PISA 2012 bestätigt bekannte Probleme des österreichischen Schulsystems

29. Januar 2014

Vor wenigen Tagen wurde der Österreichische Filmpreis verliehen. Der große Gewinner des Abends, der Film „Deine Schönheit ist nichts wert“ von Hüseyin Tabak, ein Drama um kurdisch-stämmige MigrantInnen, zeigt dabei sehr eindringlich, wo die Hürden für Menschen mit Migrationshintergrund im österreichischen Bildungssystem liegen, und nimmt dabei die PISA Ergebnisse ein Stück weit voraus: Vier wesentliche Benachteiligungsformen des österreichischen Schulsystems zeigen sich zum wiederholten Male bei der Pisa-Studie 2012. Sozioökonomisch benachteiligter Haushalt, bildungsferne Eltern und Migrationshintergrund beeinflussen die Leistungen der SchülerInnen negativ. Ein weiterer deutlicher Unterschied zeigt sich entlang der Kategorie Geschlecht, wo Mädchen in Lesen und Burschen in Mathematik besser abschneiden. Welche empirischen Befunde liegen uns vor und wie soll die Bildungspolitik auf die Ergebnisse reagieren? 

 

PISA (Programme for International Student Assessment) untersucht Mathematik-, Lese- und Naturwissenschaftskompetenzen von fünfzehn- bzw. sechzehnjährigen SchülerInnen am Ende ihrer Pflichtschulzeit. Das Kernstück dieser Studie bilden neben dem internationalen Vergleich wichtige Kontextinformationen, wie demographische Daten, sozialer Hintergrund, Merkmale der häuslichen und schulischen Umwelt, Einstellung der SchülerInnen u.v.m. Diese empirischen Befunde ermöglichen den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die Schulleistungen der SchülerInnen zu ermitteln. Auf Grund der Studienergebnisse können unterschiedliche Gruppen genauer betrachten und in Folge benachteiligte Gruppen durch eine faktenbasierte Bildungspolitik gezielt gefördert werden. In diesem Blog-Beitrag werden die Auswirkungen dieser Eigenschaften auf die PISA-Leistungen näher untersucht.

Was sind individuelle Kontextfaktoren, die das Abschneiden der SchülerInnen in der Schule beeinflussen? Zum einen sind das der sozioökonomische Status der Familie, der Bildungshintergrund der Eltern sowie der Migrationshintergrund der SchülerInnen und zum anderen ist es das Geschlecht der Befragten, die uns eine Erklärung für die Leistungsunterschiede geben.

Sozioökonomischer Status und Mathematikkompetenz 

Eines der wichtigsten Qualitätskriterien für ein Bildungssystem ist es allen SchülerInnen, unabhängig von ihrem sozialen und familiären Hintergrund, gerechte Chancen für einen Bildungserfolg zu eröffnen. Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen aber, dass in allen Ländern der soziale Hintergrund die Leistungen der SchülerInnen stark beeinflusst.

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Abb. 1: Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Mathematikkompetenz; Regressionsgradienten, Quelle: BIFIE, PISA 2012

Diese Abbildung verdeutlicht diesen Zusammenhang: Je flacher der Regressionsgradient ist, desto niedriger ist der Einfluss des sozioökonomischen Status auf die Mathematikkompetenz der SchülerInnen. Schweden und Finnland weisen einen flachen Gradienten auf, somit ist hier ein geringer Einfluss des sozioökomischen Status auf die Mathematikkompetenz der SchülerInnen zu beobachten. In Österreich sehen wir hingegen einen großen Einfluss des sozioökomischen Status auf die Mathematikkompetenz der SchülerInnen. Abbildung 1 zeigt uns, dass SchülerInnen, die einen niedrigen sozioökonomischen Status haben, deutlich schlechtere Leistungen erbringen. In Mathematik erreichen Jugendliche, die den niedrigsten sozioökonomischem Status haben, mehr als 110 Punkte weniger als jenemit Eltern, die dem höchsten sozioökonomischen Status zugerechnet werden.  Dies entspricht einem Leistungsunterschied von mehr als zwei Schuljahren.

Bildung der Eltern und SchülerInnenleistungen

Neben dem sozioökomischen Status hat der Bildungshintergrund der Eltern einen großen Einfluss auf die SchülerInnenleistungen in allen drei Bereichen. Abbildung 2 zeigt den Zusammenhang zwischen den Mittelwerten in Mathematik-, Lese- und Naturwissenschaftskompetenz und dem Bildungsabschluss der Eltern. Wir sehen, dass die Höhe der mittleren Leistungen in allen drei Fächern vom höchsten Bildungsabschluss der Eltern abhängig ist. Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto höher sind die Leistungen der SchülerInnen. In allen drei Bereichen entspricht das wiederum einem Leistungsunterschied von mehr als zwei Unterrichtsjahren.

