Verzerrte Wahrnehmungen zur Ungleichheit

11. Dezember 2014

Der Sachverständigenrat in Deutschland, die Wirtschaftsweisen, ist ein wichtiges Gremium von Experten, das „die Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“ erleichtern soll. Die deutschen Wirtschaftsweisen diagnostizieren aktuell verzerrte Wahrnehmungen zu Ungleichheit. Unterliegen sie selbst verzerrten Wahrnehmungen?

Im Jahresgutachten des deutschen Sachverständigenrates findet sich ein Kapitel zu Verteilung von Einkommen und Vermögen mit dem Zusatz „Verzerrte Wahrnehmung“. Auch die deutschen Wirtschaftsweisen nehmen sich des Ungleichheitsthemas an und dies freut, weil es die öffentliche Debatte stärkt.

Die Verteilungsthesen der Wirtschaftsweisen

2 Thesen der Wirtschaftsweisen zur Verteilung sollen geprüft werden:

  1. Im Euroraum werde die im Ländervergleich höchste Vermögensungleichheit in Deutschland durch verschiedene Faktoren relativiert.
  2. Die Bevölkerung überschätzte die Ungleichheit

Eine der wenigen, im Jahresgutachten zur Vermögensverteilung angeführten Quellen, ist eine Studie von Pirmin Fessler und mir zu „Cross Country Comparability of HFCS. Unsere Überlegungen werden leider selektiv rezipiert. Die Wirtschaftsweisen in Deutschland folgen zwar unseren Hinweisen auf unterschiedliche Haushaltsstrukturen und unseren Warnungen vor vorschnellen Ländervergleichen, wegen unterschiedlichen Eigentümerquoten bei Immobilien. Nicht aufgenommen wird hingegen unsere Schlussfolgerung, dass es bei der Vermögensverteilung keine armen und reichen Länder gibt, sondern, dass sich private Vermögenskonzentration in allen Ländern des Euroraums findet.

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Quelle: OeNB © A&W Blog
Quelle: OeNB

Die Grafik zeigt, dass wer in einem Land zu den Reichen zählt (x-Achse), dies auch auf internationaler Ebene tut (y-Achse). Wer in Österreich zu den Top-5% zählt, gehört auch im Euroraum zur Spitze. Dies ist ein bedeutender Unterschied zur Einkommensverteilung, wo etwa ein Inder mit einem vergleichsweise guten Einkommen in den USA zu den Armen zählen würde.

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Quelle. Branko Milanovic, The Haves and the Haves not © A&W Blog
Quelle. Branko Milanovic, The Haves and the Haves not

Vermögenskonzentration und soziale Absicherung?

Wie zu erwarten, bezieht sich der Sachverständigenrat auch auf Pensionsvermögen. Denn wenn Pensionsansprüche dem Nettovermögen zugerechnet werden, dann wird die Vermögensverteilung gleicher. Aber die Definition von Vermögen wird inkonsistent. Zukünftige Ansprüche an ein staatliches Pensionssystem sind weder übertragbar noch vererbbar. Sie können nicht als Besicherung verwendet oder veräußert werden. Sie erfüllen demnach schlicht die Definition von privatem Vermögen nicht. Zudem würden sie in Folge die Verteilung der Lebenseinkommen ungleicher machen. Sich beliebig verschiedene Einkommens- oder Vermögensbestandteile auszusuchen und zu kombinieren, ist unseriös.

Für eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema der Ungleichheit muss soziale Ungleichheit in ihren Dimensionen und Wechselwirkungen betrachtet werden. Ein Beispiel: Niedriges privates Vermögen in der unteren Hälfte der Vermögensverteilung kann Ausdruck einer vergleichsweise besseren staatlichen Absicherung sein. Die Haushalte können dann mehr konsumieren, weil sie durch den Wohlfahrtsstaat in elementaren Belangen (Bildung, Gesundheit) abgesichert werden. Das ist wichtig für eine zusammenschauende Ungleichheitsmessung. Privates und staatliches Vermögen wirken so zusammen und sind beide in unterschiedlicher Weise für den Wohlstand relevant. Doch die Konzentration von privatem Vermögen bleibt davon unberührt.

