Drängende Fragen der Verteilungspolitik

31. Dezember 2015

Verteilungsfragen stehen nach wie vor an der Tagesordnung. Der Jahreswechsel bietet eine gute Gelegenheit für einen knappen Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres und einen Ausblick auf bedeutsame Debatten, die uns 2016 verfolgen werden. Die wichtigste Frage für die Verteilungsforschung und die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen wird sein, wie ein hoher Wohlstand ökologisch nachhaltiger produziert und sozial verträglicher verteilt werden kann.

Rückblick

Der sicherlich wichtigste Meilenstein 2015 in der österreichischen Verteilungsforschung war die Gründung des neuen Forschungsinstituts „Economics of Inequality“ (INEQ) an der Wirtschaftsuni Wien. Das bedeutet nicht nur eine kräftige Verstärkung für die wissenschaftliche Forschung zu sozialer, ökologischer und ökonomischer Ungleichheit, sondern auch eine – in vielen Bereichen vernachlässigte – Teilnahme der Universität an gesellschaftlich relevanten Debatten. Die Institutsgründung ist ein Ausdruck der gewachsenen Verteilungsschieflage der letzten Jahrzehnte, aber auch der drohenden Verschärfung von Verteilungsauseinandersetzungen in der Zukunft.

Auf internationaler Ebene war die Verteilungsdebatte im abgelaufenen Jahr von neuen Büchern für eine Öffentlichkeit jenseits der Universitäten geprägt. Die Koryphäe der Verteilungslehre Tony Atkinson hat mit „Inequality: What can be done?“ eine detaillierte Anleitung zur Verringerung von Ungleichheit verfasst. Während Atkinsons Schüler Thomas Piketty mit seinem „Kapital im 21. Jahrhundert“ sicherlich mehr Wirbel erzeugte, bietet es doch ein weitaus umfassenderes und ausführlicheres Maßnahmenpaket zur Ungleichheitsbekämpfung als Piketty.

Auch Nobelpreisträger Joseph Stiglitz („Reich und Arm: Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft“) und der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich („Saving Capitalism: For the Many, Not the Few“) veröffentlichten 2015 Bücher, die sich mit Lösungsansätzen für das Verteilungsproblem beschäftigen. Die Vorschläge reichen von Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur, über die Stärkung der Gewerkschaften bis zu Vollbeschäftigungspolitik. Laut Reich sollen die Maßnahmen noch vor der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung greifen, nämlich schon bei der Verteilung der Markteinkommen: im Englischen heißt es prägnant “Predistribution” statt “Redistribution”.

Ausblick

Verteilungsfragen werden 2016 weiterhin ein bestimmendes Thema bleiben. Zwei wichtige Spannungsfelder dürften dabei im Mittelpunkt stehen: Einerseits Verteilung und Wirtschaftswachstum, andererseits Verteilung und Technologischer Fortschritt.

Wirtschaftswachstum als Kerngröße für Fortschritt und Wohlstand ist seit geraumer Zeit zurecht umstritten. Ökologische Grenzen und Schwächen in der Bewertung sozialer Kriterien sind nur zwei Gründe, warum Wohlstand nicht mehr nur mit dem Bruttoinlandsprodukt gemessen werden sollte. Aber Fakt ist: Die Verteilungsspielräume werden enger, wenn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen langsamer wächst als die Bevölkerung und ihre Ansprüche.

Das Wechselspiel zwischen Verteilung und Wachstum haben wir jüngst im unabhängigen Jahreswachstumsbericht 2016 (iAGS – Kapitel 2.3) thematisiert. Eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung reduziert durch mangelnde Nachfrage das Wirtschaftswachstum, eine schrumpfende Wirtschaft wirkt sich wiederum über viele Kanäle schlecht auf die Verteilungssituation aus. Das zeigt auch die Analyse langfristiger OECD-Daten: Der Anstieg der Einkommensungleichheit zwischen 1985 und 2005 hat das kumulative Wirtschaftswachstum der Jahre 1990 bis 2010 um nahezu 5 Prozentpunkte geschmälert.

Eine zweite große Debatte dürfte wohl der Zusammenhang zwischen digitalem Wandel, modernen Produktionsprozessen und Verteilungsfragen werden. In welchem Umfang Maschinen die notwendige Menge menschlicher Arbeitsleistung in der Zukunft reduzieren werden, ist selbstverständlich wilde Spekulation. Aber schon jetzt ist die Verteilung von Arbeit bzw. das Problem der Arbeitslosigkeit die dringendste Frage der europäischen Wirtschaftspolitik. Wie wir im iAGS 2016 darlegen, steigt nicht nur die offizielle Arbeitslosigkeit in der Eurozone, sondern auch die Zahl der Unterbeschäftigten und der “Entmutigten”, die sich bereits aus der erfolglosen Arbeitssuche zurückgezogen haben (siehe Abbildung).

