Führen Mindestlöhne zu höheren Löhnen auf Kosten steigender Arbeitslosigkeit?

13. Juni 2016

Ein zentrales Argument gegen Mindestlöhne lautet, dass der Preis für höhere Löhne für einige Niedriglohnbeschäftigte durch den Arbeitsplatzverlust anderer bezahlt wird. Die moderne empirische Mindestlohnliteratur zeigt aber, dass dies in der Regel nicht der Fall ist. Denn während Mindestlöhne klar nachweisbar zu höheren Löhnen führen, finden sich wenig konkrete Hinweise auf signifikante Beschäftigungsverluste. Verbindliche Lohnuntergrenzen können somit dazu beitragen, den Niedriglohnbereich ohne relevante Nebeneffekte einzugrenzen.

Die neue Mindestlohnliteratur in den USA

Ein zentrales Ergebnis der neoklassischen Wirtschaftstheorie lautete lange, dass bindende Mindestlöhne zu Arbeitslosigkeit führen. Die Resultate der empirischen Literatur haben diese Sicht bis in die 1990er Jahre großteils gestützt. Dies ist allerdings nicht allein auf die Eindeutigkeit des Sachverhalts zurückzuführen, sondern auch auf einen deutlichen „publication bias“ in der älteren Literatur, also dass bevorzugt Studien veröffentlicht wurden, die negative Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen nachwiesen, während insignifikante oder positive Resultate als zu uninteressant oder theoretisch unglaubwürdig betrachtet wurden. Seither hat sich die empirische Mindestlohnliteratur durch die Verfügbarkeit neuer Daten und Methoden stark weiterentwickelt, und den damaligen Konsens überholt.

In einer wegeisenden Studie zeigten David Card und Alan Krueger Mitte der 1990er Jahre in einem quasi-natürlichen Experiment, dass die Erhöhung des Mindestlohns in New Jersey (neben dem nationalen Mindestlohn gibt es auf bundesstaatlicher Ebene teilweise höhere Mindestlöhne) für die besonders stark davon betroffenen Beschäftigten in Fast-Food Restaurants nicht zu Arbeitsplatzverlusten führte. Die Kontrollgruppe, mit der die Entwicklung in New Jersey verglichen wurde, stellten dabei Beschäftigte in Fast-Food Restaurants im östlichen Teil des Nachbarbundesstaats Pennsylvania dar, eine Region in welcher der Mindestlohn nicht erhöht wurde, die aber New Jersey in vielerlei Hinsicht ökonomisch ähnlich ist. Ihre Ergebnisse wurden in der Folge kontrovers diskutiert und mehrfach repliziert (siehe auch hier und hier).

Dube et al. (siehe auch hier) verallgemeinerten schließlich die Fallstudie von Card und Krueger. Sie verglichen die Lohn- und Beschäftigungsentwicklung in sämtlichen aneinandergrenzenden US-Counties (Bezirke) in unterschiedlichen Bundesstaaten mit unterschiedlichen Mindestlöhnen seit den 1990er Jahren. Aneinandergrenzende Counties sind sich anhand beobachtbarer Charakteristika (z.B. Wirtschafsstruktur, Bevölkerung, Konjunkturzyklus) sehr ähnlich und stellen deshalb eine gute Kontrollgruppe dar. Erhöht ein Bundesstaat den Mindestlohn, können die Effekte auf die Lohn- und Beschäftigungsentwicklung stark betroffener Gruppen, wie Bedienstete in Restaurants oder jugendliche ArbeiterInnen, mit jener im angrenzenden County im Nachbarbundesstaat in welchem der Mindestlohn nicht erhöht wurde, verglichen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass Mindestlohnerhöhungen zwar deutlich positive Effekte auf die Löhne im Niedriglohnbereich haben, und auch signifikant die durchschnittliche Dauer eines Beschäftigungsverhältnisses erhöhen, aber keinen relevanten Effekt auf die Anzahl der Beschäftigten zeigen.

Mittlerweile scheint es wissenschaftlicher Konsens in den USA zu sein, dass Mindestlohnerhöhungen mit sehr geringen Beschäftigungseffekten einhergehen. Sehr wohl aber führen Mindestlöhne zu deutlich höheren Löhnen im Niedriglohnbereich und reduzieren die Lohnungleichheit.

Und in europäischen Ländern?