Vermögensaufbau durch Vererbung oder Sparen?

Der Sachverständigenrat schreibt, dass Beruf, Einkommen und Alter entscheidend für das Sparen zum Vermögensaufbau sei (Z 718). Dies trifft zu, doch Sparen ist nicht der Königsweg zum Vermögensaufbau. Unten wird eben entweder nicht gespart, oder ein wenig gespart um für Krisen eine Reserve zu haben. Vermögensaufbau ist da kaum möglich. Und völlig unterbelichtet in der Analyse bleibt die wichtigere Rolle des Erbens für die Vermögensakkumulation.

Überschätzte Ungleichheit?

Die Wirtschaftsweisen behaupten in ihrem Antwortkatalog zu den kritischen Fragen von Norbert Härig vom Handelsblatt, „dass ihre Darstellung „rein deskriptiver und damit positiver und berichtender Natur sind“. Ist dem so? John Bates Clark schrieb bereits 1899 in „The distribution of wealth“, dass die Frage der Gerechtigkeit „outside our inquiry, for it is a matter of pure ethics“ liegt. Diese positivistische Zielsetzung will streng zwischen Fakten und Werten trennen. Für Ökonomen hat dies den Vorteil, dass ihre Urteile scheinbar interessensfrei sind und sich von normativen Gerechtigkeitsurteilen wegen ihrer vorgeblichen Ideologielosigkeit abheben. Und es könnte folglich nicht gesagt werden, ob eine Vermögensungleichheit zu hoch ist oder zu niedrig ist.

Genau dies wollen die Wirtschaftsweisen aber nicht. Daher begnügen sie sich nicht mit einer Faktendarstellung, sondern wollen Fehlwahrnehmungen in der Bevölkerung entdecken, d.h. eine Überschätzung der Ungleichheit: Gefolgt wird hier den Ergebnissen einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Und dies ist besorgniserregend, denn die konzeptuellen Fehler dieser Studie sind so eklatant, dass sie den Wirtschaftsweisen auffallen hätten müssen: die TeilnehmerInnen einer Umfrage wurden gefragt, wie sie glauben, dass die deutsche Gesellschaft aussehe. Und die Ergebnisse zu den fünf vorgegebenen Formen der Gesellschaft wurden dann als Einschätzungen zur Einkommensverteilung referiert. Dem gegenübergestellt wurden die tatsächlichen Zahlen zur Einkommensverteilung. Nur werden die Einkommensklassen am Median entlang definiert. So muss das Bild einer breiten Mittelschicht entstehen.

Werden hingegen in etwa gleich große Einkommensklassen gebildet, erhielte man für Österreich eine klassische Einkommenspyramidenform.

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Quelle: STATISTIK AUSTRIA, Integrierte Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2011. © A&W Blog
Quelle: STATISTIK AUSTRIA, Integrierte Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2011.

Und noch gravierender: eine Gesellschaftsformation kann überhaupt nicht sinnvoll allein mit der Einkommensverteilung verglichen werden. Denn zur Beschreibung von Gesellschaften gibt es eine Vielzahl von weiteren Merkmalen (Klassen, Schichten, Institutionen …) und Dimensionen (Gesundheit, Bildung, Lebenszufriedenheit, Kindersterblichkeit, Vermögen …).

Ach ja, natürlich warnen die deutschen Wirtschaftsweisen wie in Österreich vor „Neiddebatten und Maßnahmen, welche die Renditechancen schmälern, wie etwa Vermögensteuern“. Der Neidvorwurf ist ein Evergreen, nur wäre er eigentlich in der Ideologie und nicht in der Wissenschaft beheimatet.