Mittelfristiger Strukturwandel zugunsten wissensintensiver Dienste

11. Mai 2015

Wie veränderte sich die österreichische Beschäftigungsstruktur nach Sektoren, Wirtschaftsbereichen und Branchen mittelfristig, d.h. seit Anfang der 1990er-Jahre? Das nachgefragte Arbeitsvolumen erhöhte sich zwischen 1991 und 2012 um knapp 12%. Produktionsbezogene Dienstleistungen sowie Gesundheits- und Sozialwesen gewannen auf Kosten von Landwirtschaft und Sachgüterproduktion Anteile an der Erwerbstätigkeit. Gleichzeitig verschob sich die Beschäftigungsstruktur sowohl innerhalb der Sachgüterproduktion als auch innerhalb des Dienstleistungssektors zu wissensintensiven Branchen.

Die Entwicklung des Arbeitsvolumens

Will man die Beschäftigungsstruktur analysieren, stellt sich zunächst die Frage, ob man auf das Arbeitszeitvolumen oder die Personen abstellt. In der Folge werden die Daten des WIFO zur Erwerbstätigkeit in Vollzeitäquivalenten (VZÄ) herangezogen, weil die Änderungen des jeweils nachgefragten Arbeitsvolumens im Vordergrund stehen und durch die Bezugnahme auf die VZÄ Verzerrungen infolge der starken Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung und geringfügiger Beschäftigung in vielen Dienstleistungsbranchen vermieden werden. Das WIFO rechnet unter Verwendung des Arbeitszeitvolumens die Zahl der Erwerbstätigen in die Zahl der potenziellen Vollzeitstellen (VZÄ) um: Die VZÄ werden ermittelt, indem das jährlich geleistete Arbeitszeitvolumen (Haupt- und Zweittätigkeit, inkl. Überstunden/Mehrstunden) durch die durchschnittliche tatsächliche Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten dividiert wird.

Die Zahl der Erwerbstätigen (VZÄ) in Österreich erhöhte sich zwischen 1991 und 2012 von 3,2 Mio. um 380.000 bzw. 11,9% auf 3,58 Mio. In den 1990er-Jahren (1991-2000) nahm die Erwerbstätigenzahl von 3,2 Mio. um 120.000 auf 3,32 Mio. zu. Von 2000 bis zum Einsetzen der Finanzkrise 2008 stieg die Zahl der Erwerbstätigen um 200.000 auf 3,52 Mio. 2012 lag der Beschäftigtenstand somit bereits um 60.000 Erwerbstätige (VZÄ) über jenem vor der Großen Rezession von 2009.

Sektoraler Strukturwandel

Der primäre Sektor, d.h. die Land- und Forstwirtschaft, verlor im Beobachtungszeitraum 200.000 Erwerbstätige, 2012 belief sich der Stand dort noch auf 170.000. Der Erwebstätigenanteil sank von 8,4% 1991 auf 4,8% 2012.

Der sekundäre Sektor (Sachgüter produzierender Sektor) setzt sich aus den vier Wirtschaftsbereichen Bergbau, Energie- und Wasserversorgung, Bauwirtschaft und Sachgüterproduktion (verarbeitende Industrie und produzierendes Gewerbe: 24 ÖNACE-2008-Abteilungen) zusammen.

Die Erwerbstätigenzahl in der Bauwirtschaft stieg seit Anfang der 1990er-Jahre um 40.000 auf 280.000. Ihr Anteil an der Gesamtheit blieb mit rd. 8% weitgehend unverändert.

