Qualifizierung von Menschen mit geringem formalem Bildungsniveau ist der Schlüssel zur Deckung des künftigen Fachkräftebedarfs

26. Juni 2023

Insgesamt verfügen in Österreich mehr als 870.000 25- bis 64-jährige Menschen höchstens über einen Pflichtschulabschluss, knapp 400.000 davon sind unter 45 Jahre alt. Wenn wir die Hälfte der unter 45-Jährigen oder ein Viertel der 25- bis 64-Jährigen auf das Niveau eines Lehrabschlusses qualifizieren, kann der künftige Fachkräftebedarf annähernd gedeckt werden.

Knapp 16 Prozent der 25- bis 29-jährigen Bevölkerung verfügen höchstens über einen Pflichtschulabschluss. Dieser Anteil geht auch im Zeitvergleich viel zu langsam zurück. Während bei den Frauen ein stärkerer Rückgang festzustellen ist, steigt bei den Männern der Anteil gering Qualifizierter sogar an. In der Altersgruppe 25 bis 64 Jahre insgesamt ist das Bild der Veränderung das gleiche: Seit 2011 ist der Anteil der Männer, die höchstens über einen Pflichtschulabschluss verfügen um 1 Prozent gestiegen, bei den Frauen um 4 Prozent gefallen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Ein Versagen der Bildungspolitik aus zwei Gesichtspunkten:

Das Schulwesen versagt, viele junge Menschen verlassen das Bildungswesen viel zu früh!

Der Anteil junger Menschen, die das Bildungswesen frühzeitig verlassen, steigt in Österreich im Gegensatz zum allgemeinen Trend der EU-Staaten an. In den vergangenen Jahren haben viele Maßnahmen auf die Gruppe der 15- bis 18-Jährigen abgezielt, etwa die Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr. Zahlreiche Untersuchungen zeigen aber, dass diese Maßnahmen zu kurz greifen, weil die bestehenden Probleme auch danach virulent sind. Sowohl beim Anteil der NEET-Jugendlichen (Not in Education, Employment or Training, 15 bis 24 Jahre) als auch der frühen Schul- und Ausbildungsabbrecher:innen (18 bis 24 Jahre) liegt Österreich zwar unter dem Durchschnitt aller EU-Länder, aber die Dynamik der Entwicklung ist negativ: Während die NEET-Quote in anderen EU-Ländern rückläufig ist, steigt sie in Österreich.

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Jene Personen, die nach der Schulpflicht keinen weiteren Bildungsweg verfolgen, sind innerhalb der nächsten 18 Monate im Durchschnitt nur rund zwei Monate im Jahr berufstätig. Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist sehr hoch: In Österreich sind 64,3 Prozent (Frauen: 53,1 Prozent; Männer: 76,0 Prozent) jener, die ihre Ausbildung nach der Pflichtschule beendet haben, beim AMS vorgemerkt.

Die Folgen für diese jungen Menschen sind gravierend. Brüchige Erwerbsbiografien sind vorgezeichnet, samt geringem Einkommen. Die Arbeitslosenquote von Menschen, die höchstens über einen Pflichtschulabschluss verfügen, ist in den vergangenen 10 Jahren konstant über 20 Prozent gelegen, sie ist aktuell (Jänner 2023) mit 22,8 Prozent mehr als dreimal so hoch wie im Gesamtdurchschnitt. Betroffen von Arbeitslosigkeit sind dabei im besonderen Maß jüngere Arbeitnehmer:innen und ältere im letzten Viertel des Erwerbslebens. Betrachtet man den Bestand an Arbeitslosen in Österreich, wird das auch sichtbar: 45 Prozent (Jänner 2023) verfügen höchstens über einen Pflichtschulabschluss und 33 Prozent über einen Lehrabschluss. Die Gruppe der Lehrabsolvent:innen umfasst ebenfalls viele Menschen, die über keinen Berufsschutz mehr verfügen, da sie lange schon nicht mehr in ihrem Ausbildungsberuf tätig waren und dem Arbeitsmarkt als Hilfskräfte zur Verfügung standen. Auch für sie wird das erst in den letzten zehn Jahren ihrer Erwerbsbiografie zum Problem, die Arbeitslosigkeit steigt ab Mitte des fünften Lebensjahrzehnts sprunghaft an.

