Das Senioritätsprinzip - finanziell überbewertet

27. Oktober 2015

Sind die Arbeitskosten von älteren Beschäftigten zu hoch? Ist der altersbedingte Lohnanstieg (Senioritätsprinzip) tatsächlich der zentrale Grund für die vergleichsweise niedrige Beschäftigungsquote der Menschen ab 55? Der industrienahe ThinkTank Agenda Austria und andere ArbeitgeberInnenvertretungen behaupten das immer wieder. Sie fordern daher eine Verringerung der Lohnzuwächse Älterer und treten für eine Lockerung des Kündigungsschutzes für diese Gruppe ein. Eine Studie des Instituts für Höhere Studien im Auftrag des Sozialministeriums zeigt aber, dass das Senioritätsprinzip in vielen Wirtschaftsbereichen kaum existiert und in den meisten anderen durchaus seine Berechtigung hat.

Seniorität als Grund für niedrige Beschäftigung?

In einer aktuellen Aussendung beklagt Agenda Austria die niedrige Beschäftigungsquote von Personen zwischen 55 und 64 Jahren in Österreich und verweist auf weit höhere Quoten in Ländern wie Deutschland, Schweden, oder den Niederlanden. Der wirtschaftsliberale Think Tank argumentiert, dass das Auseinanderklaffen von Arbeitskosten und Nettolöhnen den Faktor Arbeit zu teuer machen würde. Eine Entwicklung, so Agenda Austria, die für ältere Beschäftigte am stärksten gilt, da die Produktivität bei dieser Gruppe nicht mehr mit dem Lohnanstieg mithalten kann[1]. Als Konsequenz wird gefordert, die Lohnzuwächse für Ältere zu reduzieren und den Kündigungsschutz für diese Gruppe zu lockern.

Senioritätsbestimmungen variieren stark

Eine aktuelle Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) aus dem Frühjahr 2015 beschäftigt sich genau mit dieser Thematik. Sie zeigt, dass Seniorität in Österreich sehr unterschiedlich geregelt wird. Bestimmungen gibt es sowohl auf gesetzlicher Ebene, wie auf jener von Kollektivverträgen. Die Ausprägung hängt einerseits vom Beschäftigungsstatus (ArbeiterIn/Angestellte) ab und andererseits von der untersuchten Branche.

So gibt es für ArbeiterInnen mit zunehmendem Alter wenn überhaupt, nur sehr geringe Lohnsteigerungen (im Bau, beispielsweise überhaupt keine), die aber im Wesentlichen mit der Betriebszugehörigkeit zusammenhängen. Bei Angestellten variieren die Gehaltssteigerungen zwischen 17 % in der Gastronomie und 83 % bei Banken und Versicherungen.

Berufserfahrung verliert an Bedeutung

Die Studie des IHS zeigt auch, dass der Zusammenhang zwischen Betriebszugehörigkeit und Berufserfahrung auf der einen und Lohnzuwachs auf der anderen Seite in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen ist. Die Einkommenskurve ist also heute viel flacher, als sie es früher war.

Seniorität als Folge von Marktprozessen

Die Untersuchung des IHS zeigt weiters, dass es einige Bereiche gibt, in denen es deutliche Lohnsteigerungen für ältere ArbeitnehmerInnen gibt. Diese lassen sich aber nicht aus den Regelungen der Kollektivverträge erklären (dort sind meist nur geringe Anstiege vorgesehen), sondern aus Vermittlungsprozessen auf dem (Arbeits)Markt. Das bedeutet, dass die Lohnzuwächse Älterer auf deren, von der ArbeitgeberInnenseite honorierten, Leistungen zurückzuführen sind.

Geringer Zusammenhang zwischen Seniorität und Arbeitslosigkeit

Bestätigt werden die Studienergebnisse durch den vergleichsweise geringen Anteil von älteren Arbeitslosen, deren Arbeitsverträge zuvor bedeutende Senioritätsregelungen beinhalteten. Nur 11,5 % aller arbeitslosen Personen zwischen 55 und 64 Jahren hatten vorher Verträge, die ausgeprägte altersbezogene Lohnerhöhungen vorsehen. Am weitaus häufigsten arbeitslos sind ältere Personen, die zuvor kaum von altersbezogenen Reallohnsteigerungen profitieren konnten. Das bedeutet, dass kein positiver Zusammenhang zwischen Lohnanstieg und Arbeitslosigkeit feststellbar ist.

Fazit

Die Aussage, dass die Lohnkosten älterer ArbeitnehmerInnen zu hoch sind und deshalb die Beschäftigungsquote dieser Gruppe gering ist, ist empirisch nicht haltbar.

  • Es gibt große Unterschiede – zwischen ArbeiterInnen und Angestellten, zwischen verschiedenen Branchen – mit stark voneinander abweichenden Senioritätsbestimmungen,
  • Berufserfahrung findet heute viel weniger Eingang in die Lohnentwicklung, als noch vor 20 Jahren,
  • höhere Löhne für ältere ArbeitnehmerInnen sind meist die Folge der Anerkennung von Leistung und nicht von kollektivvertraglichen Vereinbarungen und
  • die Statistik zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen guter Beschäftigungssituation Älterer und steigenden Löhnen gibt sowie zwischen schwacher Lohnentwicklung und erhöhtem Risiko von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein.

Für die Aussendung von Agenda Austria gilt, wie so oft: eine differenziertere Analyse ist notwendig.

[1] In derselben Aussendung wird aber gleichzeitig gezeigt, dass in den Niederlanden ein stärker ausgeprägtes Senioritätsprinzip bei Löhnen besteht als in Österreich, wodurch Agenda Austria die eigene Position konterkariert.