Ökonomische Ungleichheit spaltet nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Wirtschaftswissenschaft

13. Januar 2014

Weniger als eine Stunde dauert die Autofahrt vom piekfeinen Montgomery County in die südöstlichen Stadtviertel der US-Hauptstadt Washington. Es ist eine Reise von einer der reichsten in eine der ärmsten Regionen der USA und mit jedem Kilometer sinkt die Lebenserwartung der Bevölkerung um sieben Monate: von 81 auf 60 Jahre. Noch näher liegen der noble New Yorker Stadtteil Upper East Side und das arme South Bronx beisammen, die nur einen Spaziergang voneinander entfernt sind. Überquert man den Harlem River nach Norden, sinkt das Medianeinkommen der ansässigen Menschen um mehr als 80 Prozent.

Neoliberale Rechtfertigung

Die Gegensätze in der größten Volkswirtschaft der Welt sind eindrücklich, aber ein Blick auf die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Menschen rund um den Globus offenbart eine weitaus größere Polarisierung. Von (neo-)liberalen ÖkonomInnen wird die Ursache für soziale Ungleichheit in der ungleichmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung zwischen den Ländern ausgemacht. In einem berühmt gewordenen Aufsatz stellte der Ökonom Simon Kuznets in den 1950er Jahren einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Einkommensungleichheit her. Demnach sei in der Entwicklung von Agrar- zu Industriegesellschaften ein vorübergehender Anstieg der Ungleichheit unvermeidbar. Laut der umstrittenen Theorie schließt sich die Schere zwischen Arm und Reich in industrialisierten Gesellschaften wieder. Dafür gibt es empirisch allerdings keine Belege. Im Gegenteil, gerade in den weltweit führenden Volkswirtschaften wurde in den letzten Jahren ein weiterer Anstieg der Einkommensungleichheit verzeichnet.

Die neoliberale Seite rechtfertigt die steigende Ungleichheit oft mit den Theorien des Harvard-Philosophen John Rawls. Demnach müssten von steigender Ungleichheit auch die Armen in einer Gesellschaft profitieren können. Die Idee dahinter wurde als die umstrittene „trickle down“-Theorie bekannt: der Wohlstand soll von den Reichen zu den unteren Einkommensschichten durchsickern. Es wird behauptet, dass Einkommensungleichheit zu  härterer Arbeit, höherer Produktivität und größeren Investitionen anspornt, was schließlich in Wachstum und allgemeinem Wohlstand resultiert. Und von Wirtschaftswachstum würden schlussendlich hauptsächlich die Armen profitieren, da neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der frühere US-Präsident John F. Kennedy pflegte zu sagen: „Die Flut hebt alle Boote“. Hierzulande spricht man spöttisch von der Pferdeäpfel-Theorie: Wenn man dem Pferd genug Hafer füttert, wird auch etwas auf der Straße landen, um die Spatzen zu füttern. Aus diesem Grund wehren sich die Neoliberalen auch vehement gegen jegliche Ansätze zur Umverteilung von Einkommen. Diese würden die Anreize hart zu arbeiten senken und die ArbeitnehmerInnen zu mehr Faulheit verführen. Dementsprechend wirke sich Umverteilung auch negativ auf das Wirtschaftswachstum aus und dies treffe wiederum die Schwächsten in der Gesellschaft, behaupten die Neoliberalen.

Wachstumsbremse Ungleichheit

Eine ungleiche Verteilung der Einkommen trifft aber nicht nur einzelne Haushalte, sondern kann auch die gesamte Wirtschaft lähmen. Der britische Ökonom John Maynard Keynes sah die Spreizung der Einkommen als Ursache für schleppendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit. Dies wird durch die mangelnde Konsumnachfrage begründet, da viele Haushalte zwar gerne ihren Lebensstandard verbessern würden, ihnen aber schlicht die finanziellen Mittel dazu fehlen. Durch Umverteilung von oben nach unten würden die Haushaltskassen dieser Familien aufgebessert und ihre Kaufkraft erhöht. Schließlich kommt bei Keynes hier der berühmte Multiplikator-Effekt zu tragen: ein höherer Konsum schafft Anreize für Investitionen der Unternehmen, was wiederum zu neuen Arbeitsplätzen und in weiterer Folge zu höheren Einkommen der ArbeitnehmerInnen führt. Damit soll die Wirtschaft nachhaltig belebt und der Lebensstandard in einem Land erhöht werden.

