EU–Neuseeland: Das fortschrittlichste Handelsabkommen aller Zeiten?

29. September 2023

In den nächsten Wochen muss das Europäische Parlament darüber entscheiden, ob es dem EU-Freihandelsabkommen mit Neuseeland zustimmt. Die Europäische Kommission lobt es als ihr bisher fortschrittlichstes Handelsabkommen. Doch trotz Verbesserungen bei der Durchsetzbarkeit einiger Nachhaltigkeitsverpflichtungen weist es deutliche Schwächen auf. So werden die vereinbarten Marktöffnungen nicht an Verbesserungen von Umwelt- und Sozialstandards der begünstigten Branchen gekoppelt.

Lob aus Brüssel: „Goldstandard für zukünftige Handelsabkommen“

Nachdem der Rat der Europäischen Union im Juli 2023 seine Zustimmung zum EU-Freihandelsabkommen mit Neuseeland erteilt hat, stehen nun die Beratungen im Europäischen Parlament (EP) an. Die Europäische Kommission ist voll des Lobs über diesen Vertrag. Er enthalte „die ambitioniertesten Nachhaltigkeitsverpflichtungen, die jemals in ein Handelsabkommen integriert wurden“, so EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis. Der Vorsitzende des EP-Handelsausschusses, Bernd Lange, betrachtet ihn als den „Goldstandard für zukünftige Handelsabkommen“.

Das Brüsseler Lob erklärt sich durch eine Besonderheit des EU-Neuseeland-Abkommens: Es ist der erste Vertrag, in den die EU ihren jüngst reformierten Ansatz für Nachhaltigkeitskapitel integriert hat. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen haben lange kritisiert, dass diese Kapitel – im Unterschied zu den übrigen Teilen der EU-Handelsabkommen – nicht sanktionsbewehrt sind. Genau darauf bezieht sich die wichtigste Neuerung der Reform.

Erstmals besteht die Möglichkeit, dass Verstöße gegen einen Teil des Nachhaltigkeitskapitels mit Handelssanktionen geahndet werden können, sofern die Vertragsparteien zustimmen. Mit der progressiven Regierung Neuseelands war dies der Fall, sodass das Nachhaltigkeitskapitel nunmehr die partielle Sanktionsoption enthält. Bei Verstößen einer der beiden Vertragsparteien gegen die Verpflichtungen zur Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) oder zum Pariser Klimaschutzabkommen darf die andere Partei Gegenmaßnahmen ergreifen. Möglich wäre beispielsweise die Aussetzung von Handelspräferenzen.

Selektive Sanktionsoption: inkonsistent und unverständlich

Allerdings gilt die Sanktionsoption nur für diese beiden Verpflichtungen und damit nur für einen Teil des Nachhaltigkeitskapitels. Die Mehrheit der Nachhaltigkeitsverpflichtungen bleibt sanktionslos und ist daher kaum durchsetzbar. Das betrifft Verstöße beispielsweise gegen die prioritären Konventionen der IAO oder die Agenda für menschenwürdige Arbeit. Sanktionsfrei bleiben ebenfalls Verpflichtungen zur Geschlechtergerechtigkeit, Artenvielfalt, Entwaldung, Überfischung, zur verantwortlichen Unternehmensführung und zum nachhaltigen Lieferkettenmanagement.

Dieser selektive Ansatz ist jedoch fragwürdig, da die Kriterien für die Auswahl der beiden sanktionsbewehrten Verpflichtungen nicht nachvollziehbar sind. Im Bereich der Arbeitsrechte etwa umfassen die IAO-Kernarbeitsnormen lediglich grundlegende Mindeststandards wie die Vereinigungsfreiheit oder das Verbot der Zwangsarbeit.

Im internationalen Handel jedoch verschaffen sich Exporteure unlautere Wettbewerbsvorteile vor allem auch durch Niedriglöhne, unbezahlte Überstunden, mangelhaften Sozialschutz oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse – Missstände, auf die die Vertragsparteien nicht mit handelsbeschränkenden Sanktionen reagieren können.