In der Sachgüterproduktion lag die Zahl der Erwerbstätigen (VZÄ) 2012 um 100.000 niedriger als 1991. Die Beschäftigungsverluste in diesem Wirtschaftsbereich erfolgten ganz überwiegend bereits in den 1990er-Jahren, als sich die Unternehmen der verarbeitenden Industrie und des produzierenden Gewerbes an Ostöffnung und EU-Beitritt anzupassen hatten: Zwischen 1991 und 2000 sank die Zahl der Erwerbstätigen dort von 680.000 auf 590.000. In den folgenden acht Jahren bis zum Einsetzen der Finanzkrise konnte der Erwerbstätigenstand gehalten werden. Im Zuge der Krise verringerte sich die Erwerbstätigenzahl leicht, nämlich auf 580.000 2012. Der Anteil der Sachgüterproduktion an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen verringerte sich von 21% 1991 auf 16% 2012.

Anteile der Wirtschaftsbereiche an der Gesamtheit der Erwerbstätigen (in %, Vollzeitäquivalente) in Österreich 1991 (innen), 2001 (Mitte) und 2012 (außen)

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: WIFO; eigene Berechnungen auf dieser Grundlage. © A&W Blog
Quelle: WIFO; eigene Berechnungen auf dieser Grundlage.

Die langfristigen Trends in der Beschäftigung zulasten der Landwirtschaft und der Sachgüterproduktion sowie zugunsten des Dienstleistungssektors setzten sich also in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten fort. Dabei schwächte sich die Tertiärisierung in den 2000er-Jahren bereits etwas ab: Zwischen 1991 und 2000 erhöhte sich der Dienstleistungsanteil an den Erwerbstätigen von 61% auf 66% und bis 2012 dann auf 70%. Die Zahl der Erwerbstätigen im tertiären Sektor stieg von 1,96 Mio. 1991 auf 2,2 Mio. 2000 und 2,52 Mio. 2012.

Sachgüterproduktion: hochwertige Branchen behaupteten Beschäftigung

Eurostat fasst die Sachgüterbranchen nach ihrer jeweiligen F&E-Intensität (Anteil der F&E-Ausgaben an der Wertschöpfung) in vier Gruppen zusammen: Hochtechnik-, Mittelhochtechnik-, Mittelniedrigtechnik- und Niedrigtechnik-Branchen.

In den 7 Abteilungen der Sachgüterproduktion mit hohem oder mittelhohem technischen Niveau (Pharma, DV-Geräte, Elektr. Ausrüstungen, Chemie, Maschinenbau, Sonst. Fahrzeugbau, Kraftfahrzeuge) konnte der Beschäftigungsstand von 200.000 Erwerbstätigen (VZÄ) zwischen 1991 und 2012 annähernd behauptet werden.

In den 8 Abteilungen mit mittelniedrigem technischen Niveau (Mineralölverarbeitung, Sportgeräte u. Spielwaren, Metallverarbeitung, Ausrüstungsinstallation, Glas und Keramik, Gummi und Kunststoffe, Druck, Metallerzeugnisse) verminderte sich die Erwerbstätigenzahl im genannten Zeitraum von 230.000 auf 220.000. Der mit Abstand größte Teil des Beschäftigungsrückgangs in der Sachgüterproduktion entfiel somit auf die 9 Abteilungen mit niedrigem technischen Niveau (Papier, Getränke, Tabak, Textilien, Holzwaren, Leder und Schuhe, Bekleidung, Nahrungsmittel, Möbel): Dort sank die Zahl der Erwerbstätigen von 250.000 auf 160.000

Zwischen 1991 und 2012 fand in der Sachgüterproduktion also eine signifikante Verschiebung der Branchenstruktur der Beschäftigung in Richtung auf wissensintensive Aktivitäten statt: Der Anteil der Hoch- und Mittelhochtechnikbranchen innerhalb der Sachgüterproduktion stieg von 29,5% 1991 um 4,6 Prozentpunkte auf 34,2% 2012. Die beschäftigungsbezogene Bedeutung der forschungs- und wissensintensivsten Branchen erhöhte sich trotz der Halbierung des Beschäftigungsstandes der DV-Gerätebranche also wesentlich. Die höchsten Anteilsgewinne in dieser Kategorie verzeichneten Maschinenbau, Autoindustrie und Elektrische Ausrüstungen.

