Praxisbericht Schule: Gedanken einer Lehrerin

19. Mai 2025

Die Autorin des Beitrags, Maryam Al-Mufti (26), ist quereingestiegene Lehrerin, Teach-for-Austria-Fellow und kommt ursprünglich aus der Politikwissenschaft. Seit knapp zwei Jahren steht sie nun in einem Wiener Klassenzimmer und stellt fest: Einiges, was in der medialen Berichterstattung über Schulen erzählt wird, deckt sich nicht mit ihren eigenen Erfahrungen. Öffentliche Debatten drehen sich oft um Symptome statt um systemische Ursachen. Und zu häufig schwingt in der Diskussion über schulische Herausforderungen ein unreflektierter, rassistischer Unterton mit.

Probleme, Probleme, Probleme

Liest man als Lehrerin aktuelle Berichterstattungen zum Schulalltag, zeichnet sich ein düsteres Bild. Wir lesen von gewaltsamen Eskalationen in Klassenzimmern, von Religion, die angeblich ins Extreme ausartet, und von zahlreichen überforderten Lehrkräften. Gerade sogenannte „Brennpunktschulen“ – damit sind meist Schulen mit einem hohen Anteil migrantischer und armutsbetroffener Schüler:innen gemeint – stehen häufig im Fokus der Medien. Nicht selten lesen sich diese Beiträge mit einem rassistischen Beigeschmack.

Während es durchaus genügend negative Erfahrungen gibt, über die berichtet werden kann, werden zwei wesentliche Punkte oft außer Acht gelassen:

Erstens sind Kinder, wenn überhaupt, nur selten der Grund für die Überforderung der Lehrkräfte. Vielmehr geht es um strukturelle Herausforderungen eines dysfunktionalen Bildungssystems, das soziale Ungleichheiten nicht ausgleicht, sondern teils noch verstärkt – und um Lehrkräfte, die sich an unterbesetzten Schulstandorten in vier Teile zerreißen müssen. Gerne bedient sich die Medienlandschaft aber rassistischer Sprache, wenn Gründe für die Missstände an Österreichs Schulen gesucht werden. Die Kinder seien zu muslimisch, zu migrantisch, zu unbequem – zumindest sind sie das für ein Bildungssystem, das ihnen keine Chance geben will. Der muslimische Fastenmonat Ramadan ist alle Jahre wieder ein gutes Beispiel dafür, wie übertrieben und realitätsfern Berichterstattungen sein können. „Zeit im Bild“ berichtete heuer etwa von Kindern, die sich beim Fasten „auf den Boden legen und nicht mehr bewegen“. Während ich die Richtigkeit dieser Aussage nicht überprüfen kann, so ist es mir doch wichtig zu betonen: Solche Einzelfälle sollten nicht den Ton öffentlicher Debatten angeben.

Zweitens: Bei all der Berichterstattung über die Schattenseiten, die der Lehrer:innenberuf systembedingt mit sich bringt, geraten die schönen Momente in den Hintergrund. Jene Momente, die Lehrkräften Freude und Energie geben – und sie durch die schwierigeren Zeiten tragen.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Doch wer seine Befürchtungen überwindet und den Schritt vor die Tafel wagt, stellt schnell fest: Neben all der Belastung und Überreiztheit, die mehrere Stunden im Klassenraum mit sich bringen, ist der Lehrberuf vor allem eines – sinnvoll und belohnend.

Die Sinnhaftigkeit dieser Arbeit erschließt sich oft von selbst. In kaum einer anderen Tätigkeit begleitet man so viele junge Menschen auf einem so prägenden Abschnitt ihres Lebens. Man sieht Kinder zu jungen Erwachsenen heranwachsen, erlebt ihre Entwicklung mit – und wird dabei Teil ihrer Geschichte.

Für viele Schüler:innen ist die Schule weitaus mehr als ein Ort des Lernens – sie ist ihr Lebensmittelpunkt. Dort haben sie ihre Freundeskreise und begegnen Lehrkräften, die sie über Jahre hinweg täglich sehen. Manche vertrauen ihren Lehrer:innen Dinge an, die sie mit niemandem sonst teilen würden. Lehrkräfte erhalten damit Einblicke in Lebensrealitäten von Schüler:innen, die von sehr schwierigen Umständen geprägt sind. Auf kaum ein Kind an einer „herausfordernden“ Schule trifft das nicht zu. Das macht Schule zu einem Ort, an dem nicht nur Wissen weitergegeben, sondern auch wichtige Beziehungsarbeit geleistet wird. Sie ist ein Raum, in dem präventiv gearbeitet werden kann: gegen Gewalt, psychische Belastungen oder soziale Isolation.

Wenn Schüler:innen beginnen ein selbstverletzendes oder essgestörtes Verhalten zu entwickeln oder mit anderen psychischen Herausforderungen kämpfen, sind wir Lehrer:innen oft noch vor den Eltern diejenigen, die es zuerst bemerken. Das ist eine enorme Verantwortung – eine, der man nicht immer gerecht werden kann. Und doch hat man die Möglichkeit, die Lehrkraft zu sein, die man sich vielleicht damals selbst gewünscht hätte. Da ist es wichtig, seine Schüler:innen ernst zu nehmen, sie an die richtigen Stellen zu vermitteln und ihnen, soweit es geht, ein offenes Ohr zu schenken.

