Der Fiskalpakt – Hauptkomponente einer Systemkrise

13. November 2014

Mit dem Fiskalpakt hat die EU wesentliche Forderungen der ideologischen Hauptgegner des Europäischen Sozialmodells, der „Schule von Chicago“, übernommen. Erstens: Der Pakt bindet die Fiskalpolitik noch enger an Regeln. Zweitens: Die Europäische Kommission (EK) schätzt das „strukturelle Defizit“ mit Hilfe des Konzepts der „natürlichen Arbeitslosenrate“ – sie ist jene, die nötig sei, damit sich der Lohnanstieg nicht erhöht (NAWRU). Drittens: Es wird unterstellt, dass Sparpolitik keine negativen Folgen für Produktion und Beschäftigung hat. Viertens: Das Staatsdefizit soll durch „Strukturreformen“ verringert werden – eine Umschreibung für den weiteren Abbau des Sozialstaats und des Arbeitnehmerschutzes.

Das Regelwerk und seine Anwendung

Der Fiskalpakt ist eine Hauptkomponente jener „Navigationskarte“, welche Wirtschaft und Gesellschaft in Europa immer tiefer in eine Systemkrise führte. Er macht eine nachhaltige Stabilisierung der Staatsfinanzen unmöglich. Dies ergibt sich nicht aus dem – richtigen – Ziel, die Staatsverschuldung einzudämmen, sondern aus dem Weg, auf dem dieses Ziel erreicht werden soll. Dieser Weg wird durch zwei Regeln festgelegt:

  • Jeder Vertragsstaat darf nur mehr ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Defizit von maximal 0,5% des BIP aufweisen (Defizitregel).
  • Jedes Jahr muss die Staatsschuld um ein Zwanzigstel der Differenz zwischen der aktuellen Schuldenquote und dem Zielwert von 60% reduziert werden (Schuldenregel).

Der strukturelle Budgetsaldo ergibt sich aus dem tatsächlichen Saldo nach Abzug der Konjunkturkomponente, also jenem Teil des Saldos, der durch die Abweichung des realisierten BIP vom Potentialoutput (PO) verursacht ist (zusätzlich werden auch Einmaleffekte in Abzug gebracht). Diese Differenz (in % des PO) stellt die Outputlücke dar. Die Konjunkturkomponente wird von der Europäischen Kommission (EK) auf etwa 50% der jeweiligen Outputlücke geschätzt.

Der PO wird auf Basis der Annahme geschätzt, dass Lohnsenkungen allein die Nachfrage nach Arbeit erhöhen können, weil dann Maschinen durch Arbeitskräfte ersetzt werden. Diese Annahme ist jedoch fragwürdig, da trotz mitunter drastischer Verbilligung von Arbeit relativ zu Kapital (wie Anfang der 1980er Jahre) die Kapitalausstattung je Arbeitsplatz stetig ansteigt. Dies ist der Reflex des kapitalgebundenen technischen Fortschritts und nicht der relativen Faktorpreise.

Für die Produktion verfügbar wird jene Arbeitsmenge angesehen, welche der NAWRU entspricht. Liegt die strukturelle Arbeitslosenquote etwa bei 10%, so können nur 90% der Arbeitskräfte verwendet werden. Der Logik folgend, dass jede sich verfestigende Arbeitslosigkeit strukturell bedingt sein muss, wird die NAWRU als Trend der tatsächlichen Arbeitslosenquote geschätzt.

Die Grundregel des Fiskalpakts und ihre Anwendung programmieren folgenden „Teufelskreis“, wenn ein „Schock“ (wie etwa eine Finanzkrise) eine Rezession verursachen:

  • Schritt 1: Das BIP schrumpft, Budgetdefizit und Arbeitslosigkeit steigen.
  • Schritt 2: Der gestiegene Arbeitslosigkeit wird als „natürlich“ oder „strukturell“ interpretiert, damit sinkt der Potentialoutput, die Outputlücke bleibt klein.
  • Schritt 3: Das durch die Rezession erlittene Defizit wird als „strukturelles“ Defizit uminterpretiert, es muss gespart werden.
  • Schritt 4: Die Sparpolitik dämpft das BIP > gehe zu Schritt 1.

Wie die Fiskalregeln Spanien in eine Abwärtsspirale schickten

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: Eurostat (Ameco) © A&W Blog
Quelle: Eurostat (Ameco)

Die Abbildung zeigt die tatsächliche Entwicklung von Produktion und Arbeitslosigkeit in Spanien und die Schätzwerte von NAWRU, Potentialoutput, Outputlücke und konjunkturbereinigtem Budgetsaldo (die Daten stammen aus der Prognose der EU-Kommission vom Winter 2013; sie werden laufend in einer kaum nachvollziehbaren Weise revidiert, die Methode bleibt aber im Wesentlichen gleich).

