Wider die soziale Hängematte – Fakten zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung

18. Dezember 2015

Derzeit laufen die Verhandlungen von Bund und Ländern zur Weiterentwicklung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS). Das ist offenbar auch die Zeit für mäßig qualifizierte Zwischenrufe. In regelmäßigen Abständen kommen Forderungen nach Leistungsdeckelung und -kürzung, nach höherem Druck auf Arbeitsmarktintegration und nach stärkeren Kontrollen. Gründe genug für einen Faktencheck.

Die Leistungshöhe in der Mindestsicherung

Die monatliche Maximalleistung in der BMS beträgt aktuell (2016) 837 € für Alleinstehende, für Paare und Familien mehr. Das ist grundsätzlich so viel wie die Ausgleichszulage (Mindestpension). Ein entscheidender Unterschied ist jedoch, dass BMS nur bekommt, wer kein relevantes Vermögen mehr besitzt. Zudem wird die BMS maximal 12 Mal im Jahr ausgezahlt, die Ausgleichzulage 14 Mal.

Die Mehrheit der BMS-BezieherInnen erhält nur einen Teil der 837 Euro, da sie entweder beschäftigt sind, oder eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe) bezieht. In Wien (hier gibt es die detailliertesten Daten zur BMS) erhalten mehr als 75 % aller BezieherInnen nur eine Aufzahlung.

Gefordert wird aktuell, die BMS mit 1.500 Euro im Monat zu deckeln, auch dann wenn aufgrund der Familiengröße ein höherer Betrag zustünde. Der Bezug von Mindestsicherung dürfe schließlich nicht lukrativer sein als eine Erwerbsarbeit. Diesem Argument ist zweifellos etwas abzugewinnen, es ignoriert nur eine wichtige Tatsache: Niemandem, der arbeitsfähig ist, steht es frei, sich auszusuchen, ob er oder sie arbeiten möchte oder nicht. Wer die Arbeitsaufnahme verweigert, dem wird die Mindestsicherung gekürzt. Das ist nicht neu und auch in der Bund-Länder- Vereinbarung geregelt, auf der die BMS beruht. Leistungskürzungen in der Mindestsicherung zu fordern, wie dies aktuell geschieht, lässt also nur einen Schluss zu: die fordernde Person (oder Institution) möchte politisches Kleingeld machen oder kennt die Gesetzeslage nicht.

Von juristischer Seite ist noch zu ergänzen, dass der Verfassungsgerichtshof bereits im Jahr 1988 ein Richtsatzsystem mit einer Leistungsdeckelung, die nicht auf die auf die Größe der Bedarfsgemeinschaft Rücksicht nimmt, in der (Kärntner) Sozialhilfe, der Vorgängerleistung der BMS, als unsachlich und daher unzulässig beurteilt hat (VfGH 15.03.1988, G158/87; G229/87; V141/87) hat.

Die Missbrauchskontrolle

Vermeintliche Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme zu signalisieren, aber in Wirklichkeit keine Absicht zu haben eine Beschäftigung aufzunehmen, sei nicht allzu schwer. So wird jedenfalls oft argumentiert, wenn KritikerInnen der BMS auf die Pflicht zur Arbeitsaufnahme hinweisen.

Ist Missbrauch in der BMS (oder bei anderen Leistungen der öffentlichen Hand) wirklich auszuschließen? Wohl kaum. Soziale und andere Systeme können nie so gestaltet sein, dass dies gänzlich verhindert werden kann. In der Mindestsicherung wird allerdings besonders stark auf Missbrauchsvermeidung geachtet– wahrscheinlich mehr als in jeder anderen Sozialleistung. In der Praxis zeigt sich, dass Missbrauch kein wirkliches Thema ist: Kontrollen in den Bundesländern haben extrem wenige Missbrauchsfälle ans Tageslicht gebracht. Das hat vor allem zwei Gründe: zum einen ist die BMS in der öffentlichen Meinung umstritten. Es ist daher vielen (Landes-)Verwaltungen ein Anliegen die BezieherInnenzahlen niedrig zu halten (u.a. durch Kontrollandrohungen). Zum anderen befinden wir uns im achten Jahr der Wirtschaftskrise, die sich immer noch stark negativ auf die öffentlichen Haushalte auswirkt. Daher ist davon auszugehen, dass die für die BMS-Auszahlung zuständigen Länder und Gemeinden schon allein aufgrund ihrer zumeist finanziell angespannten Situation nicht großzügiger mit BMS-Leistungen umgehen werden, als unbedingt notwendig ist.

