Was ist „Industrie“? 7 Industriedefinitionen für Österreich

26. September 2014

Wie groß ist eigentlich wirklich der Industriesektor? Für eine Versachlichung des derzeitigen Diskurses zur Entindustrialisierung bzw. Reindustrialisierung der Wirtschaftsstruktur und zum 20%-Ziel der EU-Kommission kann es hilfreich sein, Begriffe zur Abgrenzung des Industriesektors zu schärfen.

 

Wertschöpfung vs. Beschäftigung…

Der erste Punkt ist simpel, verdient es aber jedenfalls aus ArbeitnehmerInnensicht festgehalten zu werden: das (leider unverbindliche) EU-Ziel einer 20%-Industriequote ist an der Wertschöpfung (BIP) definiert – und nicht am Beschäftigungsanteil. Dafür mag es auch Gründe geben. Fakt ist aber jedenfalls, dass der Beschäftigungsanteil in der Regel deutlich unter dem Wertschöpfungsanteil liegt, ganz besonders in den Städten, und auch meist eine andere (ungünstigere) Dynamik aufweist[1].

Sigi Menz, Obmann der Bundessparte Industrie, meinte kürzlich (WKO: Österreichs Industrie in Kennzahlen 2014. S.2) etwas überschwänglich, dass die EU-Kommission forderte, „dass bis 2020 die Industrie in der EU 20 % zur Wertschöpfung beitragen solle. Im Hochlohnland Österreich übertrifft die Industrie dieses Mindestmaß … Der ‚Sekundäre Sektor‘ machte in Österreich im Jahre 2013 rund 29 % der gesamten Wertschöpfung aus.“ In der Tat wäre die Einbeziehung insbesondere der Bauwirtschaft in die Industrie eine einfache Vorgangsweise zur Erhöhung der Industriequote. Ein Jahr vorher meinte derselbe Autor: „In Österreich übertrifft die Industrie dieses Mindestmaß bereits mit einem aktuellen Wert von rund 22 %. Noch mehr als im Rest Europas ist die Industrie in Österreich daher Motor für Innovation, Außenhandel, Wertschöpfung, Einkommen und Beschäftigung“ (WKO: Österreichs Industrie in Kennzahlen 2013. S.2). Hier wurde offenbar – siehe unten – auf die Konzepte 5 und 4 abgestellt – die EU stellt in der Regel auf das Konzept 2 ab.

… sowie 7 Definitionen zur Abgrenzung des Industriesektors…

Was ist nun heute die „Industrie“? Hinsichtlich österreichischer Daten und Analysen gibt es, unabhängig von den verwendeten Indikatoren, mindestens 7 Begriffe bzw. Abgrenzungen für „Industrie“:

  • Der engste umfasst die institutionelle Abgrenzung nach Zugehörigkeit innerhalb der Wirtschaftskammer zur Sektion Industrie. Es gibt dafür keine Abgrenzung nach einem objektiven Kriterium wie der Größe. Allerdings sind nur wenig kleine Unternehmen darin enthalten, und diese Grundgesamtheit entspricht am ehesten dem traditionellen sprachlichen[2] Begriff von Industrie in Österreich[3]. Regelmäßig veröffentlicht die Wirtschaftskammer Sonderauswertungen des produzierenden Bereichs durch die Statistik Austria.
  • Sehr wichtig ist der Begriff der Industrie im Sinne von Sachgütererzeugung Herstellung von Waren (Klassifikation C nach NACE). Für den österreichischen Kontext ist dabei zu betonen, dass hier die Betriebs- und Unternehmensgrößen keine Rolle spielen, also auch Kleinunternehmen einbezogen sind. Die Herstellung von Waren nach NACE umfasst in der 2008-Systematik (2-Steller) insgesamt 24 Branchen.
  • Die nächstbreitere Definition ist die Kombination von Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden (B nach NACE) mit der Herstellung von Waren (C nach NACE). Diese wird bei internationalen Vergleichen manchmal verwendet.
  • Von der Statistik Austria werden Industriedaten auch als Zusammenfassung der Klassifikationen B bis E nach NACE ausgewiesen.
  • Wichtig ist der Begriff „Produzierender Bereich“: Er umfasst neben der Herstellung von Waren den Bergbau und die Gewinnung von Steinen und Erden, Energie und Wasser, Abwasser und Abfall und (im Gegensatz zu 4. auch) den Bau. (NACE B bis F). Dies entspricht auch dem „Sekundären Sektor“.
  • Das Erweiterte Konzept der Industrie wurde vom Industriewissenschaftlichen Institut (IWI) für Österreich verwendet. Es umfasst neben dem produzierenden Bereich auch Vermietung beweglicher Sachen und Datenverarbeitung sowie andere „industrienahe“ unternehmensbezogene Dienste.
  • Das Konzept vom Servoindustriellen Sektor ist das weiteste und wird auch vom IWI verwendet: das erweiterte Konzept der Industrie wird um „produktionsorientierte“ Teile des Dienstleistungssektors ergänzt: Diese umfassen jeweils 1/3 bei Handel, Reparatur von Kfz und Gebrauchsgütern, Beherbergungs- und Gaststättenwesen, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, und jeweils 1/2 bei Kredit und Versicherung und anderen Diensten wie Realitätenwesen oder FE. Wenngleich diese konkrete Operationalisierung einer analytischen Untermauerung entbehrt, ist der allgemeine Hintergrund dazu durchaus substantiell: Die Bedeutung der vor- und nachgelagerten Dienstleistungsbranchen von Design bis Reparatur wird jedenfalls deutlich größer zuungunsten des Kerns der Produktion, in dem die Automatisierung weiter voranschreitet. Frühere Industrieaufgaben werden heute von spezialisierten Dienstleistern für die Industrie erfüllt. Der Sekundäre und der Tertiäre Sektor ergänzen und bedingen sich gegenseitig zu einem gewissen Maß.