Abbildung: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in der Eurozone

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog
Quelle: iAGS 2016

Dem drohenden Druck auf Arbeitsplätze, Löhne und Finanzierung des Wohlfahrtsstaates gilt es eine Vision von technischem Wandel im Sinne der ArbeitnehmerInnen entgegenzustellen. Mögliche Ansatzpunkte aus Verteilungsperspektive könnten sein, die Produktivitätsfortschritte als Grundlage für eine massive Reduktion der Arbeitszeit heranzuziehen, eine Verschiebung der Finanzierung des Wohlfahrtsstaates von der Lohnsumme auf eine Kapitalbasis anzudenken oder auch grundlegend die herrschenden Produktionsverhältnisse in Frage zu stellen – so wie Tony Atkinson in seinem neuen Buch fragt: “Who owns the robots?”

Weitblick

Die Produktion materiellen Wohlstands impliziert automatisch die Frage, wer welchen Anteil für sich beanspruchen kann. Die Verteilung zwischen UnternehmerInnen und ArbeitnehmerInnen ist die augenfälligste Auseinandersetzung, die sich in vielen Ländern jährlich in den Lohnverhandlungen ausdrückt. In einer der Profitlogik unterworfenen Wirtschaft möchte die Kapitalseite möglichst viel Gewinn aus dem Produktionsprozess erzielen, während die ArbeitnehmerInnen ihr Stück des Kuchens als Lohn einfordern. Das Damoklesschwert der wirtschaftlichen Stagnation dürfte in zukünftigen Lohnverhandlungen zwischen Kapital und Arbeit wohl nicht nur eine schärfere Rhetorik, sondern auch härtere Konfrontationen mit sich bringen.

Die empirischen Ergebnisse der Verteilungsforschung zeigen, dass die Interessensunterschiede zwischen Kapital und Arbeit in der speziellen Phase der Nachkriegszeit entschärft waren. Das sogenannte fordistische Akkumulationsregime basierte auf industrieller Massenproduktion und Massenkonsum, der durch produktivitätsorientierte Lohnpolitik angetrieben wurde. Die Sozialpartnerschaft als Organ des Interessensausgleichs hatte Hochkonjunktur, die durch den Wiederaufbau erstarkte Wirtschaft sorgte für Wohlstandsgewinne auf beiden Seiten. Heute ist der Kuchen zwar deutlich größer als damals, die Wirtschaft ist aber krisenanfälliger und wächst nicht mehr so schnell, sodass Verteilungskompromisse zwischen Kapital und Arbeit immer schwerer zu finden sind. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, der von neoliberalen Denkmustern und Finanzmarktorientierung geprägt ist, ist ein anderer als jener der Nachkriegszeit.

Seit Piketty in seinem Bestseller die systemimmanenten Wurzeln von Ungleichheit im Kapitalismus angesprochen hat, muss eine fundamentale Systemkritik auf Basis der Verteilungsfrage wieder denkbar sein, da die Marktkräfte bei der Verteilung von Wohlstand nicht so unfehlbar sind wie es oft dargestellt wird. Die aus meiner Sicht wichtigste Frage für die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist daher auch struktureller Natur: Kann der Kapitalismus nochmals in eine Phase ähnlich des fordistischen Akkumulationsregimes der Nachkriegszeit gelangen? Es gibt stichhaltige Argumente und Ideen, wie das funktionieren könnte. Es gibt aber genauso überzeugende Einwände, dass die absehbare Zukunft einer profitorientierten Produktionsweise keine Entschärfung der Verteilungsfrage bringen wird.

Daraus ergibt sich die Frage, unter welchen neuen Rahmenbedingungen – und unter Berücksichtigung des angesprochenen technischen Wandels – ein ökologisch nachhaltiger und sozial verträglicher Wohlstand produziert werden kann. Die aktuelle tiefgreifende Krise erfordert dabei auch eine kritische Auseinandersetzung mit den hegemonialen Grundpfeilern des finanzdominierten Kapitalismus. Eine solche weitsichtige Vision einer gerechteren Gesellschaft war übrigens eine historische Stärke der ArbeiterInnenbewegung.