Marktkonform statt rechtskonform – Merkels erneuerter Versuch zur neoliberalen Dressur Europas durch Wettbewerbspakte

22. Oktober 2013

„Troika für alle!“ – davor warnen unter anderen die AK und das grenzüberschreitende Bündnis „Europa geht anders“ bereits seit dem Frühjahr. Nachdem man in den geschlagenen Wahlkämpfen den Eindruck gewinnen konnte, die Krise und ihre Entfaltung in der Europäischen Union sei politisch kein relevantes Thema, ist das Verdrängte mit Beginn dieser Woche wiedergekehrt: Für den Beschluss von Wettbewerbspakten soll das Protokoll 14 der Europäischen Verträge abgeändert werden. Die Pläne von Angela Merkel sind wenig mehr als ein erneuerter Anlauf zur autokratischen Durchsetzung der neoliberalen Vertiefung der EU.

„Merkels Plan ist ausgeklügelt: In einzelstaatlichen Verträgen mit der EU-Kommission sollen […] zumindest die 17 Euroländer sich verpflichten, Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im Sozial- und Gesundheitssystem und bei Pensionsregeln anzugehen. Als Ausgleich für soziale Härten soll es Hilfen aus einem neuen Fördertopf mit zweistelliger Milliardensumme geben“, berichtet Margaretha Kopeinig im heutigen Kurier.

Diese Pläne verfolgt Angela Merkel als organische Intellektuelle eines „Reformbündnisses“ aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, neoliberalen Staatschefs und der Europäischer Zentralbank (EZB) bereits seit Anfang des Jahres.

Im Kern zielen die damit verfolgten Pakte für Wettbewerbsfähigkeit auf eine Europäisierung jener Einschnitte in das Sozialsystem, die im südeuropäischen Laboratorium erprobt wurden. Die Erfahrungen zeigen aber, dass damit nicht jene „Strukturen“ einer „Reform“ unterzogen werden, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich sind. So kam es in keinem der betroffenen Länder zu einer merklich verstärkten Besteuerung von Vermögen, hohen Einkommen und Unternehmensgewinnen. Genauso wenig wurde die Monopolisierung wirtschaftlicher Entscheidungen durch eine Demokratisierung aufgebrochen. Im Gegenteil, die Ungleichheit in der Verteilung und die Entdemokratisierung der Wirtschaft(spolitik) spitzte sich weiter zu.

Also nichts Neues aus dem Zentrum des europäischen Krisenregimes? Nicht ganz. Während die bisherige autokratische Verschärfung von Austerität und Wettbewerbsfähigkeit über eine Flucht aus dem Europarecht (Fiskalpakt) oder über die rechtswidrige Einpressung von Sekundärecht in die Europäischen Verträge (Economic Governance) erfolgte, scheint nun die rechtswissenschaftliche Kritik das Nachdenken über neue Strategien zur Umgehung des Vertragsänderungsverfahren angeregt zu haben. So berichtet der Spiegel, dass Angela Merkel das Protokoll 14 der Europäischen Verträge mit Hinblick auf die Pakte für Wettbewerbsfähigkeit durch weitreichende und klare Befugnisse der Kommission ergänzen möchte.

Dieses Protokoll beinhaltet die rechtliche Grundlage der Euro-Gruppe. Die zwei Artikel des Protokolls ermöglichen das informelle Zusammenkommen der Finanzminister jener Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist. Unter der Leitung eines auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten (derzeit Jeroen Dijsselbloem) erörtert die Euro-Gruppe „Fragen im Zusammenhang mit ihrer gemeinsamen spezifischen Verantwortung im Bereich der einheitlichen Währung“ (Art. 1, Protokoll 14).

Doch die Protokolle sind Teil des europäischen Primärrechts. Sie können daher nur durch das Änderungsverfahren der europäischen Verträge ergänzt werden. Angela Merkels Feststellung, dass die Einrichtung von Wettbewerbspakten daher ohne „große Vertragsänderung vor sich gehen könne“, ist daher nur eine neue Taktik in der autoritären Konstitutionalisierung neoliberaler Wirtschaftspolitik. Denn ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren, für welches ein einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates nach Anhörung des Parlamentes ausreicht, ist nur dann zulässig, wenn der Beschluss „nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten“ führt (Art. 48 Abs. 6 EUV).

Davon kann keine Rede sein. Die Kommission, oder genauer gesagt die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen, die jüngst ausführte, dass die neue Wirtschaftspolitik auf eine Schwächung der Gewerkschaften ausgerichtet werden müsse, soll mit den Pakten für Wettbewerbsfähigkeit neue Zuständigkeiten erhalten. In Zukunft soll sie zum Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche kompetenzrechtlich ermächtigt sein: Es geht um die neoliberale Dressur aller Mitgliedstaaten durch Abschluss und Überwachung von vertraglichen Vereinbarungen, die bei der zeitgerechten Umsetzung der „Strukturreformen“ mit einer kleinen finanziellen Unterstützung belohnt werden.

Es scheint sich daher einmal mehr das autoritär-neoliberale Muster der bisherigen Bausteine der Krisenpolitik zu wiederholen: Um das „Reformbündnis“ gegen den zunehmenden Widerstand der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften zu isolieren, werden die ordnungsgemäß zur Vertiefung der Union vorgesehenen Verfahren (ordentliches Vertragsänderungsverfahren), welche die frühzeitige Einbindung und Zustimmung der Parlamente und eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihrer Verfassungen vorsehen, umgangen.

Gleichzeitig kommt es darüber hinaus zu einer Aufwertung der Exekutive gegenüber der Legislative: Während die Krisenpolitik eine Entwertung des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente nach sich zieht, werden mit der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Kommission und den im ECOFIN-Rat vertretenen nationalen Finanzministerien gerade jene Staatsapparate aufgewertet, die besonders neoliberal zusammengesetzt sind.

Weiterführende Literatur und Links:

Lukas Oberndorfer, Vom neuen, über den autoritären zum progressiven Konstitutionalismus? – Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit und die europäische Demokratie, juridikum 2013, 76.

www.europa-geht-anders.eu/