Die Arbeitsmedizin steht vor zahlreichen Herausforderungen. Das gesetzliche Pensionsantrittsalter der Frauen in Österreich wird bis 2033 schrittweise an jenes der Männer (65 Jahre) angehoben. Gleichzeitig bringt der demografische Wandel Herausforderungen für den Arbeitsmarkt und auch den Arbeitnehmer:innenschutz mit sich. Technologische Entwicklungen gehen mit geänderten Anforderungen einher, entgrenztes Arbeiten und prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Gerade unter solchen Rahmenbedingungen braucht es gute arbeitsmedizinische Betreuung, um gesundheitliche Belastungen im Job zu minimieren, arbeitsbedingten Erkrankungen vorzubeugen und Arbeitsplätze gesundheitsgerecht zu gestalten. Dem Mangel an Arbeitsmediziner:innen muss also dringend entgegengewirkt werden.
Die Notwendigkeit, sichere und gesunde Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, ist ungebrochen groß. Neue Herausforderungen in der Arbeitswelt sorgen für zusätzliche Brisanz. Die Verfügbarkeit von Arbeitsmediziner:innen ist allerdings überschaubar. Unternehmen außerhalb des Zentralraums haben oft Schwierigkeiten, ein entsprechendes Angebot zu finden. Große Betriebe nutzen zwar arbeitsmedizinische Zentren, doch von diesen Anbietern wird ebenso ärztliches Personal gesucht. Und auch die AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt), welche die arbeitsmedizinische Betreuung von Kleinbetrieben übernimmt, hat Bedarf an entsprechenden Personalressourcen.
Der Mangel an Arbeitsmediziner:innen ist zunächst ein Symptom des generellen Ärzt:innenmangels, der von der Politik offensiv angegangen werden sollte. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, was die Tätigkeit als Arbeitsmediziner:in attraktiv macht? Was sind Argumente für und gegen die Berufswahl? Eine Masterarbeit an der FH Oberösterreich im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich ging dieser Frage auf den Grund. Im Rahmen dieser wurden qualitative Befragungen mit den angehenden Arbeitsmediziner:innen und Expert:innen sowie eine quantitative Erhebung durchgeführt.
Regelungen zur arbeitsmedizinischen Betreuung in Österreich
Eine arbeitsmedizinische Betreuung in Österreich muss sichergestellt werden, sobald ein Unternehmen eine:n Mitarbeiter:in hat. Bis zu einer Beschäftigtenzahl von 50 Mitarbeiter:innen kann dies über den sozialen Unfallversicherungsträger (meist die AUVA) durchgeführt werden. Ab 51 Mitarbeiter:innen muss das Unternehmen selbst eine:n Arbeitsmediziner:in beauftragen. Arbeitsmediziner:innen unterstützen die Arbeitgeber:innen
- bei der Erfüllung ihrer Pflichten auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes,
- bei der auf die Arbeitsbedingungen bezogenen Gesundheitsförderung,
- bei der menschengerechten Arbeitsgestaltung.
Die Präventivleistungen durch die Arbeitsmedizin, die Arbeitssicherheit und die Arbeitspsychologie sind wichtige Faktoren, die sowohl die Arbeitnehmer:innen als auch die Arbeitgeber:innen bei verschiedensten Veränderungen positiv unterstützen können. Bei zu wenig Arbeitsmediziner:innen ist eine ausreichende Unterstützung nicht mehr zu gewährleisten. Es kann zu einer Überlastung und zu erhöhten Gesundheitsrisiken der Arbeitnehmer:innen kommen.
In Österreich ist die Arbeitsmedizin einer der kleineren Fachbereiche innerhalb der Ärzteschaft. Die meisten Ärzt:innen erfahren erst nach dem Studium von diesem Ausbildungsweg. Wichtig ist, dass Medizinstudent:innen schon während ihrer universitären Ausbildung auf diesen Beruf aufmerksam gemacht werden. Das Interesse an der Prävention und Tätigkeit von Mediziner:innen im betrieblichen Gesundheitsmanagement ist durchaus gegeben. Denn immer mehr Ärzt:innen entdecken die Vorteile der Arbeitsmedizin – nicht nur als spannende Spezialisierung, sondern beispielsweise auch als zweites Standbein. In der Arbeitsmedizin kann in Ergänzung zur sonstigen medizinischen Tätigkeit oder völlig eigenständig gearbeitet werden.