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Mathematik-, Lese- und Naturwissenschaftskompetenz und Bildung der Eltern, Quelle: BIFIE, PISA 2012

Leistungen von SchülerInnen mit Migrationshintergrund

Der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist ständig im Steigen begriffen und beträgt bei PISA 2012 17%. SchülerInnen mit Migrationshintergrund schneiden bei den Leistungstests deutlich schlechter ab als ihre KollegInnen ohne Migrationshintergrund. Bei Mathematikkompetenzen der SchülerInnen nach Migrationshintergrund kann zwischen zwei Ländergruppen unterschieden werden. Auf der einen Seite Kanada, Irland Neuseeland, Lettland und Israel, wo es keine signifikanten Unterschiede bei Mathematikleistungen der SchülerInnen gibt.Auf der anderen Seite Österreich, Deutschland und 13 weitere Länder, wo die Gruppe der einheimischen SchülerInnen deutlich bessere Ergebnisse erzielt. In Österreich liegen SchülerInnen mit Migrationshintergrund (1. Generation: 454, 2. Generation: 458 Punkte) deutlich hinter einheimischen SchülerInnen (516 Pkte). Der Unterschied entspricht mehr als eineinhalb Unterrichtsjahre.

Diese großen Leistungsdefizite der SchülerInnen mit Migrationshintergrund können nur zu einem geringen Teil mit dem soziökonomischen Status  erklärt werden. Der dunkelblaue Balken in der Abbildung 3 zeigt uns, dass die Leistungsdifferenz zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund in Österreich zu den größten in Europa gehört. Die hellblauen Balken zeigen den Punkteunterschied unter Konstanthaltung des sozioökonomischen Status und machen deutlich, dass in Österreich eine Differenz von 42 Punkten verbleibt. Das heißt: zwei Drittel des Leistungsrückstandes von SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist auf ihrem Migrationsstatus zurückzuführen.

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Mittelwertsunterschiede in Mathematik zwischen Einheimischen und Migrantinnen und Migranten absolut und unter Berücksichtigung des sozioökonomischen Status, Quelle: BIFIE, PISA 2012

Gender Gap

Eine weitere auffällige Besonderheit des österreichischen Schulsystems ist der deutliche Gender Gap in den Leistungen. Während Mädchen seit Anbeginn der PISA Testungen ihre männlichen Klassenkollegen im Lesen abhängen, hinken Mädchen Buben bei den Mathematikleistungen mittlerweile ein halbes Jahr hinterher.

Der Anteil der Risikoschülerinnen hat um fast drei Prozentpunkte auf 21,2 Prozent zugenommen und im Vergleich zu 2003 verringerte sich der Anteil der Spitzenschülerinnen um über einen Prozentpunkt auf 10,6 Prozent. Dies ist vor allem deshalb überraschend, weil seit Jahren von den Mädchen als so genannten Bildungsgewinnerinnen die Rede ist, und Buben – meist mit einer Überrepräsentanz von weiblichen PädagogInnen begründet – häufig als „die Sorgenkinder der Nation“ stigmatisiert werden.

Lagen die Buben vor zehn Jahren noch acht Punkte vor den Mädchen, so haben sie diesmal einen Vorsprung von 22 Punkten erreicht, ihn also fast verdreifacht: “In keinem anderen Land hat sich das Geschlechtergefälle so drastisch verstärkt wie in Österreich”, kann man dazu im PISA-Länderbericht nachlesen.

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Differenz in der Mathematikkompetenz Mädchen und Burschen, OECD Schnitt, Quelle: BIFIE, PISA 2012

Was darüber hinaus besonders beunruhigen sollte, ist, dass die intrinsische Motivation der österreichischen Schülerinnen, sprich: eine Sache um ihrer selbst Willen oder aus Freude und Interesse nachzugehen OECD-weit am allergeringsten ausgeprägt ist.

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Interesse und Freude an Mathematik im OECD Schnitt, Quelle: BIFIE, PISA 2012

Lediglich 32% der Mädchen stimmten der Aussage „Mich interessiert das, was ich in Mathematik lerne“ zu. Von einer volkswirtschaftlichen Nutzenperspektive aus betrachtet sind gute Mathematik-Kenntnisse eindeutig von Vorteil, wie dies auch die PIAAC-Untersuchung – „PISA für Erwachsene“ – gezeigt hat: Gute RechnerInnen haben deutlich erhöhte  Chancen auf einen erfüllenden und gut bezahlten Arbeitsplatz.