Die Aussichten von Mindestsicherungs-BezieherInnen auf dem Arbeitsmarkt

Die Forderung nach Leistungskürzung kommt meist in Verbindung mit jener nach höherem Druck zur Arbeitsaufnahme. Auch dieses Argument ist populär, doch fehlt ein wesentlicher Zusatz: Die Arbeitsmarktaussichten im Allgemeinen sind derzeit nicht gut, jene von MindestsicherungsbezieherInnen im Speziellen ausgesprochen schlecht. Die offizielle, vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Studie zur Arbeitsmarktintegration von BMS-Bezieherinnen verweist darauf, dass ein großer Teil der Betroffenen schlecht ausgebildet ist. Gerade für diese Menschen sind die Aussichten auf (existenzsichernde) Beschäftigung besonders gering. Laut besagter Studie liegt die so genannte “Stellenandrangsziffer” von BMS-BezieherInnen in Ostösterreich bei 20 zu 1 und mehr. Anders ausgedrückt: auf jeden freien Job kommen 20 oder mehr arbeitslose BezieherInnen von BMS-Leistungen, die dafür in Frage kommen. Unter diesen Umständen zusätzlichen Druck auf Arbeitsmarktintegration zu machen zeugt – bestenfalls – von Unverständnis der Situation.

Gerne wird auch argumentiert, es sei eine Reform der sozialen Unterstützungsleistung wie in Deutschland (Hartz IV) sei notwendig. Damit würden die Menschen in den Arbeitsmarkt integriert und die Wirtschaft angekurbelt wird mit Verweis auf die positive Entwicklung des Arbeitsmarktes in Deutschland behauptet.

Auch dieses Argument verdreht die Tatsachen. Der Grund für die Entspannung auf dem deutschen Arbeitsmarkt liegt in erster Linie am Rückgang der Personen im Erwerbsalter und nicht an den Hartz-Reformen, die im Gegenteil einen wesentlichen Beitrag zur aktuellen sozialen Schieflage in Deutschland geleistet haben. Der Blog-Beitrag von Ilse Leidl-Krapfenbauer setzt sich ausführlich mit dieser Thematik auseinander.

Besser Sach- oder Geldleistungen?

Schließlich wird auch oft eine Umstellung der BMS von Geld- auf Sachleistungen gefordert. Dadurch, so die Argumentation, kann sichergestellt werden, dass die finanzielle Unterstützung für jene Bedürfnisse verwendet wird, für die sie gedacht war.

Ob vermehrte Sachleistungen Vorteile bringen, hängt davon ab, was genau damit gemeint ist. Auf Sachleistungen sollte jedenfalls in jenen Bereichen verzichtet werden, in denen sie stigmatisierend wirken. Ein Ausbau von Aus- oder Fortbildungsleistungen ist sinnvoll, Lebensmittelgutscheine sind es nicht, denn mit diesen würden die Betroffenen beim Einlösen zwangsläufig als BMS-BezieherInnen “geoutet” Damit würde eine der zentralen Visionen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung, nämlich die Zurückdrängung der Stigmatisierung der Betroffenen, aufgegeben werden.

Fazit: Mindestsicherung – eher Rettungsring als Hängematte

Die BMS wurde und wird immer wieder als soziale Hängematte diskreditiert. Es müsse mehr kontrolliert, gedeckelt, gekürzt und zur Arbeit gedrängt werden, sonst machen es sich die Leute zu Hause gemütlich. So wird jedenfalls argumentiert. In der sich aktuell verschärfenden Verteilungsdebatte finden solche Forderungen viele offene Ohren.

Dabei wird aber – sehr oft ganz bewusst – ein Teil der Wahrheit verschwiegen. Starker Arbeitsdruck, bei gleichzeitig verheerenden Beschäftigungsaussichten, rigorose Kontrollen und Sanktionen zeichnen ein realistischeres Bild der BMS, als jenes der sozialen Hängematte, in der es sich die Menschen auf Kosten der Allgemeinheit gemütlich gemacht haben. Wenn es ein Bild für die BMS braucht, dann ist jenes des Rettungsrings, der vor dem Ertrinken bewahrt, viel zutreffender – auch wenn er zuweilen zu klein ist.

Für eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Situation der BMS-BezieherInnen in Österreich empfiehlt sich auch dieser Beitrag auf orf.at.