Individuelle Strategien der Existenzsicherung in der Arbeitslosigkeit

30. April 2014

Die Einleitungsfrage – „Was wissen wir über Arbeitslosigkeit?“ – der bahnbrechenden Studie Die Arbeitslosen von Marienthal“ von 1933 hat auch heute, unter den Bedingungen ausgebauter sozialer Sicherungssysteme, ihre Berechtigung. Gerade der öffentliche Diskurs über Arbeitslosigkeit greift immer wieder auf stereotype Bilder zurück, die Arbeitslosigkeit als eigenverschuldeten und von den Betroffenen absichtlich aufrecht erhaltenen Zustand darstellen. Ziel einer von IFES und SORA gemeinsam im Auftrag der Arbeiterkammer Wien durchgeführten Studie ist es, dem gegenüber Einblicke in die reale soziale und finanzielle Situation von Arbeitslosen in Wien und deren Strategien zur Sicherung ihrer Existenz zu liefern.

Arbeitslosigkeit verursacht hohe Armutsgefährdung

Fast die Hälfte der Befragten gibt an, ihre Ausgaben mit den ihnen in der Arbeitslosigkeit zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln nicht decken zu können. Rund ein Drittel kommt mit Zahlungen in Verzug, am häufigsten bei Miete und Betriebskosten sowie Telefon-, Internet- oder Rundfunkrechnungen.

„Soziale Hängematte“?

  • Arbeitslosigkeit ist in der Regel kein selbst gewählter Zustand: Nur jede/r zehnte hat selbst gekündigt.
  • Etwa jede/r dritte Arbeitslose geht einer Beschäftigung nach, in der Regel einer geringfügige Beschäftigung oder Ausbildung.
  • Über die Leistungen des AMS hinaus nutzt nur eine Minderheit der Befragten (37%) weitere Unterstützungen bzw. Sozialleistungen wie z.B. Gebührenbefreiung, Wohnbeihilfe oder verbilligte Fahrscheine.
  • Um mit dem niedrigeren Einkommen während der Arbeitslosigkeit auszukommen, werden im Durchschnitt 324 Euro im Monat an Ausgaben eingespart. Jede/r Dritte spart 30% des persönlichen Nettoeinkommens vor der Arbeitslosigkeit oder mehr an Ausgaben ein.

Massive Ausgabenreduktionen im Lebensalltag

Sieben von zehn Befragten sparen bei Kleidung, etwa die Hälfte bei Lebensmittel. Diese Form der materiellen Einschränkung reicht aber oftmals nicht aus, weshalb auch soziale Aktivitäten reduziert werden: Jeweils über 60% der Befragten berichten von Ausgabenreduktionen beim Ausgehen, bei Urlaubsreisen sowie bei Hobbies und Kultur.

Ausgabenreduktion während der Arbeitslosigkeit:

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Eigene Ersparnisse und das Partnereinkommen ermöglichen vielen Arbeitslosen zumindest kurzfristig eine gewisse finanzielle Absicherung. Allerdings können mehr als die Hälfte der Befragten nicht auf eigene Ersparnisse und rund sieben von zehn auch nicht auf ein Partnereinkommen zurückgreifen. Als Folge müssen andere finanzielle Quellen gesucht werden, dann jedoch häufig in Form von Geldausleihen oder Verschuldung: Jede/r fünfte gibt an, das Bankkonto laufend zu überziehen. Über ein Drittel leiht sich privat Geld und/oder erhält finanzielle Zuwendungen von den Eltern oder von Bekannten. Für knapp die Hälfte ist die Annahme dieser finanziellen Zuwendungen mit einer großen Überwindung verbunden.

Aufgrund des fehlenden Partnereinkommens sind alleinstehende Personen besonders armutsgefährdet. Sie können außerdem seltener auf Erspartes zurückgreifen und wenden sich in Folge besonders häufig an Freunde und Bekannte, um Geld auszuleihen.

