Radikaler Reformismus in der wissenschaftlichen Verteilungsdebatte

18. September 2015

Wenn Sir Tony Atkinson ein Buch schreibt, ist ihm die Aufmerksamkeit der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft gewiss. In „Inequality: What can be done?“ trägt der Doyen der Verteilungslehre seine zentralen Forschungsergebnisse zusammen und schlägt eine Reihe von wirtschaftspolitischen Maßnahmen vor. Auch wenn die von Atkinson, der heute Hauptredner bei der Eröffnung des neuen Forschungsinstituts „Economics of Inequality“ (INEQ) an der WU Wien ist, vorgeschlagenen Mittel im Detail diskutierbar sind, so ist ihr Ziel klar: eine gleichere Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen.

Seit der Veröffentlichung von „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty muss jeder ernsthafte Debattenbeitrag zu Verteilungsfragen polit-ökonomische Überlegungen berücksichtigen. Atkinson nimmt diese Herausforderung in seinem neuen Buch nicht nur an, sondern er schafft konkrete Anknüpfungspunkte für die wirtschaftspolitische Auseinandersetzung mit der Verteilungsproblematik. Sein Schüler Piketty bezeichnet das 15 Maßnahmen umfassende Paket als „radikalen Reformismus“ – aber was soll das sein? Sind radikale Veränderungen und schrittweise Reformen der herrschenden Verhältnisse nicht zwei unterschiedliche Zugänge zu Wirtschaftspolitik?

Was heißt radikal?

Radikalismus scheint in der wirtschaftspolitischen Diskussion unterschiedlich definiert zu werden. So gelten Forderungen, deren Umsetzung als nicht realistisch erachtet wird, als radikal. Demnach ist Piketty mit seiner Forderung nach einer globalen Vermögenssteuer utopisch oder radikal, während Atkinson seine Maßnahmen auf nationaler Ebene ansetzt und als realistischer oder weniger radikal bezeichnet wird. Das widerspricht jenem Verständnis von Radikalität, nach dem eine Problemstellung an der Wurzel angepackt wird, also Wurzelbehandlung statt Symptombekämpfung betrieben wird. Demzufolge gilt wohl weder eine globale noch eine nationale Vermögenssteuer als radikal, solange sie die Besitzverhältnisse nicht substanziell ändert. Schließlich verwendet auch die politische und ökonomische Elite einen Radikalismus-Begriff: Hier wird jeder noch so vorsichtige Versuch einer Korrektur der Verteilungsschieflage als radikal diffamiert. Die Ideen von Piketty und Atkinson werden somit von konservativer Seite – unter anderem auch bei den Wirtschaftsgesprächen in Alpbach – immer wieder als radikal bezeichnet.

Dabei bestätigen neue wissenschaftliche Erkenntnisse, dass sich die Verteilungssituation immer mehr zuspitzt. Die OECD warnt in einem aktuellen Bericht vor gesellschaftlicher Polarisierung und sozialen Spannungen, weil die unteren 40% der Einkommensverteilung sukzessive abgehängt werden. Der IWF kommt jüngst zum Ergebnis, dass die Zugewinne bei den obersten Einkommensschichten nicht nach unten „sickern“ und der „Trickle-Down-Effekt“ ein Mythos ist. Die Daten zeigen auch, dass politische Entscheidungen für die steigende Ungleichheit mitverantwortlich sind: Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen der Senkung der Spitzensteuersätze und dem steigenden Einkommensanteil des Top 1% (siehe Abbildung). Diese einschneidenden Entwicklungen – das Davonziehen des obersten Verteilungsrands, das Zurückbleiben breiter Bevölkerungsteile – erfordern drastische Gegenmaßnahmen.

Veränderung der Spitzensteuersätze und des Einkommensanteils der Top 1% (1964-2009)

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: IWF 2015 © A&W Blog
Quelle: IWF 2015

Wie kann Wirtschaftswissenschaft radikal sein?

Wirtschaftswissenschaft soll in dem Sinne radikal sein, in dem sie die Wurzeln und Hintergründe ökonomischer Problemstellungen erforscht und offenlegt anstatt sie durch mathematische Modelle oder ideologische Erklärungsmuster zu verwässern. Insofern sind Piketty und Atkinson sicherlich die herausragenden Vertreter ihrer Disziplin, weil sie die polit-ökonomischen Ursachen von Ungleichheit im Kapitalismus anhand reichhaltiger Daten analysieren.