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Ein berufsbegleitendes öffentliches Bildungswesen gibt es nicht!

Es gelingt nicht, junge Menschen mit geringem formalem Bildungsniveau berufsbegleitend zu qualifizieren. Hier fehlen vielfach die Instrumente für berufsbegleitende Qualifizierung. Natürlich gibt es mit dem Fachkräftestipendium, der Bildungskarenz oder der Bildungsteilzeit Möglichkeiten, sich auch im Erwerbsleben weiter zu qualifizieren. Die sind aber allesamt auf die individuelle Initiative aufgebaut und erfordern entweder das Aufgeben der Berufstätigkeit (Fachkräftestipendium) oder die Zustimmung des Arbeitgebers zur Weiterbildung. Für viele Menschen, vor allem wenn auch familiäre Verpflichtungen bestehen, stellen diese Möglichkeiten keine Grundlage der Existenzsicherung dar.

Im internationalen Vergleich der Weiterbildungsbeteiligung liegt Österreich mit 11,7 Prozent fast genau im Schnitt der EU-Staaten (11,4 Prozent), befindet sich aber deutlich hinter der Spitze (Schweden 28,6 Prozent, Finnland 27,3 Prozent).

Vor allem ist aber deutlich, dass alle Modelle, die auf Privatinitiative beruhen, jene Menschen nicht erreichen können, die über Benachteiligungen verfügen, die für eine kurze Bildungslaufbahn und Probleme am Arbeitsmarkt verantwortlich sind. Die Bildungsbeteiligung nach dem Bildungsniveau spricht eine deutliche Sprache. Mit 4,5 Prozent Beteiligung an beruflicher Weiterbildung in der Gruppe der Pflichtschüler:innen beträgt dieser Anteil nur etwa ein Viertel der Weiterbildungsbeteiligung der Universitätsabsolvent:innen mit 18 Prozent.

Um Menschen mit geringem formalem Bildungsniveau zu qualifizieren, braucht es Modelle mit einem Zugang, der auf Kompetenzen anstatt Defiziten aufbaut. Beispiele dafür gibt es z. B. mit dem Anerkennungsmodell für Kompetenzen „Du kannst was“. Mittlerweile werden in 25 Berufen non-formal sowie informell erworbene Kompetenzen für einen Berufsabschluss angerechnet. Diese Abkehr von Defizitperspektiven und die Forcierung vorhandener Kompetenzen beeinflusst das Selbstbild der betroffenen Personen positiv und trägt zur Steigerung der (Lern-)Motivation bei.

Das Bildungswesen neu denken – eine dringend nötige Kraftanstrengung

In der heutigen Gesellschaft muss Bildung als öffentliche Aufgabe gesehen werden, die den gesamten Lebenszyklus der Menschen umfasst. Dabei ist die bisherige Strategie zum lebensbegleitenden Lernen, die auf Freiwilligkeit und Privatinitiative beruht, nicht ausreichend. Das bedeutet vor allem, es muss ein öffentliches Erwachsenenbildungswesen als 4. Säule im Bildungssystem etabliert werden, das den Menschen neben einem ausreichenden Bildungsangebot, Bildungszeit samt existenzsicherndem Einkommen zur Verfügung stellt. Wesentlich ist dabei, den präventiven Charakter auf individueller Ebene zu sehen (Vermeidung von brüchigen Erwerbskarrieren) als auch den gesamtwirtschaftlichen Wohlstandsgewinn von höheren Einkommen und vermiedenen Kosten in den Systemen der sozialen Sicherung.

Das Bildungswesen neu zu denken umfasst natürlich auch das Schulwesen, mit vielfältigem dringendem Erneuerungsbedarf, weil mangelnde soziale Durchlässigkeit und fehlende Förderung die Verantwortung für den Schulerfolg zunehmend an die Eltern delegieren – ein Rückzug der Verantwortung des Staates, verbunden mit hohen Folgekosten in den Reparatursystemen für junge Menschen nach der Schulpflicht.

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