Generell lag in Deutschland und in Österreich in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit verstärkt auf Buben und deren Leistungsdefizite im Lesen. Den Mädchen als so genannte „Bildungsgewinnerinnen“ und ihrem Leistungsabfall in „Naturwissenschaften“ wurde verhältnismäßig weniger Aufmerksamkeit zuteil.

Aber woran mag es nun liegen, dass Mädchen in Österreich im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossinnen in den meisten OECD Ländern so viel schlechtere Mathematikergebnisse erzielen und vor allem, so viel weniger Freude an dem Schulfach haben?

Einen wichtigen Beitrag dazu dürfte die Tatsache leisten, dass die Praxisrelevanz von Mathematik in den Schulbüchern relativ wenig vermittelt wird – was auch das mangelnde Interesse an den vermittelten Inhalten nahelegt. Bei einer Evaluierung österreichischer Schulbücher hat die OECD folgendes festgestellt: „Evaluations of school books from a gender perspective make evident that there exists an under-representation of women and girls in school books and that stereotyped pictures on gender are presented.”

Mathematik wird in Österreichs Schulen also noch immer stark männliche Domäne dargestellt. Falls der Unterrichtsgegenstand also von den Mädchen selbst aufgrund dieser Darstellung in den Lehrbüchern nachvollziehbarerweise als „unweiblich“ wahrgenommen wird, stellt sich die Frage, ob sie es als vereinbar mit den eigenen Geschlechtsvorstellungen halten, darin gut zu sein. Renate Tanzberger, Universitätslektorin mit der Lehrveranstaltung “Genderfragen und Mathematikunterricht”, hat dazu folgenden Gedanken formuliert: „Mathematik galt lange Zeit als Männerdomäne. Auch wenn sich die Anzahl an Frauen, die Mathematik in Österreich studiert inzwischen stark erhöht hat (und die Mehrzahl der Mathematik-Lehrkräfte Frauen sind), ist Mathematik stark mit Männern verknüpft. Namen von Mathematikern kennen viele (Pythagoras, Gauß, Euklid,…), Mathematikerinnen sind wenig bekannt. Umso notwendiger wäre es, auch im Mathematikunterricht Mathematikerinnen zu präsentieren (berühmte historische, aber auch aktuell tätige). Warum nicht eine Frau in den Unterricht einladen, die in einem Beruf arbeitet, in dem sie viel Mathematik benötigt?“

Wenn all diese negativen Faktoren nun auch noch auf eine – von Studien konstatierte – höhere Schulangst der Mädchen (vor allem ab der 7. Schulstufe) trifft, ist nachvollziehbar, dass fast automatisch dazu die Freude an ihnen als „wesensfremd“ vermittelten Schulfächern abnimmt. Hierzu Eurydice: “Girls also mention more frequently school stress or psychosomatic diseases (headache, stomach ache, fatigue, sleep disturbance, loss of appetite). During lower secondary school the perception of girl’s and boy’s self esteem or self-concept of performance grows apart. Boy’s perception remains stable or increases slightly while girl’s self-esteem and self-concept of performance declines.”

Conclusio

Unsere Gesellschaft weist eine große Anzahl von Chancenungerechtigkeiten auf, die von einer faktenbasierten Bildungspolitik und einem gut durchdachten Bildungssystem bedeutend verringert werden müssten. Migrationshintergrund, soziale Herkunft, niedrige Bildung der Eltern, Behinderungen, Geschlechterrollen u.v.m. stellen in Österreich für junge Menschen ein Hindernis auf dem Weg zu höherer Bildung dar.  Das gegenwertige Bildungssystem schiebt die Verantwortung für den Bildungserfolg der Kinder den Eltern in die Schuhe. Das reproduziert jedoch noch mehr Diskriminierung und Ungleichheit, statt gerechte Bildungschancen für alle zu ermöglichen. Weil Eltern mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, Migrationshintergrund oder niedrigem Bildungsabschluss, trotz ihres guten Willens, nicht die Möglichkeit haben ihren Kindern Hilfe anzubieten, bleiben diese oft auf der Strecke.

Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Haushalten haben weder die Möglichkeit eines Theaterbesuches noch spannende Bücher im Bücherschrank, bekommen weder Nachhilfe von den Eltern noch Privatunterricht von einem Nachhilfelehrer/einer Nachhilfelehrerin, haben weder ein Arbeitszimmer noch gut ausgebildete Verwandte, die als Vorbilder dienen können. Diesen Eltern fehlen jegliche Mittel und Ressourcen, um den Bildungsansprüchen ihrer Kinder gerecht zu werden. Auch das Bildungssystem reproduziert noch mehr Ungleichheit: Obwohl Kinder gleiche Ausgangsbedingungen im Bildungssystem haben, profitieren dennoch nur Privilegierte von dem „gleichen Wettbewerb unter Ungleichen“.