Ein weiteres Argument lautet, dass ein zu hohes Maß an Einkommensungleichheit zu politischer und ökonomischer Instabilität führen kann. Erst kürzlich beleuchteten der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sowie der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Raghuram Rajan, in ihren Publikationen die Rolle der Einkommensungleichheit in der Entstehung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Laut den beiden Wirtschaftswissenschaftern hat die zunehmende Spreizung der Einkommen die Blasenbildung an den Märkten angefeuert. Diese Feststellung deckt sich mit den Beobachtungen jener Ökonominnen und Ökonomen, die in der Tradition von Keynes stehen. Demzufolge stecken ärmere Gesellschaftsschichten einen höheren Anteil ihres Einkommens in den Konsum als Vermögende. Letztere weisen hingegen eine höhere Sparneigung auf, können also einen größeren Anteil ihres Einkommens beiseitelegen. Große Teile dieser Ersparnisse werden auf internationalen Finanzmärkten angelegt und leisten der Spekulation Vorschub, indem die Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten zu instabilen Blasen führt. Eine Umverteilung von oben nach unten würde demnach nicht nur den Konsum der unteren Einkommensschichten und damit das Wirtschaftswachstum beflügeln. Sie kann auch die Spielräume für hemmungslose Spekulation verringern und damit als Instrument gegen eine krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft dienen.

Umverteilung ist Kräftemessen

Abseits dieser wirtschaftlichen Perspektive entscheidet der Grad der Umverteilung aber auch über die Lebensbedingungen der Menschen. So legen aktuelle Studien offen, dass sich eine ungleiche Verteilung von Einkommen negativ auf Gesundheit, Bildung und Sicherheit in einem Land auswirkt. Von diesen sozialen Problemen sind hauptsächlich die einkommensschwachen Haushalte betroffen, vor allem aber die Kinder, die in diesem Umfeld aufwachsen. Der Harvard-Ökonom Amartya Sen fordert in diesem Zusammenhang die Gleichheit von Verwirklichungschancen. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sollen dieselben Startbedingungen erhalten, um die Ungleichheit angesichts der unterschiedlichen Familienhintergründe zu nivellieren. Deshalb brauchen wir nicht nur ein Steuersystem, das von Reich zu Arm umverteilt, sondern auch einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat. Dieser soll vor allem die Lebensbedingungen für die einkommensschwachen Haushalte vereinfachen und ein gutes Bildungs-, Gesundheits- und Pflegesystem bereitstellen.

Letztlich kann die ungleiche Verteilung der ökonomischen Ressourcen auch zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Vermögende können ihre gesellschaftliche Position dazu nutzen, in politische Entscheidungsprozesse einzugreifen, beispielsweise über soziale Netzwerke oder Parteispenden. Dies bedeutet ein Ungleichgewicht in der Teilhabe an Politik und Demokratie zu Lasten der einkommensschwachen Mitglieder der Gesellschaft. Dies erschwert dementsprechend die Bestrebungen für Umverteilung in der politischen Arena. Wie stark in einer Volkswirtschaft von oben nach unten umverteilt wird, hängt schließlich davon ab, welche gesellschaftlichen Gruppen ihre Interessen stärker durchsetzen können. Die VertreterInnen der neoliberalen Seite lehnen Umverteilung aus den genannten Gründen ab und wollen den Wohlfahrtsstaat immer weiter zurückdrängen. Demgegenüber kämpfen die ArbeitnehmerInnen für einen gerechten Finanzierungsbeitrag der Reichen zum Sozialsystem und für bessere Lebensbedingungen durch höhere Einkommen. Es ist ein Kräftemessen zwischen den Interessensvertretungen der ArbeitnehmerInnen und der Industriellen sowie Vermögenden um die Verteilungspolitik und um soziale Gerechtigkeit. Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze bieten hierbei keine einheitliche Handlungsanleitung. Die empirischen Befunde zeigen aber, dass eine zunehmende Polarisierung der Einkommen zu unerwünschten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Resultaten führt.

Dieser Beitrag erschien zunächst in Heft 12/2013 der Arbeit&Wirtschaft.