Tertiärer Sektor: Tendenz zu wissensintensiven Diensten

Interessant ist zum einen, wie sich innerhalb des Dienstleistungssektors die Beschäftigung zwischen Branchengruppen unterschiedlicher Wissensintensität verschob, und zum anderen, wie sich die Beschäftigung zwischen funktional definierten tertiären Wirtschaftsbereichen verschob.

Die 47 ÖNACE-2008-Abteilungen des Dienstleistungssektors wurden nach ihrer Wissens- und Humankapitalintensität sortiert, und zwar anhand von zwei Maßzahlen: a) nach dem Anteil der ÖISCO-08-Berufshauptgruppen <1-3> (Führungskräfte, Akademische Berufe, Technische und nichttechnische Fachkräfte) an der jeweiligen Gesamtheit der Erwerbspersonen und b) nach dem Anteil der Personen mit zumindest Maturaabschluss (höchster formaler Ausbildungsabschluss AHS-Matura, BHS-Matura, Kolleg-, Akademie-, Fachhochschul- oder Universitätsdiplom), jeweils im Durchschnitt der Jahre 2010-12.

Aus dem resultierenden Streudiagramm wurden mittels Clusteranalyse sechs tertiäre Branchengruppen gebildet, die jeweils nach ihrer Wissens- und Humankapitalintensität, gemessen anhand der zwei obigen Kennzahlen, möglichst ähnlich sind, von der ersten Kategorie der Wirtschaftsklassen mit sehr hoher Qualifikation der Beschäftigten (sehr hoher Anteil der hoch qualifizierten Angestelltenberufe und sehr hoher MaturantInnenanteil) bis zur sechsten Kategorie der Wirtschaftsklassen mit niedriger Qualifikation der Beschäftigten (niedriger Anteil der ÖISCO-08-Hauptgruppen <1-3> und niedriger Anteil von Personen mit mindestens Maturaabschluss).

Die Gesamttendenz ist deutlich: Während sich der Anteil der zwei tertiären Branchengruppen mit sehr hoher bis hoher Qualifikation der Erwerbstätigen an der Gesamtheit der Erwerbstätigen zwischen 1991 und 2012 um 2,6 Prozentpunkte erhöhte, nahm der entsprechende Anteil der sechsten Branchengruppe mit Erwerbstätigen niedriger Qualifikation um lediglich 1,3 Prozentpunkte zu. Somit fand während der beiden Beobachtungsdekaden eine signifikante Verschiebung der Branchenstruktur der Beschäftigung in Richtung auf wissens- und humankapitalintensive Dienstleistungsaktivitäten statt.

Tendenz zu „Produktionsbezogenen“ und „Sozialen“ Dienstleistungen

In funktionaler Hinsicht lässt sich der Dienstleistungssektor in fünf Wirtschaftsbereiche gliedern:

