Hat die kalte Progression die Steuerreform schon gefressen? – Nur wenn man falsch rechnet!

23. April 2015

4,9 Milliarden Euro beträgt das Entlastungsvolumen der Tarifänderungen im Zuge der Steuerreform 2016. Dennoch meinen Kritiker, wie die ua. von Industriellen und Privatstiftungen finanzierte Agenda Austria, dass man nicht von einer Entlastung sprechen könne. Würde doch die die kalte Progression weit höher ausfallen als die Entlastung. Nun, zu so einem Ergebnis kann nur kommen, wer sich verrechnet oder auf fragwürdige Tricks zurückgreift.

Aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist die kalte Progression problematisch da sie dazu beiträgt, die Kaufkraft zu schwächen. Wenngleich das Volumen der kalten Progression nennenswerte Ausmaße annimmt, ist es auch nicht zu überschätzen. Agenda Austria hat eine solche Überschätzung herbeigerechnet. Konkret schätzt sie, dass das gesamtwirtschaftliche Volumen der kalten Progression für den Zeitraum 2009 bis 2015 rund 11,5 Milliarden €* betrug – und das Volumen der Entlastung damit bei weitem überstieg. Das ist falsch!

Aber der Reihe nach. Um die Zahlen bewerten zu können, ist es vorab notwendig, die Definition der Kalten Progression zu kennen.

Was ist die Kalte Progression überhaupt?

Progressive Steuertarife bewirken per Definition bei steigenden Bruttobezügen auch eine steigende Steuerbelastung. Dies ist aus verteilungspolitischen Überlegungen heraus gewünscht, da Personen mit hohem Einkommen eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben und somit eine höhere Steuerbelastung tragen können. Allerdings entsteht in Kombination mit der Inflation auch der Effekt der „Kalten Progression“, da es durch die Geldentwertung auch zu einer Entwertung der im Steuertarif implementierten Frei- und Absetzbeträge kommt.

Unter diesem Begriff verbirgt sich folglich die Tatsache, dass bei Bruttobezügen, die mit der Inflationsrate steigen, die Steuerbelastung vergleichsweise überproportional wächst und es daher neben der realen Zunahme der Steuerbelastung auch zu einer inflationsbedingten Steuermehrbelastung kommt. Dies kann unter Umständen trotz steigender Bruttolöhne zu abnehmenden Nettoreallöhnen (Nettolöhne, um die Inflation bereinigt) führen. Vermeiden ließe sich dies durch die so genannte Indexierung des Steuertarifs. Bei der Indexierung werden die Frei- und Absetzbeträge des Steuertarifs um die Inflation erhöht, wodurch die Kalte Progression ausgeschaltet würde.

Steuerreform 2016 – Eine reale Entlastung und nicht nur Abgeltung der Kalten Progression

Geht es nach der Agenda Austria, kann es durch die Steuerreform 2016 zu keiner Entlastung kommen, da sie nicht einmal die Kalte Progression seit 2009, also jenem Jahr der letzten Steuerreform, abdecken würde. Das stimmt aber nicht.

Seit der letzten Steuerreform im Jahr 2009 stieg das gesamte Lohnsteueraufkommen von 19,9 Mrd. Euro auf 27,3 Mrd. Euro. in 2015 (laut Budgetvoranschlag). Dies entspricht einer Zunahme von 7,4 Mrd. Euro. Diese Steigerung der Lohnsteuer setzt sich aus der Kalten Progression, also der inflationsbedingten Steuermehrbelastung, und der realen Lohnsteuerzunahme zusammen. Würde man die (unmögliche) Annahme treffen, dass im genannten Zeitraum die Bruttolöhne und -gehälter der ArbeitnehmerInnen nicht gestiegen sind, und folglich keine reale Steuermehrbelastung vorhanden sein kann, wäre das maximale Ausmaß der Kalten Progression dennoch mit 7,4 Mrd. Euro begrenzt. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass jemand die Kalte Progression mit 11,5 Mrd. Euro* beziffert und damit eine solch unplausible Behauptung in den Raum wirft.

Doch wie kommt man zu einer solchen Zahl, die um mehr als das doppelte von der Realität abweicht?

Grundsätzlich ist die Kalte Progression nichts anderes als die Differenz der Zunahme des tatsächlichen Steuerzuwachses zur realen Lohnsteuerzunahme. Um diese zu beziffern, ist die Lohnsteuer mit dem indexierten Lohnsteuertarif zu ermitteln. Dieser Wert ist letztendlich mit der tatsächlichen Lohnsteuer des Ausgangsjahres zu vergleichen. Diese Differenz ergibt das reale Lohnsteuerwachstum. Der Rest zum tatsächlichen Lohnsteuerwachstum ist folglich das Ausmaß der kalten Progression.

