Industrie 4.0 – Jobmaschine oder Jobvernichterin?

19. Januar 2016

Eine aktuelle umfangreiche Makro-Studie für Deutschland analysiert die Folgen von Industrie 4.0 auf den Arbeitsmarkt. Entgegen Befürchtungen eines massenweisen Arbeitsplatzabbaus sind die Nettoeffekte auf die Beschäftigung bis 2030 gering. Die dahinter liegenden Verschiebungen innerhalb von Berufsgruppen und Qualifikationsstufen fallen allerdings deutlich höher aus und erfordern eine aktive Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik.

Industrie 4.0 und der Arbeitsmarkt

Die neueste Welle des technologischen Fortschritts wird intensiv unter dem Namen “Industrie 4.0” diskutiert. Nach den bisherigen industriellen Revolutionen geht es nun um die Vernetzung der virtuell-digitalen und physischen Welt sowie maschinelles Lernen in der Produktion. Einbezogen werden Maschinen, Produkte, Informations- und Kommunikationssysteme sowie der Mensch. Ziel ist, dass die Wertschöpfungskette, auch über Betriebsgrenzen hinaus, vollständig digital gesteuert werden beziehungsweise sich selbstorganisiert steuern kann. Eine effizientere, flexiblere und individuellere Produktion soll das Ergebnis sein.

Damit einher gehen Diskussionen um die Zukunft der Arbeit unter diesen Bedingungen. Mit sehr unterschiedlichen Positionen: Auf der einen Seite stehen Befürchtungen eines massenweisen Jobverlustes, wenn heutige Berufe durch vernetzte Roboter überflüssig gemacht werden. Auf der anderen Seite Glanzbilder von großen Beschäftigungs- und Innovationsgewinnen und einer Entlastung der ArbeitnehmerInnen.

Technologischer Fortschritt ist so alt wie die Menschheit, und zumindest bisher ist die Arbeit nicht ausgegangen. Natürlich tendiert jede Generation nur allzu leicht dazu, das vor ihr Liegende als qualitativen Sprung zu deuten, der alle bisherigen Gesetze und Reaktionsmuster obsolet macht.

Einerseits liegt man damit aber regelmäßig falsch. Oder meinen wir wirklich, dass der technologische Fortschritt gerade jetzt damit beginnt, Arbeit massenhaft zu reduzieren, während er das über Jahrtausende nicht getan hat? Andererseits darf man es sich aber auch nicht zu leicht machen: So ging der Wandel weg von herkömmlicher Fabrikarbeit seit den 70er Jahren mit einem starken Aufbau struktureller Arbeitslosigkeit vor allem von Niedrigqualifizierten einher.

Eine umfangreiche Makro-Studie für Deutschland

Die Breite dieser Einschätzungen zeigt vor allem eines: Für eine umfassende Bewertung der ökonomischen Wirkungen von Industrie 4.0 ist eine Vielzahl von Effekten zu berücksichtigen; das Verschwinden von Arbeitsplätzen ebenso wie die Schaffung von Neuem, Wandlung von Anforderungen, effizientere Prozesse und neue Produkte, volkswirtschaftliche Kreislaufzusammenhänge, Anpassungen von (Arbeits-) Angebot und Nachfrage, Preis- und Mengenreaktionen.

Eine solche breit angelegte Studie für Deutschland haben das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das Bundesinstitut für Berufsbildung und die Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung vorgelegt. Die grundsätzlichen Schlussfolgerungen sollten dabei auch für Österreich relevant sein. Während sich die Ökonomien in bestimmten Punkten (wie dem Außenhandelssaldo) unterscheiden, sind wesentliche Merkmale wie die Rolle der Industrie oder das berufliche Ausbildungssystem vergleichbar.

Die Idee ist, ein komplexes gesamtwirtschaftliches Modell für eine Industrie-4.0-Szenarioanalyse zu verwenden. Herangezogen wird das Modell aus dem QuBe-Projekt, welches eine umfassende makroökonomische Modellierung mit einem detailliert abgebildeten Arbeitsmarkt verbindet. Letzterer gliedert Arbeitsangebot und -nachfrage nach Branchen, Berufen und Qualifikationen. Funktionaler Kern ist ein Matchingmodul, das berufliche Flexibilitäten zulässt sowie Rückwirkungen über Lohn- und Preisreaktionen generiert.