…ergeben 14 mögliche Zahlen zur Industriequote

Somit ergeben 7 Definitionen x 2 Messkonzepte (BIP-Beitrag und Beschäftigung) 14 mögliche Zahlen zur Industriequote.

Festzuhalten verdient auch, dass beim BIP-Beitrag meist mit laufenden Preisen gerechnet wird. Da sich aufgrund der Produktivitätsentwicklung die Industriepreise unterdurchschnittlich entwickeln, fällt allein dadurch der Industrieanteil tendenziell. Werden bzw. würden fixe Industriepreise zu einem Zeitpunkt angenommen, so würde es sogar tendenziell eine zunehmende Industriequote geben.

Verkomplizierend kommen statistische Klassifikationsänderungen in den letzten 20 Jahren hinzu. So war allein die Umstellung von ÖNACE 2003 auf ÖNACE 2008 weitgehend und führte zu wesentlichen Problemen bei Zeitreihen.

Nicht neu, aber kurz erwähnenswert, ist, dass im Kernbereich (Konzept 1), ähnlich wie in der Herstellung von Waren ca. ¾ Männer arbeiten.

Die einzelnen Konzepte 1-7 weichen natürlich in den Daten zum Teil gravierend voneinander ab. Allerdings sind die zeitlichen Entwicklungen, außer bei den letzten 2 Konzepten (inkl. Diensten!) großteils ähnlich abgebildet.

Bezüglich Größenordnungen deckt der Kernbereich der Industrie (Sektion Industrie WKO) in NÖ ca. 11 % der Beschäftigungsverhältnisse ab, umfasst damit ca. 2/3 der Herstellung von Waren, und ca. 1/4 eines Servoindustriellen Sektors. Bei der Bruttowertschöpfung generiert letzterer mehr als die Hälfte. Womit aber nicht gesagt sein soll, dass Österreich durch eine solche weitgehende Erweiterung die EU-Ziele sogar phänomenal übererfüllen sollte….

Übersicht zu IndustriedefinitionenDarstellung der Konzepte Nr. 2, 5, 6 und 7

 

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Quelle: IWI (2007): Die Industrie Niederösterreichs. IWI-Studie 137. S. 14

[1]Verkomplizierend sind bei der Beschäftigung weitere Unterscheidungen nicht unwesentlich: Unselbständige, Beschäftigte oder Erwerbstätige; Einbeziehung von geringfügig Beschäftigten; Zählung zu Zeitpunkt oder Durchschnittswerte; Einbeziehung von LeiharbeiterInnen; Daten Statistik Austria oder Hauptverband; auch Wohn- oder Arbeitsort können relevant sein.

[2] „Industrie“ hat derzeit drei Bedeutungsgehalte: 1. im Sinne von Großindustrie; 2. Sachgütererzeugung; 3. Branche.

[3] Siehe auch die frühere Abgrenzung in der österreichischen Statistik bis in die 90er Jahre mit Industrie, Kleingewerbe und Großgewerbe.