Aber es geht auch darum, eine klare Sprache zu sprechen. Klar zu sagen, dass eine Steuer auf sehr große Vermögen, die nicht die Substanz sondern nur einen Teil der Erträge abschöpft, die Vermögensverhältnisse nicht nachhaltig verändert. Dass Erbschaften nicht nur ungleich verteilt sind, sondern dass leistungslose Vermögenszuwächse den Legitimationsversuch von Ungleichheit über Leistung schwächen und gesellschaftliche Verhältnisse einzementieren. Dass das Geld in den Tresoren der Reichen nicht neutral ist, sondern auch wirtschaftliche und politische Macht (bspw. durch Lobbying) mit sich bringt. Dass die politische Macht gezielt dazu eingesetzt wird, die großen Vermögen abzusichern und Umverteilungsmaßnahmen zu blockieren. Dass eine Steuersenkungspolitik für Spitzeneinkommen keinen Trickle-Down-Effekt für die unteren Einkommensschichten auslöst. Dass das oberste Prozent – und noch stärker das reichste Promille – über Generationen hinweg Dynastien aufbaut, die Macht und Geld für eine Elitenorientierung der Wirtschaftspolitik einsetzen. Dass die Verteilungsfrage implizit auch die Eigentums- und Produktionsverhältnisse in den Fokus rückt. Diese Radikalität der Darlegung von Tatsachen sollte ein Anspruch der Wirtschaftswissenschaft sein, da nur so die Grundlage für eine informierte politische Debatte geschaffen werden kann. Piketty und Atkinson erfüllen diesen Anspruch in den jüngst erschienenen Büchern nur teilweise.

Dies führt zur Frage, ob sich die Forderungen der Verteilungsforschung an den realen Machtverhältnissen der Wirtschaftspolitik orientieren sollen, oder eine Vision von Gesellschaft und Ökonomie vermittelt werden soll. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch werturteilsfreier Wissenschaft und dem Wunsch politischer Gestaltung ist eine seit mehr als 200 Jahren intensiv geführte Debatte in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Tony Atkinson gibt sich defensiv, im Buchtitel heißt es „What can be done“ und nicht „What shall be done“, seine Forderungen nennt er Vorschläge. Es scheint, dass der wissenschaftliche Befund das Verteilungsproblem an den Macht- und Eigentumsverhältnissen ausmacht, die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aber außerhalb der realpolitischen Spielräume liegen. Aber muss es nicht auch ein Ziel der radikalen Wirtschaftswissenschaft sein, den Diskurs zu verschieben, die herrschenden Verhältnisse herauszufordern, das Undenkbare denkbar zu machen?

Institutsgründung schafft Möglichkeiten

Die Debatte über die Verteilung ökonomischer Ressourcen hat sich in den letzten Jahren massiv intensiviert. Ein 1997 erschienener Artikel von Tony Atkinson trug den Namen „Bringing income distribution in from the cold“, nachdem Verteilung in den Jahrzehnten zuvor kaum ein Thema in der Wirtschaftswissenschaft war. Eine steigende Anzahl an ForscherInnen widmet sich diesem Thema und analysiert auch das polit-ökonomische Fundament von Ungleichheit. Auch interdisziplinäre Ansätze zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen Vermögensungleichheit und Machtungleichgewichten in politischen Entscheidungsprozessen werden zunehmend verfolgt.

In der österreichischen Verteilungsforschung wird das heute eröffnete Forschungsinstitut INEQ zweifelsfrei eine wichtige Position einnehmen. Die ForscherInnen haben langjährige Expertise im Bereich der Einkommens- und Vermögensverteilung und sind sich der gesellschaftlichen Relevanz ihres Forschungsgebiets bewusst. Das Forschungsgebiet des Instituts erstreckt sich über ökonomische, ökologische und soziale Dimensionen von Ungleichheit und lässt auf spannende Ergebnisse hoffen. Es wird die Aufgabe der WissenschafterInnen sein, mittels fundierten wissenschaftlichen Analysen sachliche Beiträge zum öffentlichen Diskurs zu leisten. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik wird es sein, die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in radikale Reformmaßnahmen für eine gerechtere Gesellschaft zu übersetzen.