Als Referenz dient ein Basisszenario, das technologischen Fortschritt in üblichem Umfang – aber keine spezielle Realisierung von Industrie 4.0 – berücksichtigt. Dabei ergibt sich bis 2030 eine steigende Arbeitsnachfrage ausschließlich im Bereich tertiärer (im Wesentlichen Hochschul-)) Qualifikationen. Nach der aus dem Modell absehbaren Entwicklung wird das mit der Studierneigung deutlich wachsende Angebot aber nicht vollständig aufgenommen.

Im mittleren Qualifikationsbereich treten dagegen Engpässe auf, weil das Angebot an Fachkräften vor allem demographisch bedingt stärker sinkt als der Arbeitskräftebedarf. Der niedrigqualifizierte Bereich schrumpft insgesamt leicht, die Unterbeschäftigungssituation entspannt sich aber nicht. Die Engpässe verschärfen sich mit dem demographischen Wandel im Gesundheits- und Pflegebereich, aber auch in typischen Produktionsberufen.

Ergebnisse der Modellierung

Das Alternativszenario soll nun über zahlreiche Komponenten wie Investitionen, Produktivität, Berufe und Tätigkeiten sowie Nachfrage Industrie 4.0 ökonomisch erfassen.

Im Szenario ergibt sich eine zunehmende Wertschöpfung, die bei steigender Produktivität und höheren Anforderungen an die ArbeitnehmerInnen vor allem in wachsenden Lohnsummen resultiert. Beim Beschäftigungsbestand zeigen sich keine wesentlichen Änderungen; in der Summe ist Industrie 4.0 also weder eine Jobmaschine noch eine Beschäftigungsvernichterin.

Dahinter kommt es allerdings zu deutlichen Bewegungen: In den aus 54 Berufsfeldern und 63 Wirtschaftszweigen bestehenden Zellen gehen innerhalb von zehn Jahren über das Basisszenario hinaus 490.000 Arbeitsplätze verloren, während anderweitig 430.000 neu geschaffen werden.

Auf- und Abbau von Arbeitsplätzen im Vergleich zum Basisszenario

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: IAB-Forschungsbericht 8/2015 © A&W Blog
Quelle: IAB-Forschungsbericht 8/2015

Vor allem Berufe im produzierenden Bereich verlieren, beispielsweise Maschinen und Anlagen steuernde und wartende Berufe. In einer Reihe von Berufshauptfeldern und speziell bei Dienstleistungen gibt es dagegen Gewinne, die höchsten bei IT– und Naturwissenschaftlichen Berufen. Bezogen auf Qualifikationsstufen gewinnt der akademische Bereich, die wesentlichen Verluste treten im berufsbildenden Bereich auf. Auch die Nachfrage nach Niedrigqualifizierten geht zurück.

Erwerbstätige nach Qualifikationsstufen im Vergleich zum Basisszenario

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Quelle: IAB-Forschungsbericht 8/2015

Insgesamt zeigt sich, dass die Wirkung von Industrie 4.0 sogar zu einem gewissen Ausgleich der sich im Basisszenario abzeichnenden Ungleichgewichte führen kann: Engpässe im berufsbildenden Bereich der Industrie werden tendenziell gemildert. Für das stark steigende Angebot im akademischen Bereich wird dagegen zusätzliche Nachfrage generiert. Für eine Wirkungsanalyse der Arbeitsmarktentwicklung muss neben den die Debatte beherrschenden Änderungen des Arbeitskräftebedarfs also auch die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots mitgedacht werden.

Dieses scheinbar so elegante Ergebnis soll aber keine Entwarnung signalisieren. Die schwierige Arbeitsmarktsituation von Geringqualifizierten wird sich nach den Ergebnissen tendenziell noch verschlechtern. Wenn in diesem Bereich auch Impulse beispielsweise durch den Einsatz von Assistenzsystemen denkbar sind, wächst wohl doch die schon bestehende Notwendigkeit arbeitsangebotsseitiger (Qualifikations-) Maßnahmen. Hinter den gesamtwirtschaftlichen Wirkungen des Phänomens Industrie 4.0 stehen auf betrieblicher und politischer Ebene bedeutende Herausforderungen. Schließlich sind erhebliche Verschiebungen und Veränderungen von Arbeitsplätzen absehbar.