Zu den schönsten Momenten des Berufs gehört es, zu spüren, dass man einen positiven Einfluss auf eines dieser Leben genommen hat. Dieser Einfluss zeigt sich bei einzelnen Schüler:innen vielleicht nur selten, doch wenn er sichtbar wird, spürt man, dass man als Lehrkraft mehr bewirkt hat, als man oft selbst glaubt.

Besonders wenn pubertierende männliche Jugendliche, die medial oft als „Talahons“ oder Kriminelle abgestempelt werden, im Klassenzimmer ihre emotionale und verletzliche Seite zeigen können, dann ist das auch ein Zeichen dafür, dass dieses Klassenzimmer ihnen den nötigen Raum und die Sicherheit dafür bietet.

Ich werde den Moment nie vergessen, als sich die Jungs meiner Klasse für eine Mitschülerin einsetzten, der es nicht gut ging. Sie fühlte sich in der Klasse wie eine Außenseiterin und sprach das im Fach „Soziales Lernen“ offen an. Dabei weinte sie, doch die anderen reagierten sofort, fingen sie auf und trösteten sie.

Nach der Stunde kamen einige der Jungs zu mir – mit einem Plan, den sie mir vorstellen wollten. Dass es der Mitschülerin so schlecht ging, ließ sie offenbar nicht los. Sie baten mich, das Mädchen in der nächsten Stunde abzulenken, damit sie mit der restlichen Klasse ein Plakat vorbereiten konnten, auf dem jede:r etwas Nettes über sie schreiben sollte.

Die Jungs organisierten alles selbst und die Klasse übergab ihr das Plakat schließlich gemeinsam und lasen ihr die einzelnen Kommentare und Komplimente vor – was bei ihr zu Freudentränen führte. Und bei mir beinahe auch.

In Momenten, in denen sich Jugendliche auf so eine Weise – auch untereinander – öffnen können, ist der Wunsch groß, dass die Medienwelt sich auch solchen Eindrücken widmet und für die Öffentlichkeit festhält. Auch um einer gewissen rassistischen Erzählung und Vorverurteilung entgegenzuwirken.

Systemfehler

Frustrierend wird es jedoch, wenn man merkt, dass man in Gesprächen mit Jugendlichen an der Schule etwas erreicht hat, und diese Fortschritte anschließend durch stundenlanges „Doomscrolling“ auf Instagram und TikTok wieder zunichte gemacht werden.

Jugendliche werden meist mittags aus dem Unterricht entlassen. Ab diesem Moment sind sie der Obhut ihrer Eltern überlassen, die jedoch häufig arbeiten müssen. In der Praxis bedeutet das, dass viele Schüler:innen auf sich allein gestellt sind. Hobbys fehlen, weil das Geld für die Anmeldung bei Vereinen oder Kursen nicht reicht. Manche haben schlichtweg keine Zeit und müssen auf jüngere Geschwister aufpassen.

Erfahrungsgemäß verbringen viele Jugendliche den gesamten Nachmittag, oft auch bis in den Abend und die Nacht hinein, am Handy. Sie konsumieren stundenlang Reels und TikTok-Videos, im Sekundentakt, ohne Begleitung, ohne Einordnung. Niemand hilft ihnen dabei, die Flut an Bildern, Trends, Ideologien und Desinformation zu kontextualisieren.

Man sieht es ihren Körperhaltungen an. Ihre Bildschirmzeit liegt bei manchen bei über acht Stunden am Tag – und die Auswirkungen zeigen sich längst auch im Schulalltag.

Die körperliche Fitness leidet, die Aufmerksamkeitsspanne ist erschreckend gering – und auf den Plattformen sind die Jugendlichen Inhalten ausgesetzt, die problematisch oder sogar gefährlich sind. Von selbsternannten Hobby-Imamen über Andrew Tate und seine Nachahmer bis hin zu toxischer Diätkultur: Es gibt kaum etwas, womit junge Menschen heute nicht konfrontiert werden.

All das sind Entwicklungen, die den Schulalltag noch herausfordernder machen, als er ohnehin schon ist.

Die Lösung? Ganztagesschule.

Kinder aus finanziell besser gestellten Familien gehen nach dem Unterricht zum Tennis, zur Nachhilfe oder in den Hort. Sie erhalten Betreuung, Förderung und vor allem eines: Struktur. Dieses Privileg bleibt einer Mehrheit der Jugendlichen verwehrt. Gerade Schüler:innen, die die meiste Unterstützung bräuchten, verbringen ihre Nachmittage oft ohne Aufsicht und digital überreizt.

Eine Ganztagesschule würde hier ansetzen und könnte einen wichtigen Ausgleich schaffen. Dadurch hätten alle Kinder die Möglichkeit, ihre Nachmittage gemeinsam mit Freund:innen zu verbringen, würden mit ausgewogenerem Essen versorgt – und das Handy würde eine deutlich kleinere Rolle spielen.

Wer das Bildungssystem verändern will, darf sich nicht an Symptomen abarbeiten – er muss bereit sein, über Ursachen zu sprechen. Weder die Kinder noch ihre Herkunft oder Religion sind schuld an einem überlasteten System.

Wenn überhaupt, dann sind sie der Grund, warum es sich – trotz aller Herausforderungen – lohnt, zu bleiben. Und das tut es, wirklich.

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