Über Öffentlichkeit, Staat und „privat“

15. Februar 2017

Der Widerspruch lautet nicht „Staat versus privat“. Politisch wäre das Gegenteil von privat. Anmerkungen zur Geschichte von politischer Öffentlichkeit.

Öffentlich oder privat – die Frage hat je nach dem Ort, an dem sie gestellt wird, eine andere Färbung. In Österreich klingt einem sogleich das Kampfwort des neueren Austrokonservativismus im Ohr. „Weniger Staat, mehr privat“ lautete der Titel eines Buchs von Wolfgang Schüssel und Johannes Hawlik aus dem Jahr 1983.

Selten wurde ein derart schlecht formulierter Slogan so populär. Man kann ein Eigenschaftswort nicht mit einem Hauptwort kontrastieren. „Weniger Bier – mehr Durst“ würde gehen, „Weniger Bier – mehr durstig“ geht keinesfalls. Aber wer hat schon Ohren, wenn der Augenschein trügt und die Ohren von einem Reim umschmeichelt werden?

„mehr privat“ als Kampfparole des neueren Austrokonservativismus

Im Jahr 1983 verbündete sich konservativer Überdruss an der bereits 13 Jahre währenden Alleinregierung Bruno Kreiskys mit der generellen Staatsskepsis einer noch immer feudal durchwachsenen Mentalität. Die Staatsbürger fühlten sich noch als Untertanen, und so konnte man ein Zuviel an Staat, gemeint war vor allem der Einfluss politischer Parteien auf die Verwaltung, als jenes Problem identifizieren, das der Modernisierung im Weg stand.

Subjektiv war der Slogan, der den Staat gegen das Private stellte, mehr als verständlich. Er konnte – wie übrigens der Nationalsozialismus – mit einem antifeudalen Reflex rechnen. Der Staat, das waren die Autoritäten von Gottes Gnaden, deren Vorteil musste die Bevölkerung als dem eigenen diametral entgegengesetzt empfinden.

In dieses Gefühl mischte sich der Appell an Freiheit als Gegensatz zu staatlichem Zwang. Elemente von Überdruss am allgegenwärtigen Einfluss der politischen Parteien und am Missmanagement von Parteifunktionären kamen dazu. Apologeten der Freiheit setzten in der auf die unmittelbare Nachkriegsphase folgenden Zeit totalitäre Regime wie Hitlerfaschismus und Stalinismus ohne weiteres mit staatlichen Auswüchsen gleich. Das Programm Friedrich August Hayeks und der Mont Pèlerin Society richtete sich explizit gegen den Totalitarismus, implizit gegen den demokratischen Parteienstaat.

Öffentlichkeit vs Markt, Freiheit vs Staat?

Dieses Programm des Neoliberalismus machte sich also eine Verschiebung zunutze: Der Staat, auch der demokratische, wurde mit Totalitarismus gleichgesetzt. Ihm gegenüber stand die Freiheit, die der Private für sich dagegen als Recht beanspruchen musste.

Nur diese Freiheit konnte das ökonomische Interesse des Einzelnen garantieren, und zugleich stellte man dieses ökonomische Interesse als die Voraussetzung für die Freiheit aller dar. Nur in einem kaum geregelten, „freien“ Markt konnte ein Ausgleich der Interessen stattfinden.

Die Unterschiebung wird im stilistischen Ungeschick der Phrase „Weniger Staat – mehr privat“ sichtbar; trotz ihres Ungeschicks erweist sie sich bis heute als attraktiv und dominiert die Debatte und vor allem die Gefühle. Schwerer als das stilistische Missgeschick des Slogans fällt sein inhaltlicher Missgriff ins Gewicht.

Denn das Gegenteil von Privatheit ist nicht der Staat, das Gegenteil von privat ist politisch, ist öffentlich. Der Staat ist Herrschaft, Verfassung, Verwaltung, Macht, Zwang. In der neuzeitlichen absolutistischen Staatsidee wird angenommen, die Regierten gäben ihre Souveränität gleichsam in einem Vertrag an den absoluten Herrscher ab, damit dieser sie davor bewahre, einander die Köpfe einzuschlagen.

Geschichtlich-philosophische Wurzeln der Debatte

Diese delegierte Souveränität, wie Thomas Hobbes sie exemplarisch in seinem „Leviathan“ formulierte, wird schließlich zur Volkssouveränität, in der es keines absoluten Herrschers mehr bedarf, sondern nur eines oder mehrerer Bevollmächtigter; der gemeinsame Wille soll sich in der rätselhaften volonté générale herstellen, im Allgemeinwillen, in der „behaupteten Identität von Herrschenden und Beherrschten“, wie es der marxistische Politologe Franz Neumann formulierte.

So sah es der vorrevolutionäre Aufklärer Jean-Jacques Rousseau. Aber Rousseau wollte keine Repräsentation gelten lassen. Nur in einem übersichtlichen Gemeinwesen konnte sich jene Art der Souveränität verwirklichen, die ihm vorschwebte, die unmittelbare Souveränität. In dem Augenblick, da es einen Herrn gibt, schrieb er, gibt es keinen (Volks-)Souverän mehr.

Noch immer empfinden wir die Wählerschaft als „den Souverän“. Wir leben in einem demokratischen Zeitalter, da Repräsentanten demokratischer Staaten gewählt werden und sich dem Wahlvolk gegenüber verantworten müssen. Wir leben, um es in den Worten von Jürgen Habermas zu sagen, in einem politischen „Gemeinwesen, dessen Bürger sich reziprok die gleichen Rechte einräumen“ und diese Prinzipien in der Verfassung festgelegen.

