwierigkeiten bei der Digitalisierung des Produkts haben deutsche Autofirmen ihre ehemals führende Rolle in der Technologieentwicklung eingebüßt. Dennoch heißt es seitens der Konzernspitzen, die Krise der Branche und speziell bei VW resultiere aus einem Kostenproblem, verursacht von einem Sicherheitsnetz, das Gewerkschaften, Betriebsräte und Staat über die Belegschaften gespannt hätten. Dieses Sicherheitsnetz verhindere dringend nötige Marktanpassungen und sei der Hauptgrund für die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit des VW-Konzerns und letztlich der gesamten Branche.
Solche Zuschreibungen lenken vom Managementversagen ab und kaschieren Innovationsschwächen. Statt sich einzugestehen, dass veraltete Geschäftsmodelle und Versäumnisse bei der Technologieentwicklung eine disruptive Entwicklung ausgelöst haben, wie sie einschlägige Expertisen schon seit vielen Jahre prognostizieren, werden Gewerkschaften und Sozialstaat politisch wie medial wieder zum Sündenbock gemacht.
Wasser auf die Mühlen der radikalen Rechten
Die Machtverschiebungen in den Arbeitsbeziehungen leiten, so These drei, Wasser auf die Mühlen der radikalen Rechten. So präsentiert sich die AfD in der Bundesrepublik im Bündnis mit diversen rechtsoppositionellen Gruppen wie der Pseudogewerkschaft „Zentrum“ als Anwältin einer Arbeiter:innenschaft, deren Interessen gezielt dem grünen Klimawahn geopfert würden. Bei der Bundestagswahl 2025 erzielte die AfD spektakuläre Wahlerfolge ausgerechnet in Regionen, in denen die wirtschaftliche Prosperität im Grunde von der erfolgreichen Dekarbonisierung abhängt. Im Wahlkreis Zwickau, wo sich ein auf elektromotorische Fahrzeuge ausgerichtetes VW-Werk mit zu Hochzeiten bis zu 10.000 Beschäftigten befindet, stimmten nahezu 40 Prozent der Wähler:innenschaft für die AfD.
Die AfD und ihre rechtsextremen Verbündeten präsentieren sich als volksnahe Kraft, die Lohnabhängigen wirksamen Schutz, gesellschaftliche Anerkennung und Bewahrung ihrer kulturellen Identität verspricht. Zugleich werden die Sicherheitsinteressen heimischer „Qualitätsarbeiter:innen“ so konstruiert, dass sie sich erfolgreich gegen eine Klimapolitik in Stellung bringen lassen, die angeblich darauf zielt, hart arbeitende Menschen ärmer zu machen. Die Relativierung oder Leugnung des Klimawandels bedient das Interesse am Statuserhalt.
Perspektivwechsel: Emanzipation durch Transformation
Die vierte These lautet: Zukunftsorientierte Interessenpolitik muss einen Perspektivwechsel vollziehen, der Transformation mit Emanzipation verbindet. Gewerkschaften sind die einzig relevanten demokratischen Organisationen, die in der Arbeitswelt einen Geist des Aufbegehrens fördern können, der zu einer gesellschaftlichen Machtressource werden kann.
Deshalb macht es keinen Sinn, gewerkschaftliche Erneuerung mittels Anpassung an den gesellschaftlichen Rechtsruck erreichen zu wollen. Statt in erster Linie auf jene Teile der Arbeiter:innenschaft zu schauen, die mit der radikalen Rechten sympathisieren, wird sich gewerkschaftliche Interessenpolitik in der betrieblichen Arbeitswelt vor allem auf jene stützen müssen, die sich dem Rechtsruck aktiv widersetzen und die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft konstruktiv-kritisch befürworten. Ihnen gilt es den Rücken zu stärken. Dabei handelt es sich überwiegend um Lohnabhängige, die – wie im Gesundheitssektor oder der Sozialwirtschaft bereits geschehen – sich des Werts ihrer Arbeit für die Gesellschaft zunehmend bewusst werden. Gleichzeitig sind es winzige Minderheiten innerhalb der herrschenden Klasse, die Entscheidungen über Geschäftsmodelle, Produkte und Produktionsverfahren monopolisieren. Selbst die stärksten Betriebsräte und Gewerkschaftsorganisationen sind von solchen Entscheidungen weitestgehend ausgeschlossen. Dieser Ausschluss wird in politischen Debatten, die lediglich Konsummuster in den Blick nehmen, vollständig tabuisiert. Selbiges zu korrigieren wird nur mit Hilfe von Bündnissen und Allianzen möglich sein, die den sozialen und ökologischen Umbau entschlossen vorantreiben.
In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, was die Glaubwürdigkeit jeglicher Klimapolitik gegenwärtig unterminiert – die politische Fixierung deutlicher Erhöhungen der Wehretats. Wer den sozialen und ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft will, darf von der Aufrüstung nicht schweigen. Dies auch, weil für die Rüstungsindustrie gegenwärtig alles möglich scheint, was für die zivile Marktwirtschaft nicht gelten soll – großzügige Finanzierung um den Preis eines wachsenden Staatsdefizits, langfristige Planung, staatliche Abnahmegarantien und eine bewusste Monopolisierung, die Marktmechanismen verzerrt.
Die Alternative zur Kriegswirtschaft kann ein ökologischer Sozialstaat sein, der Wohlhabende gemäß ihrem ökologischem und Klimafußabdruck an den Kosten des sozialen und ökologischen Umbaus beteiligt. Grundsätzlich muss für die gesellschaftliche Verteilungsebene gelten: Je größer der Klimafußabdruck, desto umfangreicher muss auch der Beitrag sein, der einen ökologischen Sozialstaat finanziert. Nur so lässt sich korrigieren, was Forschungen zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und klimaschädlichen Emissionen belegen – der unverhältnismäßig hohe Emissionsausstoß kapitalistischer Eliten, der vor allem zulasten der ärmeren Bevölkerung geht.
Halten wir fest: Sicher sehen sich die Gewerkschaften gegenwärtig mit riesigen Herausforderungen konfrontiert. „Arbeiter:in und stolz darauf!“, lautet ein Satz, mit dem die Frauen der PRO-GE den Ohnmachtszirkel schwindender Gewerkschaftsmacht erfolgreich attackieren. Shirts und Taschen mit entsprechender Aufschrift haben sich als Renner erwiesen. Symbolisch zeigt das, was geschehen muss, um dem neuen Autoritarismus in der Arbeiter:innenschaft wieder den Nährboden zu entziehen. „Kopf hoch!“, lautet die Botschaft, die emanzipatorische Gewerkschaftspolitik trotz aller Widrigkeiten im Alltag zu vermitteln hat. Um ihre missliche Lage wissen die von Löhnen Abhängigen in der Regel selbst. Was sie benötigen, ist ein Grundvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die sie ohne Zweifel besitzen. Dieses Grundvertrauen über solidarische Sozialbeziehungen zu stärken, ist eine Aufgabe, die zu erfüllen emanzipatorische Klassen-, Gewerkschafts- und Transformationspolitik erst wieder zu erlernen hat. Es bleibt zu hoffen, dass dies möglichst rasch gelingt.