Das klingt an sich nicht schwierig, doch die Krux liegt, wie bei vielen Dingen, im Detail. Und hier scheiterte offenbar die Agenda Austria am eigenen Vorhaben. Konkret wurde für jedes einzelne Jahr seit 2009 mit der aufsummierten Inflationsrate die kalte Progression ermittelt. Soweit, so richtig! Allerdings wurden diese Werte in weiterer Folge nochmals addiert, da nicht berücksichtigt wurde, dass durch das Heranziehen der kumulierten Inflationsrate bereits die gesamte Kalte Progression seit dem Ausgangsjahr berechnet wurde.

Durch die doppelte Kumulierung der Inflation kommt es zu diesem abenteuerlichen Wert von 11,5 Mrd. Euro*, der das gesamte Lohnsteuerwachstum um immerhin 4,1 Mrd. Euro übersteigt. Dies ist rechnerisch nur unter einer Voraussetzung möglich: Bei gegebener Inflation hätten die Bruttolöhne- und Gehälter sinken müssen! Tatsächlich ist die Bruttolohnsumme gesamtwirtschaftlich betrachtet jedoch seit 2009 um ca. 17 % gestiegen. Dass die Kalte Progression also höher ist als die gesamte Lohnsteuerzunahme, ist daher schlichtweg unmöglich.

Was sind nun die Fakten, wie hoch ist die Entlastung nach Abzug der kalten Progression?

Für den betrachteten Zeitraum 2009 bis 2015 betrug das Volumen der Kalten Progression tatsächlich nur rund 3 Mrd. €. Bei einem Steuersenkungsvolumen von über 5 Mrd. €, wovon 4,9 Mrd. € in die Tarifreform fließen, ist folglich die Kalte Progression der Vergangenheit mehr als abgedeckt. Unter dem Strich bleibt somit eine effektive Entlastung der ArbeitnehmerInnen im Ausmaß von ca. 2 Mrd. Euro.

Entlastung 2016 – und dann?

Natürlich ist mit einer Tarifreform, wie sie jetzt vorgenommen wird, das Problem der Kalten Progression für die Zukunft nicht gelöst. Dies wäre nur durch die Indexierung des Steuertarifs möglich. Eine solche Maßnahme sichert zwar die reale Kaufkraft, nimmt aber dem öffentlichen Budget einen Großteil der Flexibilität.

Die derzeitige effektive Entlastung wird eines Tages durch die Inflation auch wieder aufgebraucht sein. Allerdings macht dies das Argument, die Steuerreform sei keine echte Steuerentlastung, nicht nachvollziehbarer. Tatsache ist, dass die Kalte Progression mit einem geschätzten Volumen von 400 bis 500 Mio. € im Jahr 2019 die Entlastung wieder aufgebraucht hat und zu diesem Zeitpunkt wieder in etwa die gleiche Steuerbelastung wie im Jahr 2009 vorliegt. Allerdings bedeutet das auch, dass mit der Steuerreform 2016 die Kaufkraft für 11 Jahre wertgesichert wurde.

*Update (5.Mai 2015):

Agenda Austria hat auf eine Missinterpretation ihrer Argumentation aufmerksam gemacht. Bei der Summe von 11,5 Milliarden Euro handelt es sich demnach um eine Schätzung der aufkumulierten kalten Progression über den Zeitraum von 2009 bis 2015. Aus dieser kumulierten Zahl folgert Agenda Austria:

„Um die gesamte kalte Progression zwischen 2009 und 2015 zu kompensieren, müssten die neuen niedrigeren Lohnsteuertarife fast drei Jahre lang wirksam sein. Das werden sie aber nicht. Denn: Ab Ende 2016 beginnt die kalte Progression aufs Neue zu wirken.“

Einer solchen zeitraumbezogenen Betrachtung der kalten Progression ist jedoch auch die geschätzte zukünftige Entlastung gegenüberzustellen (Vgl Analyse des Budgetdienstes). Erst durch die Gegenüberstellung dieser Werte kann eine Aussage getroffen werden, ob und bis zu welchem Zeitpunkt die Steuerreform eine tatsächliche Entlastung bringt. Im zitierten Beitrag wird dies nicht vorgenommen. Dadurch ist der Eindruck entstanden, dass die Steuerreform keine effektive Entlastung bringe. Wie uns mitgeteilt wurde teilt Agenda Austria tatsächlich jedoch die in diesem Beitrag getroffene Feststellung, dass unter dem Strich ein effektive Entlastung der ArbeitnehmerInnen im Ausmaß von ca. 2 Mrd. € bleibt.