Im Bereich der Umweltstandards ist ebenfalls unverständlich, warum die Verpflichtungen zum Schutz der Artenvielfalt oder gegen Entwaldung sanktionsfrei bleiben. Schließlich sind Maßnahmen zum Arten- und Waldschutz für die Bewältigung der Klimakrise ebenfalls unverzichtbar.

Nachhaltigkeitsverpflichtungen bedürfen effektiver Durchsetzung

Ein weiterer Mangel: Bei Vertragsverstößen haben nur Regierungsvertreter:innen der EU und Neuseelands die Möglichkeit, ein zwischenstaatliches Streitschlichtungsverfahren mit Sanktionsoption zu initiieren. Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen ist dieser Weg verschlossen. Das aber bedeutet eine erhebliche Einschränkung, da es bisher wenig Bereitschaft etwa seitens der EU gab, Verstöße gegen Nachhaltigkeitsverpflichtungen überhaupt in Regierungskonsultationen anzusprechen.

Das zeigte sich eindrücklich beim EU-Handelsabkommen mit Südkorea, dessen Regierungen fortgesetzt gegen Arbeitsrechte verstoßen und gewerkschaftliche Arbeitskämpfe unterdrücken. Der Europäische Gewerkschaftsbund forderte die EU-Kommission daher seit 2013 wiederholt dazu auf, die im Handelsabkommen vorgesehenen Regierungskonsultationen mit Südkorea einzuleiten. Doch die Kommission verlangte erst im Dezember 2018 – über fünf Jahre später – offizielle Gespräche von Südkorea. In deren Verlauf ratifizierte Südkorea 2021 zwar drei der IAO-Kernkonventionen, die staatlichen Repressionen gegenüber Gewerkschaften halten jedoch an.

Das Beispiel verdeutlicht: Die Nachhaltigkeitsverpflichtungen können nur dann Wirkung entfalten, wenn zeitnah, entschlossen und hartnäckig gegen Verstöße vorgegangen wird. Insofern garantiert auch die Einführung einer Sanktionsoption noch nicht, dass eine effektive Umsetzung der Arbeits- oder Klimaschutzstandards erfolgt, wenn diese Möglichkeit bei Verstößen nur zögerlich oder gar nicht genutzt wird.

Im bilateralen Handel dominieren problematische Güter

Zu den zentralen Defiziten des EU-Neuseeland-Abkommens gehört daneben die Inkohärenz zwischen dem Nachhaltigkeitsanspruch und den beschlossenen Marktöffnungen. Das zeigt ein Blick auf die Branchen, die besonders von dem Vertrag profitieren würden.

Der bilaterale Güterhandel zwischen der EU und Neuseeland ist überaus ungleich: Die EU exportiert hauptsächlich Güter der verarbeitenden Industrie wie Maschinen, Autos und Chemikalien. Bei Neuseeland dominieren Exporte landwirtschaftlicher Erzeugnisse, vor allem Fleisch, Früchte und Milchprodukte. Die Ausfuhrpalette beider Vertragsparteien umfasst zahlreiche Waren, deren Produktion nicht selten unter prekären Arbeitsbedingungen und mit erheblichen Umweltschäden erfolgt ist.

In der Fleisch- und Milchwirtschaft Neuseelands sind Niedriglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen ebenso weit verbreitet wie in den Lieferketten der europäischen Industrie, etwa in den Zulieferbetrieben süd- und osteuropäischer EU-Länder. Zugleich ist die Viehwirtschaft für die größten Emissionen von Treibhausgasen in Neuseeland verantwortlich, vor allem das besonders klimaschädliche Methan. Ähnliches gilt für die verarbeitende Industrie der EU – den Wirtschaftssektor, auf den mit 22 Prozent im Jahr 2021 der größte Anteil der EU-Treibhausgasemissionen entfiel.

Erschwerend kommt hinzu: In Neuseeland ist die Land- und Viehwirtschaft vom dortigen Emissionshandelssystem ausgenommen, während in der EU die energieintensive Industrie von der freien Zuteilung von Emissionsrechten unter dem EU-Emissionshandelssystem profitiert. Zwar hat die EU kürzlich einen schrittweisen Ausstieg aus der freien Zuteilung beschlossen, dieser Prozess beginnt jedoch erst 2026 und soll bis 2034 abgeschlossen sein.

