Von freien zu zivilisierten Märkten. Ein New Deal für die europäische Handelspolitik

19. Februar 2015

Uneingeschränkte Märkte tendieren dazu, universell anwendbare europäische Wertvorstellungen, wie Gerechtigkeit, Würde und Fairness, zu untergraben. In einem aktuellen Diskussionsbeitrag  schlagen wir daher die Einrichtung einer europäische Regulierungsagentur vor, die grenzüberschreitenden Handel in Einklang mit den zentralen europäischen Werten bringt.

Sinkende Grenzmoral im internationalen Handel

Das Vermeiden von sozialen Verpflichtungen erzeugt in Konkurrenzsituationen einen Wettbewerbsvorteil: Jene MarktteilnehmerInnen mit den niedrigsten moralischen Werten üben daher Druck auf MarktteilnehmerInnen aus, die kostenintensivere moralische und/oder soziale Vorstellungen verfolgen. Uneingeschränkter (Markt-)Wettbewerb führt daher tendenziell zu einer Erosion moralischer und sozialer Standards.

Dieser Mechanismus, der auch als „sinkende Grenzmoral des Wettbewerbs“ bezeichnet wird, wirkt dabei im Kontext internationalen Handels auf besonders intensive Weise, da aufgrund der großen globalen Unterschiede im Bereich der Lebens- und Sozialstandards Wettbewerbsvorteile in einem größeren Maßstab zu erschließen sind. Korrespondierend dazu erhöht sich freilich die Gefahr einer Nivellierung moralischer und sozialer Standards nach unten. Die Konsequenzen dieser Abwärtsspirale sind weltweit zu beobachten: Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Lohndruck, Kinderarbeit, ökologischer Raubbau, mangelnde Verarbeitung und sinkende Qualität der (Massen-)Produkte. Günther Wallraff veranschaulichte jüngst in seinem Buch „Die Lastenträger“  wie diese Entwicklungen auch in westlichen Industrieländern zu menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen führen.

Im Gegensatz dazu versucht das Konzept eines „zivilisierten Marktes“ freies Unternehmer-Innentum und internationalen Handel in Einklang mit jenen universellen Werten zu bringen, die die zentralen Grundlage des europäischen Projektes bilden (etwa Gerechtigkeit, Würde, Fairness). Um dieses Ziel eines „zivilisierten Marktes“ zu erreichen, wird die Gründung einer neuen europäischen Institution vorgeschlagen.

Top-Runner Programm als Archetyp

Als Vorbild für eine derartige Institution dient das japanische Top-Runner Programm . Dieses ist seit über 14 Jahren in Japan etabliert und legt dort Energieeffizienzstandards für eine Reihe von Produkten (Kühlschränke, Klimaanlagen, Küchengeräte usw.) fest. Dabei werden gewisse (Minimum-)Standards für einen Zeitraum zwischen drei und zehn Jahren bestimmt – am Ende der Periode müssen schließlich alle angebotenen Produkte diese Kriterien erfüllen. Zur Festlegung von Standards werden jeweils die energieeffizientesten Produkte einer Produktklasse als Bezugspunkt herangezogen. Nach Ablauf dieser Periode beginnt der Prozess von neuem.

Europäische Aufsichtsagentur für Handelswaren

In Anlehnung an das Top-Runner Programm wird eine europäische Aufsichtsagentur für Handelswaren vorgeschlagen, deren Auftrag es ist, verpflichtende Mindeststandards für die auf dem europäischen Markt verkauften Güter zu setzen und so Moralität zu einer Dimension unternehmerischen Wettbewerbs zu erheben. Bei Nichteinhaltung der Standards innerhalb eines bestimmten Zeitraumes werden die Unternehmen sanktioniert; im Extremfall verlieren sie den Zugang zum europäischen Markt. Diese Agentur soll aus zwei Säulen bestehen: einer Division, die für die Einhaltung von bestimmten Arbeitsbedingungen (Mindestlohn, Arbeitszeitbeschränkungen, Sicherheitsstandards usw.) zuständig ist, und einer Division, deren Aufgabe es ist Mindeststandards hinsichtlich Nachhaltigkeit und Produktqualität zu etablieren (Energieeffizienz, Langlebigkeit, Auswirkung auf Gesundheit und Umwelt).

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Ein New Deal für die europäische Handelspolitik

Eine solche Agentur muss von beträchtlicher Größe sein um ihre Aufgaben adäquat zu erfüllen. Damit einher geht ein hoher Bedarf an personellen und finanziellen Ressourcen. Angesichts der derzeit desaströsen Arbeitsmarktsituation, von der speziell in Südeuropa auch in hohem Ausmaß junge und hochqualifizierte Menschen betroffen sind, könnte aber gerade darin die Chance dieses Projektes liegen: Gelingt es nämlich, die Sitze dieser Agentur auf jene Gebiete zu verteilen, in denen die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, wäre selbige auch eine arbeitsmarktpolitische Trumpfkarte. Ganz im Sinne des historischen Vorbilds eines „New Deal“ würde man somit nicht nur die wirtschaftlichen Spielregeln verändern, sondern auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten. Die Einführung der vorgeschlagenen europäischen Aufsichtsagentur beinhaltet das Potenzial, eine eigene europäische Linie in der internationalen Handelspolitik zu entwickeln um den globalen Freihandel fairer zu gestalten und das innovative Potential marktlichen Wettbewerbs dorthin zu lenken, wo es der Gesellschaft am meisten nützt.

Eine Langversion dieses Beitrages ist in Kapeller, J., Schütz B., Tamesberger, D. (2015). Von freien zu zivilisierten Märkten. Ein New Deal für die europäische Handelspolitik. Wien. ÖGfE Policy Brief, 21’2014 erschienen.