Plädoyer für eine Wiederbelebung der Europäischen Fiskalpolitik: Von der Silbernen zur Goldenen Investitionsregel

21. April 2015

Die panische Reaktion der europäischen Politik auf die Eurokrise bestand in einer scharfen Austeritätspolitik. Das Versagen dieser Maßnahme könnte kaum offensichtlicher sein: Nach sieben Jahren tiefster Wirtschaftskrise steht die Eurozone am Rande der deflationären Stagnation, während die öffentlichen Schuldenstandsquoten krisenbedingt immer weiter gestiegen sind. Gerade die öffentlichen Investitionen, die eigentlich die Volkswirtschaften hätten stabilisieren und langfristig auf Wachstumskurs halten sollen, sind zT dramatisch eingebrochen. Diesen Trend gilt es umzukehren, indem öffentliche Investitionen umfassend gefördert werden – insbesondere durch die Befolgung der „goldenen Investitionsregel“.

Leider wurde mit der Verschärfung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) die Finanzpolitik gerade in dem Augenblick weiter eingeschränkt, in dem sie am meisten gebraucht wurde. Die Folge war ein Rückgang bei den öffentlichen Investitionen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: EU-Kommission, Ameco database (November 2014); eigene Berechnungen. *Gesamtstaatliche Bruttoinvestitionen (ESA 2010). © A&W Blog
Quelle: EU-Kommission, Ameco database (November 2014); eigene Berechnungen. *Gesamtstaatliche Bruttoinvestitionen (ESA 2010).

Rückblick 2014: Erste Schritte eines finanzpolitischen Kurswechsels

Mittlerweile hat sich auf EU-Ebene allerdings herumgesprochen, dass es einer expansiveren Finanzpolitik bedarf, weil die auf sich allein gestellte Geldpolitik keinen stabilen Aufschwung herbeiführen kann. In seiner mittlerweile berühmten Rede von Jackson Hole hat sich selbst der EZB-Präsident Mario Draghi für eine expansivere EU-Fiskalpolitik und ein europäisches Investitionsprogramm ausgesprochen. Und auch der Europäische Rat sah auf seinem Treffen im Juni 2014 die Notwendigkeit einer Wachstumssteigerung im Rahmen des existierenden finanzpolitischen Regelwerks. Schließlich hat die neue EU-Kommission diesbezüglich jüngst zwei Initiativen gestartet, die wesentlich über die Anstrengungen ihrer – noch ganz in die Austeritätspolitik verstrickten – Vorgängerin hinausgehen: Der so genannte Juncker-Plan (EFSI) und die Neuinterpretation des SWP, mit dem Ziel größere fiskalische Spielräume zu gewähren. Zu erwarten ist nun allerdings lediglich eine etwas weniger restriktive Ausrichtung der Fiskalpolitik, nicht aber der notwendige kräftige positive Impuls.

Wiederbelebung der Finanzpolitik: die Goldene Regel für öffentliche Investitionen

Wie könnte demgegenüber eine echte Wiederbelebung der Finanzpolitik in Europa aussehen, so dass sie tatsächlich einen nachhaltigen Aufschwung in Gang bringt und die öffentlichen Investitionen kräftig stärkt? Wie in meiner jüngst in Wien vorgestellten Studie für die AK Wien erläutert, könnte ein wesentliches Element einer solchen Wiederbelebung in der Einführung der Goldenen Regel für öffentliche Investitionen bestehen. Diese Regel ist in der finanzwissenschaftlichen Literatur weitestgehend akzeptiert und würde die Finanzierung öffentlicher Netto-Investitionen mittels Budgetdefiziten erlauben.

Dadurch wäre gleichzeitig der Generationengerechtigkeit wie dem Wirtschaftswachstum gedient. Öffentliche Investitionen erhöhen den öffentlichen Kapitalstock und schaffen so ein höheres Wachstum zum Wohle auch zukünftiger Generationen. Aus diesem Grund ist es nur konsequent sie über den Schuldendienst zur Finanzierung heranzuziehen. Fällt die Möglichkeit der Kreditfinanzierung mangels Goldener Regel weg, müssen die gegenwärtigen Generationen die Gesamtlast der Finanzierung tragen, was höchstwahrscheinlich zu einer Unterversorgung mit öffentlichen Gütern führt: Diese Vorhersage wird durch die Beobachtung der drastischen Investitionskürzungen in der jüngsten Krise ziemlich eindeutig gestützt.

Wie sollte die Goldene Investitionsregel konkret ausgestaltet werden?

Aus ökonomischer Sicht sollte man ganz allgemein alle staatlichen Ausgaben, die einen erheblichen zukünftigen Nutzen in Form höheren Wachstums oder vermiedener Kosten generieren, als investiv definieren. Aus pragmatischen Gründen sollte man sich zunächst auf eine technisch schnell implementierbare Definition von Nettoinvestitionen im Sinne der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung abzüglich Militärausgaben ggf. zuzüglich Investitionszuschüsse an den privaten Sektor beschränken. Die so definierten Nettoinvestitionen sollten dann von den relevanten Defizitkennziffern des SWP und des Fiskalpakts abgezogen werden.