Abkommen belohnt Risikosektoren mit Exportoptionen

Die vereinbarten Liberalisierungen unter dem Freihandelsabkommen zielen nun jedoch darauf ab, ausgerechnet der Viehwirtschaft Neuseelands und der verarbeitenden Industrie der EU zu höherem Exportabsatz zu verhelfen – ungeachtet der sozialen und ökologischen Probleme dieser Branchen.

So schätzt die EU-Kommission, dass die Zollbeseitigung zu einem Wachstum von 47 Prozent der EU-Exporte nach Neuseeland führt, hauptsächlich für Maschinen, Chemikalien und Autos. Die neuseeländische Regierung wiederum erwartet einen Exportschub für Rindfleisch, Lammfleisch und Milchprodukte dank der zollbegünstigten Importquoten, die die EU neuseeländischen Erzeuger:innen gewährt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Das heißt: Das Freihandelsabkommen belohnt jene Branchen mit zusätzlichen Exportoptionen, die nicht selten große Defizite im Bereich der Arbeitsbeziehungen und der Dekarbonisierung ihrer Produktion aufweisen. Zugleich verzichtet es darauf, die vereinbarten Marktöffnungen an die Einhaltung verbesserter Sozial- und Umweltstandards zu knüpfen. Es besteht daher ein großes Risiko, dass der Handelsvertrag prekäre Beschäftigungsverhältnisse und umweltschädliche Produktionsverfahren verfestigt, vor allem in den begünstigten Sektoren der Landwirtschaft und der Industrie.

Die EU-Handelspolitik braucht eine umfassende Reform

Ein weiterer Risikofaktor ist die große Entfernung zwischen Neuseeland und der EU. Die offizielle Folgenabschätzung der EU-Kommission über das Freihandelsabkommen kommt zu dem Schluss, dass „die prognostizierten zusätzlichen Handelsströme zwischen der EU und Neuseeland zu einer Zunahme der Treibhausgasemissionen durch den Gütertransport führen wird“. Aufgrund des wachsenden Handels mit umweltbelastenden Gütern über große Distanzen könnte das Abkommen folglich zum Gegenteil dessen führen, was erforderlich ist: eine Zunahme anstelle einer Reduktion der Treibhausgasemissionen.

Die Risiken des EU-Neuseeland-Abkommens verdeutlichen einmal mehr, dass die EU-Handelspolitik noch immer einer grundlegenden Reform bedarf, um einen konstruktiven Beitrag für einen gerechten Übergang und die grüne Transformation der Wirtschaft zu leisten. Die bessere Durchsetzbarkeit einzelner Sozial- und Klimaklauseln durch die selektive Sanktionsoption genügt nicht, um prekäre Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen und die Dekarbonisierung der Produktion voranzutreiben. Vor allem bleibt mit solch beschränkten Modifikationen das zentrale Defizit der EU-Handelsabkommen unverändert: die Förderung des Handels mit häufig emissionsintensiven und nicht nachhaltigen Produkten.

Zu den zentralen Anforderungen an zukunftsfähige Handelsabkommen müsste es daher gehören, messbare Fortschritte bei den Arbeitsbedingungen, den Menschenrechten, dem Umwelt- und Klimaschutz zu erzielen. Auf Vertragsregeln, die sich für diese Ziele als ungeeignet erweisen, sollte entsprechend verzichtet werden. Handelsströme, die Mensch und Umwelt gefährden, müssten identifiziert, modifiziert und gegebenenfalls reduziert werden. Das heißt auch: Das zentrale Erfolgskriterium der EU-Kommission – die Zunahme der bilateralen Handelsströme zwischen den Vertragsparteien – ist völlig unzureichend. Die Qualität der Produktion, nicht die Quantität der ausgetauschten Waren muss zum Maßstab für die Handelspolitik werden.

Der Artikel basiert auf der Studie: Thomas Fritz (2023): On Track for Sustainable Trade? The EU-New Zealand Trade Agreement from a Sustainability Perspective; hier abrufbar On track for sustainable trade? – Portal der Arbeiterkammern und des ÖGB Verlags

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