Negative psychische und soziale Folgen

Insgesamt berichten sieben von zehn Befragten, dass sich die Arbeitslosigkeit über die rein finanzielle Situation hinaus auf ihr Leben negativ ausgewirkt habe, etwa auch auf die sozialen Kontakte, die Beziehung zu Familie und PartnerIn oder die Wohnsituation. Nicht nur in finanzieller Hinsicht stellt Arbeitslosigkeit damit oft einen gravierenden Einschnitt dar. 37% vermuten negative Folgen für ihre beruflichen Chancen und 33% stellen Verschlechterungen im gesundheitlichen Wohlbefinden fest. Besonders negativ wirkt sich Arbeitslosigkeit auf Langzeitarbeitslose und ältere Personen, vor allem Frauen, aus. Besonders dramatisch: Jede fünfte Frau über 40 berichtet von negativen Auswirkungen auf ihre Kinder. In jedem zehnten Haushalt mit Kindern konnte das Kind etwa aus finanziellen Gründen nicht an schulischen Aktivitäten teilnehmen, in 7% der Haushalte musste die Nachhilfe gestrichen werden.

Arbeitslosigkeit als Teil der Armutskette

Ob jemand mit den finanziellen Mitteln während der Arbeitslosigkeit auskommt oder nicht, hängt auch wesentlich von der Einkommenssituation vor der Arbeitslosigkeit ab: Sieben von zehn Personen, die vor der Arbeitslosigkeit „sehr gut“ von ihrem Erwerbseinkommen leben konnten, geben an, dass ihre finanziellen Mittel auch in der Arbeitslosigkeit ausreichen. Besonders schwer fällt das Auskommen mit dem Einkommen hingegen vormals atypisch Beschäftigten und damit eher Frauen, Niedrigqualifizierten und MigrantInnen.

Diese Ergebnisse lassen auf eine für konservative Wohlfahrtsstaaten wie z.B. Österreich, Deutschland oder Frankreich charakteristische Form der ‚doppelten strukturellen Diskriminierung‘ schließen: Durch die Einkommensabhängigkeit der Sozialleistungen werden Statusunterschiede, die bereits am Arbeitsmarkt existieren, in der Arbeitslosigkeit reproduziert. Gruppen, die bereits während der Erwerbstätigkeit häufiger mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatten, weisen in der Arbeitslosigkeit eine drastisch höhere Armutsgefährdung auf. Die alleinige Erhöhung der Nettoersatzrate hätte für diese Gruppen folglich wenig Bedeutung, zumal das Einkommen vor der Arbeitslosigkeit oft schon nicht existenzsichernd war.

Die Studie zeigt aber, dass Arbeitslosigkeit für alle Gesellschaftschichten ein Problem darstellt. Auch Höherqualifizierte und Personen mit höheren Einkommen sind mittlerweile häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. In Relation zum vorherigen Einkommen verlieren diese Gruppen in der Arbeitslosigkeit eine höhere Summe. Diese höheren Einkommensverluste können zwar kurzfristig durch Rückgriffe auf Erspartes und andere Ressourcen besser bewältigt werden, dauert die Arbeitslosigkeit jedoch länger an, schlittern auch diese Gruppen in prekäre Lebenslagen.

Je länger die Arbeitslosigkeit, desto höher das Armutsrisiko

Sieben von zehn Langzeitarbeitslosen können auf Basis der erhobenen Daten als armutsgefährdet identifiziert werden. Vor allem der Wegfall des Arbeitslosengeldes nach Erlöschen des Anspruchs kann nicht mehr durch die Notstandshilfe oder bedarfsorientierte Mindestsicherung kompensiert werden. Hinzu kommt, dass Einsparungen und Ausgabenreduktionen genauso wie Geldausleihen oder Zahlungsverzögerungen nicht langfristig halt- und durchführbar sind, sondern nur kurz- oder mittelfristige Strategien zur Existenzsicherung darstellen.

Im Unterschied zu den 30-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel ihren „soziographischen Versuch“ über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit“ anstellten, ist unser heutiges wohlfahrtstaatliches Sozialsystem in der Lage, die gravierendsten Folgen von Arbeitslosigkeit abzuwenden. Gleich geblieben ist jedoch der grundsätzliche Charakter von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit mit deren finanziellen und sozialen Folgewirkungen für die Betroffenen selbst, aber auch für deren familiäres Umfeld.

Der Studie liegt eine telefonische Befragung von 500 in den zwölf Monaten vor der Befragung von Arbeitslosigkeit betroffenen Wienern und Wienerinnen ab 16 Jahren zugrunde.

 

DIin Evelyn Hacker, MSc – Mitarbeiterin von SORA (Institute for Social Research and Consulting), Forscherin im Bereichen Stadt(teil)entwicklung, Lebensqualität und Wohnen, Stadt- und Regionalökonomie.

Mag. Daniel Schönherr – Mitarbeiter von SORA (Institute for Social Research and Consulting), Forscher im Bereich Arbeitsmarkt.