Auch für das Vereinigte Königreich, dem am genauesten erforschten Arbeitsmarkt in Europa, geht die empirische Mindestlohnliteratur mittlerweile weitestgehend davon aus, dass – entgegen den Erwartungen großer Teile der ÖkonomInnenzunft – die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns Ende der 1990er Jahre, sowie die darauffolgenden Erhöhungen, keinen relevanten Effekt auf die Beschäftigungsaussichten Geringqualifizierter hatte, sehr wohl aber die Löhne steigen ließ (siehe auch hier und hier). Ähnliches gilt für Irland, welches ungefähr zeitgleich einen höheren Mindestlohn eingeführte, und könnte sich momentan in Deutschland wiederholen, wo es konträr zu den drastischen Prognosen mancher ÖkonomInnen bisher keine Hinweise auf signifikante Beschäftigungsverluste durch den kürzlich eingeführten Mindestlohn gibt.

Ein deutlicher Anstieg des Mindestlohns für Jugendliche Mitte der 1980er Jahre führte in Portugal zwar zu einer Reduktion der Lohnungleichheit, aber nicht zu negativen Beschäftigungseffekten. Eine Fallstudie zu Ungarn, welche den massiven und persistenten Anstieg des Mindestlohns von 35% des Medianlohns auf 55% im Jahre 2001 untersucht, findet zwar äußerst starke Effekte auf die Löhne, aber nur sehr geringe negative Beschäftigungseffekte. Ähnliches wird auch für den starken Anstieg des Mindestlohns von 1999-2002 in Tschechien und der Slowakei festgestellt.

In eine ähnliche Richtung weisen auch Ländervergleichsstudien zu Effekten von Mindestlöhnen. Während die empirische Evidenz darauf hindeutet, dass höhere Mindestlöhne die Lohn- und Einkommensungleichheit in OECD-Ländern reduzieren, findet der größte Teil der Literatur keine oder wenig statistisch und ökonomisch signifikante Arbeitsplatzverluste durch Mindestlöhne.

Zwar gibt es zwei Artikel, die angeben stark negative Effekte für junge bzw. weibliche ArbeiterInnen zu finden, in meiner Studie zeige ich allerdings mit den Originaldaten sowie neu aktualisierten Daten, dass diese Ergebnisse eher auf die Studiendesigns als auf tatsächliche Zusammenhänge zurückzuführen sind. Bspw. sind die gefundenen Effekte von Neumark und Wascher nicht statistisch signifikant, wenn Verzerrungen der Standardfehler durch Autokorrelation berücksichtigt werden, kleine Änderungen in den Kontrollvariablen führen zu Mindestlohneffekten nahe Null, und ihre Ergebnisse halten nicht wenn mehr Jahre und Länder im Datensatz berücksichtigt werden. Zudem zeigen meine Ergebnisse, dass sich auch für Geringqualifizierte beider Geschlechter keine statistisch oder ökonomisch signifikant negativen Beschäftigungseffekte finden lassen. Da Geringqualifizierte besonders häufig im Niedriglohnbereich beschäftigt sind, sollten hier eigentlich besonders deutliche Effekte feststellbar sein.

Überblick zu Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen in Ländervergleichsstudien

Erklärte VariableAutor(en)JahrDatenBeschäftigungseffekt des Mindestlohns
Junge BeschäftigteOECD19989 OECD Länder, 1975 bis 1996nicht signifikant und gering (bei Jugendlichen deutlich negativ)
Neumark und Wascher200417 OECD Länder, 1975 bis 2000signifikant und deutlich negativ
Bassanini und Duval200610 OECD Länder, 1982 bis 2003positiv (!) signifikant
Sturn201619 (24) OECD Länder, 1983 (1970) bis 2013nicht signifikant und nahe Null
Weibliche BeschäftigteOECD19989 OECD Länder, 1975 bis 1996nicht signifikant und nahe Null
Addison und Ozturk201216 OECD Länder, 1970 bis 2008signifikant und deutlich negativ
Gering-qualifizierte BeschäftigteSturn201619 OECD Länder, 1997 bis 2013nicht signifikant und nahe Null (auch für weibliche Geringqualifizierte)
Alle Beschäftigte oder ArbeitsloseOECD19989 OECD Länder, 1975 bis 1996nicht signifikant und nahe Null
Elmeskov et al.19989 OECD Länder, 1983 bis 1995nicht signifikant und nahe Null
Bassanini und Duval200610 OECD Länder, 1982 bis 2003nicht signifikant und nahe Null
Kaufmann201210 OECD Länder, 1982 bis 2008nicht signifikant und nahe Null

Quelle: Sturn (2016)

Was heißt das?

Kürzlich fasste Alan Manning die Erkenntnisse der neuen Mindestlohnforschung wie folgt zusammen: Mindestlöhne führen klar nachweisbar zu höheren Löhnen im Niedriglohnbereich, haben aber einen sehr schwachen bzw. keinen Effekt auf die Anzahl der Beschäftigten. Auch die Ländervergleichsliteratur bestätigt diese Sicht. Mindestlöhne stellen somit ein potentiell interessantes Politikinstrument dar, um ökonomische Ungleichheit am Arbeitsmarkt zu reduzieren.