Nichts für Idioten: die Öffentlichkeit als gleichberechtigter Diskursraum

Der Ort, in dem dieses reziproke Einräumen von Rechten stattfindet, ist die Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist jener Raum, in dem die Bürgerschaft in einen gleichberechtigten Diskurs miteinander eintritt. Das erste Mal begegnet uns dieser Raum in der griechischen Polis, jenem Modell demokratischer Öffentlichkeit, auf den sich alle Demokratien bezogen haben.

Politisch ist hier, wer sich in der Öffentlichkeit handelnd zeigt; der Bereich der Reproduktion und des Haushalts, der Lebensbedürfnisse ist der private Bereich. Der Gegensatz zum politischen Lebewesen ist der Privatmann, der Idiotes. Im Haus wurde nicht gehandelt, hier wurde gearbeitet, sagt Hannah Arendt in ihrer Beschreibung der Polis. Im Haus war der Mann der Herrscher. In der Agora, in der Öffentlichkeit der Polis, ließ er seine privaten Umstände hinter sich und wurde zum allen gleichen Bürger, der mit den anderen Bürgern über Maßnahmen und Gesetze verhandelte und die nötigen Beschlüsse fasste, für die er dann mit Leib und Leben einzutreten hatte.

„Denn wir allein halten denjenigen, der an den Angelegenheiten des Staates gar keinen Teil nimmt, nicht für einen stillen und ruhigen, sondern für einen unbrauchbaren Bürger“, sagte Perikles in seiner berühmten Gefallenenrede, in der er die Vorzüge der attischen Demokratie schildert. Der politische Bereich der Griechen glich „einer immerwährenden Bühne, auf der es gewissermaßen nur ein Auftreten, aber kein Abtreten gibt“ (Hannah Arendt). Diese Bühne und die dort beschlossenen Handlungen verliehen ihren Urhebern einen permanenten Erscheinungsraum, wie Arendt das nennt. Deswegen behauptete Perikles, die griechischen Demokraten würden keines Homers bedürfen, sie zu rühmen.

Der Staat ist nichts anderes als jener Zustand (status, daher der Name), den die politische Macht annimmt. Im demokratischen Staat hängen wir der Ansicht an, die Gemeinschaft aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kontrolliere diese Macht. Das tut sie oder sollte sie tun mithilfe der Öffentlichkeit, in der sie über das kommuniziert, was dem öffentlichen Wohl oder dem Allgemeinwohl am ehesten entspricht.

Der Staat als spezifische Form privater Interessenentfaltung

Wer Staat und privat als Alternativen gegenüberstellt, meint also, der öffentlich kontrollierte Staat sei von Übel und müssen durch einen von privaten Interessen kontrollierten oder besetzten Staat ersetzt werden. Das ist eine Machtfrage. Der Staat und private Interessen bilden keine Gegensätze, der Staat ist nur die Form, in der sich diese Interessen entfalten. Deswegen kann Demokratie mit Franz Neumann als ein „Hemmnis wirtschaftlichen Zugriffs auf den Staat“ betrachtet werden.

Die Öffentlichkeit sollte jene Sphäre sein, in der darüber argumentiert, räsoniert und entschieden wird. Sie bringt Licht in jene dunklen Bereiche der Herrschaftsausübung, die im Feudalismus hinter den Türen von Kabinetten lagen. In den demokratischen Massengesellschaften, die nach Millionen, nicht nach Zehntausenden zählen, ist diese Bühne ausgedehnt; die Massenmedien repräsentieren die Bühne der Agora, aber sie können die kleinen Gemeinwesen nicht ersetzen. John Dewey, amerikanischer Demokrat und Philosoph, sah schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gefahr einer erneuten Verdunkelung der Öffentlichkeit und behauptete, nur die lokale Gemeinschaft könne die Öffentlichkeit retten.

Funktionierende Öffentlichkeit als Vorbedingung für Gerechtigkeit und Allgemeinwohl

Wie auch immer: Fest steht, nur eine funktionierende öffentliche Sphäre kann für Gerechtigkeit und für das allgemeine Wohl sorgen. Nur sie kann politische Macht kontrollieren. Das Problem dabei: Die politische Bühne unterliegt längst eigenen Gesetzen. Es darf bezweifelt werden, ob sie noch jenen Anforderungen genügt, die wir an Öffentlichkeit und Demokratie stellen. In einer von PR gekauften, von bezahlter Intelligenz manipulierten, von Thinktanks zugerichteten Sphäre können wir auch in aller Öffentlichkeit beraubt, also privatisiert werden. Von neueren technischen Varianten algorithmisierter Kommunikation ganz abgesehen.

An die Stelle von öffentlichen, politischen Personen, die gemeinsam über das Allgemeinwohl, über das für die Polis Beste verhandeln, sind längst Leute getreten, die Politik dazu benützen, ihre privaten wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.

Diese Spezies erscheint uns nicht nur in der Gestalt von Menschen wie Donald Trump. Auch sozialdemokratische Führer verspielen ihre Glaubwürdigkeit, wenn man bedenkt, dass sowohl das Ehepaar Blair als auch das Ehepaar Clinton unvermögend waren, als sie ihre politischen Ämter erhielten; heute sind beide Paare Multimillionäre. Ihr privates Wohl hat sich bedeutend verbessert; was man von den Interessen der von ihnen Vertretenen im gleichen Zeitraum nicht behaupten kann.

Dieser Beitrag erschien in ähnlicher Form in der Falter-Sonderbeilage „Öffentlich/Privat – ein paradoxes Verhältnis“, die auch als PDF heruntergeladen werden kann. Die Beilage ist Teil der Reihe “Ökonomie – Eine eine kritische Handreichung”.