Energiemarktliberalisierung – Gold-Rush für Energieriesen oder Wohltat für Konsument:innen?

06. Juli 2023

Seit den 1990er Jahren versucht die EU, mehr Wettbewerb in die Energiemärkte zu bringen. Die erwarteten Vorteile seien Effizienzgewinne und niedrigere Preise für die Verbraucher:innen bei gleichzeitiger Gewährleistung der Versorgungssicherheit in allen Bereichen, Förderung der Energieeffizienz und der Nutzung erneuerbarer Energiequellen. Es entsteht aber der Eindruck, dass die Liberalisierung den Begehrlichkeiten der Energielobbys zugutekam, die sich einer gemeinwohlorientierten öffentlichen Kontrolle zu entziehen versuchen. Profitiert haben Verbraucher:innen bis dato kaum.

In anderen Branchen, wie zum Beispiel in der Telekommunikationsbranche, hat die Liberalisierung zu erheblichen Preisrückgängen geführt. Nicht so auf den Energiemärkten. Die Liberalisierung der EU-Energiemärkte erscheint im Lichte wissenschaftlicher Studien und der empirischen Evidenz als nicht geglückt.

Die Versprechen der EU, eine Liberalisierung würde aus staatlichen Monopolen und Oligopolen einen Wettbewerbsmarkt mit vielen Anbietern machen und dadurch zu sinkenden Preisen führen, können als gescheitert angesehen werden. Die Strompreise in Europa sind nach der Reform eher gestiegen, vielleicht gerade, weil die ehemals staatlichen Oligopole sich an keine soziale Verantwortung in ihren Preispolitiken mehr gebunden fühlten. Auch wurden vormals unter einem Unternehmensdach vereinigte „Teilmärkte“ wie Energieproduktion, Energievertrieb und Netznutzung unternehmensrechtlich seziert; es entstanden neue vermarktbare Endabrechnungsposten wie Netznutzungsgebühren. Daher sind auch Endkonsumentenpreise vor und nach der Liberalisierung schwierig zu vergleichen. Staatliche Steuern auf Strom wurden erhöht, neue Abgaben, etwa für Ökostrom, wurden den Konsument:innen zusätzlich aufgebürdet. Das „Merit-Order-System“ hat den Großteil der Strompreisbestimmung von den Produktionskosten (Gestehungskosten) abgekoppelt, insbesondere in Ländern wie Österreich, in denen Wasserkraftwerke vorherrschen.

Preisentwicklung in Österreich

In Österreich wurde der Markt für Haushaltsenergie 2001 vollständig geöffnet. Seitdem gab es zwar einige Preisausschläge nach unten, ein kausaler Zusammenhang mit der Liberalisierung ist jedoch unwahrscheinlich. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 sowie die Corona-Pandemie hatten gewichtige Einbrüche der effektiven Nachfrage zur Folge, wodurch auch die Energiepreise sanken. Insgesamt war die Entwicklung der Energiepreise volatiler als die Gesamtinflation (HVPI). Im Teilindex „Wohnen, Wasser, Energie“ gab es – auch durch die stetigen Steigerungen bei den Wohnkosten – keinen nach unten gerichteten Trend. Eine generelle Verbilligung bei Energiepreisen seit dem Liberalisierungsjahr 2001 ist jedenfalls nicht evident: Der Index für Energie steigt stärker als das allgemeine Preisniveau, seit 1996 etwa doppelt so stark wie der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI).

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Studien zur Liberalisierung

Welche Effekte der Energiemarktliberalisierung lassen sich statistisch nachweisen? Internationale Untersuchungen tendieren mehrheitlich zu der Auffassung, dass eine Liberalisierung keinen generell senkenden Effekt auf die Endkundenpreise hat, manchmal sogar preiserhöhend wirkt. Da die Energiemärkte im EU-Binnenmarkt eingebettet sind, ist es geboten, zuerst EU-weite Preiseffekte zu betrachten, wobei die ehemals nationalen EVUs noch immer wesentliche Player auf den Energiemärkten sind.

Fiorio und Florio („Electricity Prices and Public Ownership: Evidence from the EU15 Over Thirty Years“, 2013) untersuchen für die EU, ob eine Privatisierung der Energieversorger zu einer Preisreduktion bei Strom geführt hat. Sie kommen zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall gewesen ist:

  • Öffentliches Eigentum an Energiefirmen vermag die Preise in besserer Weise in einem leistbaren Korridor zu halten als ein Regime des regulierten Wettbewerbs.
  • In Ländern mit fortgesetztem öffentlichem Eigentum an Energiekonzernen ist das Preisniveau für Haushaltsenergie generell niedriger geblieben, insbesondere dort, wo öffentliches Eigentum in angemessener Weise gemanagt wird.
  • Produktivitätsgewinne werden nicht automatisch an Haushaltsabnehmer:innen weitergegeben, sodass ein liberalisierter Energiemarkt zur Durchsetzung leistbarer Preise wirksame staatliche Ordnungspolitik voraussetzen würde.

Lave, Apt und Blumsack („Rethinking Electricity Deregulation“, 2004) zeigen, dass Liberalisierung per se nicht zu niedrigeren Preisen führt, außer es gelingt, einen „Wettbewerbsmarkt“ ohne marktbeherrschende Oligopole zu schaffen.

Waterson („The Role of Consumers in Competition and Competition Policy“, 2003), der die Rolle der Verbraucher:innen im Wettbewerb untersucht hat, argumentiert, dass die Zurückhaltung beim Lieferantenwechsel ein zusätzlicher Faktor für geringe Preissenkungen sein könnte. Die Verbraucher:innen würden bei einem Anbieterwechsel die Suchkosten sowie die Wechselkosten überschätzen und blieben daher, trotz der finanziellen Vorteile des Wechsels, eher beim angestammten Anbieter. Dies erkläre den vergleichsweise geringen Grad an Wettbewerb in Europas „liberalisierten“ Energiemärkten.

Für Österreich sind in einem Simulationsmodell des WIFO leicht rückgängige Preiseffekte identifiziert worden (vgl. „Makroökonomische Evaluierung der Liberalisierung im österreichischen Energiemarkt“, Kratena, 2004), die allerdings für Haushalte weit geringer ausfielen als für Industrieabnehmer von Strom. Kratena et al. („Volkswirtschaftliche Effekte der Energiemarktliberalisierung“, 2021) berechnen in ihrer Studie im Auftrag der E-Control mittelfristig ebenso geringe Einsparungen im Konsumbereich bei Strom und Gas. Aufgrund der vielfältigen marktbedingten und institutionellen Einflussfaktoren in den letzten drei Jahrzehnten ist eine Zuordnung der Reformen zur Entwicklung der Nettoenergiepreise rund um die Jahrtausendwende methodisch schwierig.

Fazit

Die großen Vorteile der EU-Energiemarktliberalisierung für die Verbraucher:innen haben sich langfristig nicht eingestellt. Für die Dekarbonisierung und Transformation wird insbesondere Strom zur Schlüsselenergieform, und er muss in ausreichender Menge und zu leistbaren Preisen zur Verfügung stehen, sonst fährt das System an die Wand und die Menschen erleiden erhebliche Wohlstandsverluste. Der Energiemarkt von heute ist weder für ein Gelingen der Dekarbonisierung ohne Abwanderung von Industriearbeitsplätzen noch für leistbares Wohnen geeignet.

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