Motivlagen für die Berufswahl
Aus den geführten Interviews und der Fragebogenerhebung gingen als wesentliche Beweggründe für den Beruf des bzw. der Arbeitsmediziner:in das Interesse an Prävention und Tätigkeit und das zweite Standbein hervor. Aber auch die gute Vereinbarkeit mit der Familie sowie die besseren, geregelten und flexibleren Arbeitszeiten spielen eine entscheidende Rolle bei der Berufswahl. In der Fragebogenerhebung konnten die Erkenntnisse gewonnen werden, dass die abwechslungsreiche Tätigkeit, keine Nacht- und Wochenenddienste sowie der verstärkte präventive Ansatz fördernde Faktoren für den Beruf „Arbeitsmediziner:in“ sind. Signifikante Faktoren gegen die Berufswahl sind die damit verbundenen bürokratischen Herausforderungen, keine kurativen Aufgaben und die immer stärker werdende Komplexität der Arbeitswelt.
Interessant ist, dass rund zwei Drittel (65 Prozent) der angehenden Arbeitsmediziner:innen erst nach dem Studium von diesem Berufsbild erfahren haben und knapp die Hälfte der Mediziner:innen (46 Prozent) über Freund:innen, Bekannte und Familie darauf aufmerksam geworden sind. Aus einem Interview kann folgendes Zitat entnommen werden: „Sie ist selbst Arbeitsmedizinerin und hat mir erzählt, dass sie das hauptsächlich macht und dementsprechend habe ich mich erst jetzt damit genauer beschäftigt, weil sie eben auch gemeint hat, dass das ganz gut nebenbei funktioniert und eben mit der Familie vereinbar ist (…)“
Maßnahmen zur Attraktivierung des Berufsbildes Arbeitsmediziner:in
Welche Maßnahmen könnten gesetzt werden, um Ärzt:innen für die Arbeitsmedizin zu gewinnen?
- Image und Bekanntheit steigern (bspw. durch Öffentlichkeitsarbeit oder Informationsveranstaltungen an den Universitäten);
- Attraktivität der Ausbildung erhöhen (bspw. durch Ausbildungsförderungen oder Stipendien);
- Berufsperspektiven verbessern (z. B. durch Stärkung der Forschung und die Möglichkeit zur universitären Karriere);
- Vernetzung unter den angehenden Arbeitsmediziner:innen und Word-of-Mouth (Mundpropaganda und Empfehlungen) durch die Arbeitsmediziner:innen selbst in den Fokus rücken;
- Mentoring für Berufseinsteiger:innen anbieten;
- Zusammenarbeit mit Großunternehmen und mittleren Unternehmen anstreben (z. B. Stipendien oder finanzielle Unterstützungen in der Arbeitsmedizinausbildung oder glaubwürdige Imagekampagnen).
An der Schnittstelle zwischen Medizin und Arbeitswelt
Die durchgeführte Befragung hat gezeigt, dass Arbeitsmediziner:in eine attraktive Berufswahl ist. Wer sich für die Medizin begeistert, aber keine Nacht- und Wochenenddienste in einer Klinik machen kann bzw. möchte, für den könnte die Arbeitsmedizin eine spannende Alternative darstellen. Sie bietet eine abwechslungsreiche Tätigkeit bei guter Work-Life-Balance an der Schnittstelle zwischen Medizin und Arbeitswelt. Der Aufgabenbereich umfasst die individuelle Betreuung von Arbeitnehmer:innen sowie die Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen. Ein zentraler Aspekt ist der verstärkte präventive Ansatz, der in der kurativen Medizin oft zu kurz kommt. Der Fokus auf Vorsorge kann motivierend wirken, da dies hilft, langfristig die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen zu erhalten.
Mehr Arbeitsmediziner:innen gewinnen – jetzt handeln!
Arbeitsmediziner:innen spielen in unserer Gesellschaft eine entscheidende Rolle für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Aber der Mangel an entsprechenden Ärzt:innen wächst weiter. Was also tun, um mehr Ärzt:innen für diesen wichtigen Beruf zu begeistern?
- Bedeutung sichtbar machen: Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen sollten gemeinsam den Mehrwert gesunder Arbeitsbedingungen hervorheben und die Relevanz der Arbeitsmedizin betonen. Wenn Prävention nicht nur als lästige Pflicht verstanden wird, sondern gepflegte Kultur ist, steigt auch das Ansehen der Akteur:innen.
- Attraktive Arbeitsbedingungen fordern: Die Work-Life-Balance, eine gute Entlohnung und Karriereperspektiven sollten bei der Ansprache potenziell Interessierter in den Mittelpunkt gerückt werden.
- Unternehmen in die Pflicht nehmen: Betriebe sollten mehr in die Gesundheitsprävention investieren und ein attraktives Arbeitsumfeld für Arbeitsmediziner:innen schaffen. Denn körperlich und psychisch gesunde Arbeitnehmer:innen leisten einen wichtigen Beitrag in der gesamten Volkswirtschaft.
Wir brauchen engagierte Ärzt:innen, die sich für unsere Gesundheit und Sicherheit einsetzen. Dafür wiederum sollte sich die Politik und die Arbeitnehmer:innen-Interessenvertretung aktiv einsetzen.