Politische Folgerungen

Eine zentrale Rolle kommt Bildung und Weiterbildung zu. Es liegt nahe, auf eine Stärkung digitaler Inhalte zu verweisen, aber mindestens ebenso wichtig wird es sein, Kompetenzen wie konzeptionelles Denken, Abstraktions- und Kommunikationsfähigkeit zu vermitteln. Bei sich ändernden und erhöhenden Anforderungen wird nach der Erstausbildung die Weiterbildung entscheidend werden, um Kompetenzen laufend weiterzuentwickeln. Gerade in Deutschland ist die wichtige Funktion formaler qualifizierender Abschlüsse deutlich sichtbar. Dennoch wird es darauf ankommen, diese mit flexiblerem Erwerb von Kompetenzen zu verbinden, wie etwas durch eine koordinierte Anerkennung von zusätzlichen Qualifikationsleistungen.

Die Szenarioanalyse zeigt die Auswirkungen eines Phänomens Industrie 4.0. Dieser Prozess, in dem durch die Digitalisierung neue Tätigkeitsprofile entstehen, muss im internationalen Wettbewerb aber auch entsprechend der eigenen Stärken angegangen werden. So offensichtlich ein wachsender Fokus auf die Hochschulausbildung ist, so klar liegen spezifisch deutsche Stärken im berufsbildenden System und seiner Verzahnung von Theorie und Praxis.

Eine aktive – und nicht nur reaktive – Politik entwickelt diese Stärken gezielt weiter, um Menschen aus- und weiterzubilden, die die Umsetzung von Industrie 4.0 formen können. Wenn Produktions-, Wissens- und Entwicklungsarbeit weiter zusammenwachsen und hierarchische Steuerung zurückgeht, ergeben sich Gestaltungsspielräume, in die auch der berufsbildende Bereich hineinwachsen kann.

Hochwertige Beschäftigung ist in der Umsetzung von Industrie 4.0 genau dann ein Geschäftsmodell, wenn Personal zu Verfügung steht, das neue verantwortungsvolle Tätigkeiten wahrnehmen kann. Denkbar ist, die Attraktivität in einem “Meister-tenure-track” durch einen integrierten Ausbildungsweg bis zum Meister zu erhöhen und diesen Grad mit weiteren Kompetenzen im Hinblick auf Problemlösung zu stärken.

Im selben Kontext ist die Unterstützung der typischen mittelständischen Wirtschaftsstruktur in Deutschland im Hinblick auf die Digitalisierung zu nennen. Gerade hier liegen bisherige Stärken, aber möglicherweise auch zukünftige Risiken, wenn die Kapazität einzelner Mittelständler für den Aufbruch zu neuen digitalen Geschäftsmodellen nicht ausreichen sollte. Eine wichtige Rolle kommt dabei der öffentlichen Investitionsförderung zu, wie auch der Information und Koordinierung beispielsweise durch Definition von Kompetenzstandards.

Auch die Arbeitsmarktpolitik muss sich auf neue Entwicklungen einstellen. Derzeit liegt das Entlassungsrisiko in Deutschland auf einem Rekordtief, was den Arbeitsmarktaufschwung wesentlich begünstigt. Die Arbeitsmarktdynamik wird nach den Szenarioergebnissen aber deutlich zunehmen, und damit auch die Zugänge in Arbeitslosigkeit.

Wenn sich der strukturelle und berufliche Wandel verstärkt, wird eine Weiter- und Neuqualifizierungsberatung essentiell. Möglichst frühzeitig muss fundiert entschieden werden, ob eine Vermittlung im bisherigen Tätigkeitsfeld, eine Weiterentwicklung oder Neuorientierung der richtige Weg ist. Man sollte dabei vorgewarnt sein: So gelang es während des strukturellen Wandels ab den 1970er Jahren nicht, Aufbau und Verfestigung der Arbeitslosigkeit zu verhindern.

Weitere Bereiche wie die Arbeitszeitgestaltung, der Arbeits- und Gesundheitsschutz, die betriebliche Mitbestimmung, die soziale Sicherung und der Datenschutz werden sich neuen Herausforderungen gegenüber sehen. Während die vorgestellten Ergebnisse weder ein dezidiert positives noch negatives Bild von Industrie 4.0 zeichnen, wird es entscheidend auf die Politikgestaltung ankommen. Eine breite Debatte hierzu muss weiter vorangetrieben werden.

Der Artikel basiert in Teilen auf Weber (2015).