Dies würde die öffentlichen Investitionen sofort vor weiteren Kürzungen schützen und die Möglichkeit von Investitionssteigerungen eröffnen. Um einen Konflikt zwischen Goldener Investitionsregel und dem Ziel der Stabilisierung der Schuldenstandsquote bei 60 % des BIP jedenfalls zu vermeiden, könnte eine Obergrenze für die abzugsfähigen Nettoinvestitionen in Höhe von z.B. 1-1,5 % des BIP festgelegt werden. Mit der Zeit könnte die Investitionsdefinition technisch und statistisch verbessert werden und möglicherweise andere öffentliche Ausgaben wie z.B. Bildungsausgaben in geeigneter Abgrenzung enthalten.

Eine solche Goldene Regel könnte für einige Zeit zumindest näherungsweise sogar ohne irgendwelche Änderungen des aktuellen institutionellen Regelwerks verwirklicht werden, wenn die Europäische Kommission und der Europäische Rat zur Nutzung ihres Handlungsspielraums innerhalb dieses Regelwerks bereit wären. Jedoch wäre für eine solide Verankerung auf europäischer Ebene mittelfristig wohl eine Änderung des finanzpolitischen Regelwerks nötig, die vermutlich am leichtesten durch ein „Investitions-Protokoll“ mittels des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 des Lissabon-Vertrags erfolgen könnte. Da die politische Implementation voraussichtlich etwas Zeit in Anspruch nehmen dürfte, müsste die Zeit bis zur Einführung der Goldenen Regel kurzfristig durch eine expansive Fiskalpolitik überbrückt werden, um der europäischen Konjunktur den dringend benötigten Rückenwind zu verleihen.

Expansive Finanzpolitik zur Überbrückung („Silberne Regel“)

Ähnlich dem Vorschlag von WiFo-Präsident Karl Aiginger, könnte dies durch Verwirklichung einer “Silbernen Regel” im Sinne eines kurzfristigen Europäischen Investitionsprogramms ähnlich dem Europäischen Konjunkturprogramm aus dem Jahr 2008 geschehen. Ein solches Programm könnte zudem auch Investitionsbedarfen jenseits der tendenziell engen Definition der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gewidmet sein. Hier würden sich Ausgaben für Bildung (einschließlich Kinderbetreuung) aber auch ganz allgemein Ausgaben zur Erreichung der unter der Austeritätspolitik stark vernachlässigten Europe 2020-Ziele (wie soziale Integration) geradezu aufdrängen.

Der erhebliche Spielraum innerhalb des bestehenden Regelwerks sollte für einen kräftigen expansiven Fiskalimpuls in der Größenordnung von 2-3 % des BIP über die nächsten zwei bis drei Jahre genutzt werden. Möglichkeiten gibt es genug –die EU-Kommission hat in ihrer immer noch zu zaghaften aktuellen Neuinterpretation vom Jänner immerhin bereits die Richtung und die Instrumente vorgegeben.

10 Möglichkeiten, um Investitionen zu stärken und eine expansive Finanzpolitik in Europa zu unterstützen

ZieleMaßnahmen
kurzfristig („Silberne Regel“ = Handlungsspielraum innerhalb des bestehenden Regelwerks nutzen, um der Goldenen Regel für öffentliche Investitionen näherzukommen)

Investitionen stärken
+expansiver
finanzpolitischer Impuls
(1) aktiverer Gebrauch der ‚Investitionsklausel‘
(2) befristete Investitionsprogramme zulassen
(entsprechend dem EFSI)
(3) befristete Investitionsprogramme
als Strukturreformen interpretieren
(4) realistische Investitions-Multiplikatoren
vorab in Haushaltsanalysen einbeziehen
(5) in wirtschaftlich schlechten Zeiten Handlungsspielraum nutzen
(6) bessere Methoden der
Konjunkturbereinigung einführen
(7) befristet höhere Ausgaben mit Blick auf die
Europa-2020-Ziele tätigen
(8) Ausnahme für starken Abschwung
in der EU oder der Eurozone nutzen
mittelfristig (feste institutionelle Verankerung der Goldenen Regel für öffentliche Investitionen)
EU-Implementierung(9) ‚Investitionsprotokoll‘ als Anhang des Vertrags
(vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren, Art. 48)
nationale Implementierung(10) nationale Gesetzgebung ändern, um Abzug
der öffentlichen Netto-Investitionen vom Defizit
zu erlauben

Quelle: Zusammenstellung des Autors.

Für eine pragmatische, schrittweise Reform

Die schrittweise Verwirklichung der Silbernen und dann der Goldenen Investitionsregel wäre ein wesentliches Element einer europäischen Reformstrategie zur Sicherung der öffentlichen Investitionen und zur Ankurbelung der europäischen Konjunktur. Es bedarf dafür kurzfristig lediglich dem Willen einer etwas konsequenteren Nutzung der bestehenden Spielräume innerhalb der bestehenden Institutionen. In der mittleren Frist bedürfte es nur einer relativ kleinen institutionellen Korrektur, um der Goldenen Regel für Investitionen als weithin respektierter finanzpolitischer Leitlinie endlich zu ihrem Recht zu verhelfen und einen wesentlichen ökonomischen Fehler des gegenwärtigen Regelwerks zu beseitigen.

Man kann nur hoffen, dass es diesmal nicht wieder Jahre der Wirtschaftskrise und weiterer Millionen Arbeitsloser bedarf, bis die Europäische Politik die richtigen Schlussfolgerungen zieht und die europäische Finanzpolitik als makroökonomisches Instrument endlich wiederbelebt.