  • „Distributive Dienstleistungen“ transportieren Menschen, Waren und Informationen (Handel, Verkehrswesen, Nachrichtenübermittlung).
  • „Produktionsbezogene Dienstleistungen“ stellen vorwiegend, aber nicht ausschließlich Vorleistungen für andere Unternehmen dar (Finanzdienstleistungen, Realitätenwesen und Vermietung, Datenverarbeitung, Forschung und Entwicklung, Unternehmensbezogene Dienstleistungen). Dieser Bereich lässt sich wiederum in zwei Subbereiche teilen, nämlich zum einen in die „Wissensintensiven PBDL“ und zum anderen in die „Sonstigen PBDL“. Zu den wissensintensiven PBDL werden jene Abteilungen gezählt, die gemäß Clusteranalyse zu den sehr hoch, hoch oder mittelhoch humankapital- und wissensintensiven Branchen gehören, d. h. jeweils überdurchschnittlich hohe Anteile an Erwerbspersonen in hoch qualifizierten Angestelltenberufen und MaturantInnen aufweisen. Die „Sonstigen PBDL“ umfassen jene Abteilungen, deren Beschäftigte im Durchschnitt mittel, mittelniedrig oder niedrig qualifiziert sind (Gebäudebetreuung, d. h. Hauswartung und Reinigungsdienste; Sicherheitsdienste; Arbeitskräfteüberlassung; Vermietung; Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen für Unternehmen wie z. B. Schreibdienste, Kopierdienste, Anrufzentralen, Inkassobüros).
  • „Konsumorientierte Dienstleistungen“ richten sich überwiegend an die Verbrauchsnachfrage privater Haushalte (Fremdenverkehr, Kultur, Sport und Unterhaltung, Reparatur, Wäscherei, Körperpflege, Haushaltsdienste).
  • „Soziale Dienstleistungen“ betreffen den Gesundheitszustand, den Wissensstand und die soziale Befindlichkeit von Personen, sie bilden entweder privaten oder öffentlichen Konsum (Unterrichtswesen, Gesundheits- und Sozialwesen).
  • „Öffentliche Dienstleistungen“ erstellen vorwiegend kollektive Güter (Öffentliche Verwaltung und Sozialversicherung, Interessenvertretungen und Vereine, Entsorgung).

Zwischen 1991 und 2012 verschob sich die Beschäftigung zwischen den tertiären Wirtschaftsbereichen sehr stark zugunsten der Produktionsbezogenen Dienstleistungen (+6,0 Prozentpunkte), stark zugunsten der Sozialen Dienstleistungen (+2,4 Prozentpunkte) und deutlich zugunsten der Konsumorientierten Dienstleistungen (+1,5 Prozentpunkte). Der Anteil der Distributiven und der Öffentlichen Dienstleistungen verringerte sich jeweils leicht (vgl. Abb.).

Die Beschäftigungsdynamik im Bereich der Produktionsbezogenen Dienstleistungen wurde vorwiegend von den wissensintensiven Dienstleistungen dieser Kategorie bestimmt. Der Erwerbstätigenanteil der „Wissensintensiven PBDL“ erhöhte sich von 8,0% auf 11,3%. Gleichzeitig stieg der Anteil der „Sonstigen PBDL“, in denen gering qualifizierte Beschäftigte überwiegen, von 1,9% auf 4,7%. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Zuwachs der Erwerbstätigenzahl in der Abteilung „Arbeitskräfteüberlassung etc.“ stark überzeichnet ist, weil er zu einem erheblichen Teil tatsächlich in Betrieben der Sachgüterproduktion und anderer nicht tertiärer Wirtschaftsbereiche stattfand.

Komplementarität und Interdependenz charakterisieren das Verhältnis zwischen Sachgüterproduktion und Produktionsbezogenen Dienstleistungen. Dieses wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis wird immer ausgeprägter, das Netz der Verbindungslinien verdichtet sich. Sachgüterproduktion und Produktionsbezogene Dienstleistungen bilden gemeinsam den hoch produktiven „servo-industriellen Sektor“, der für die technische Innovationsfähigkeit und die qualitative internationale Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Rund ein Drittel der Erwerbstätigen (VZÄ) entfallen auf diesen „servo-industriellen Sektor“: 1991 betrug sein Beschäftigtenanteil 31,2% und 2012 32%. Die Beschäftigungseinbußen in der Sachgüterproduktion wurden also von den Zuwächsen in den PBDL mehr als kompensiert. Trug die Sachgüterproduktion 1991 noch rd. zwei Drittel zur Erwerbstätigkeit im „servo-industriellen Sektor“ bei (21,3% : 9,9%), so war das Verhältnis 2012 bereits fast ausgewogen (16,1% : 15,9%).

Dieser Beitrag basiert auf Nummer 140 der Working Paper Reihe “Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft” der AK Wien.