Bei hohem und stabilem Wirtschaftswachstum zwischen 1999 und 2007 dreht sich der Budgetsaldo in einen Überschuss und die Staatsschuldenquote sinkt auf 40%. Danach stürzen die Finanzmarktkrise und das Platzen der Immobilienblase die spanische Wirtschaft in eine schwere Krise: Die Arbeitslosenquote steigt zwischen 2007 und 2009 von 8,3% auf 18,0% an und dies lässt auch die NAWRU auf 15,1% steigen. Es werden daher nur mehr etwa 85% der Arbeitskräfte („labour force“) als für die Produktion verfügbar angesehen (15% sind – plötzlich – strukturell arbeitslos): Trotz einer Arbeitslosigkeit von fast 20% schätzt die EK die Outputlücke für 2009 daher auf lediglich 4,1%. Dies bedeutet wiederum, dass nur 2 BIP-Prozentpunkte des tatsächlichen, vom Staat als Folge der Finanz- und Immobilienkrise „erlittenen“ Defizits in Höhe von 11,2% des BIP als konjunkturbedingt angesehen bzw. akzeptiert werden.

Folge: Der öffentliche Konsum und die Transferzahlungen werden massiv gekürzt (sie stagnieren obwohl die Zahl der Arbeitslosen auf mehr als das Doppelte gestiegen ist). Dies lässt die Wirtschaft 2012 und 2013 neuerlich schrumpfen, die Arbeitslosigkeit steigt auf 26,9% und der NAWRU auf 24,0%, die Outputlücke verharrt daher bei 4,5% des BIP.

Der starke Rückgang der Reallöhne hat auf die Entwicklung des NAWRU keinen dämpfenden Einfluss, da dieser der tatsächlichen Arbeitslosenquote folgt – die Möglichkeit, dass ein Rückgang der Löhne den privaten Konsum und das BIP dämpft und so die Arbeitslosigkeit steigen lässt, ist durch das NAWRU-Schätzverfahren ausgeschlossen.

Da der größte Teil der tatsächlichen Arbeitslosigkeit als strukturell bedingt interpretiert wird, wird auch der größte Teil des Budgetdefizits als strukturell angesehen: Der Anstieg der NAWRU lässt den Potentialoutput schrumpfen und damit erscheint das Budgetdefizit überwiegend strukturell bedingt. Daher wird weiter gespart. Steigende Arbeitslosigkeit und eine schrumpfende Wirtschaft lassen die Staatsschuldenquote Spaniens weiter steigen, sie hat sich zwischen 2009 und 2014 nahezu verdoppelt (101,0% gegenüber 53,9%). Im gleichen Zeitraum kann das strukturelle Defizit nicht einmal halbiert werden, es sinkt von 9,2% auf 6,1%.

Teufelskreis ist auch in der EU insgesamt wirksam

Dieser „vicious circle“ hat schon in der jüngeren Vergangenheit die wirtschaftliche Entwicklung massiv beeinträchtigt. So wiesen 2012 24 der 28 EU-Länder ein konjunkturbereinigtes Defizit von mehr als 0,5% des BIP auf, im Durchschnitt aller EU-Länder lag es bei 3,7%. Es haben daher nahezu alle Länder gleichzeitig ihre Konsolidierungsmaßnahmen intensiviert, die negativen Rückkoppelungseffekte verstärkten sich wechselseitig und ließen die meisten EU-Länder neuerlich in eine Rezession schlittern.

Solche Effekte sind im Verfahren der EK zur Schätzung struktureller Defizite nicht vorgesehen. Dieses impliziert vielmehr, dass Konsolidierungsmaßnahmen keinen dämpfenden Effekt auf die Gesamtwirtschaft haben. Im Gegensatz dazu betont (sogar) der Internationale Währungsfonds die Bedeutung negativer Multiplikatoreffekte und stellt fest, dass deren Höhe früher unterschätzt worden sei. Tatsächlich läge der Fiskalmultiplikator nicht bei 0,5 (wie zumeist angenommen), sondern zwischen 0,9 und 1,7 (eine Sparmaßnahme im Ausmaß von 1 Mrd. dämpft das BIP in einem Ausmaß zwischen 0,9 Mrd. und 1,7 Mrd.). Auch ein Bericht des Europäischen Parlaments zeigte unlängst die negativen Effekte der Austeritätsfixierung.

Der Fiskalpakt als Teil des neoliberalen Programms

Die fundamentale Ursache für die Vernachlässigung der Rückkoppelungseffekte einer restriktiven Fiskalpolitik (wie auch sinkender Reallöhne) besteht darin, dass die Leitlinien der EU-Politik auf der neoliberal-monetaristischen Theorie basieren: Freie Märkte tendieren zu einem Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung, eine aktive Makro-Politik stört die Marktprozesse, Defizite des Staates sind von ihm selbst verschuldet und nicht (auch) das Resultat makroökonomischer Kettenreaktionen ist, ausgelöst auch durch die (Spar)Politik selbst.

Der Übergang von der keynesianischen „Navigationskarte“ der 1950er und 1960er Jahre mit den Hauptzielen von Vollbeschäftigung und sozialem Ausgleich zur neoliberalen „Navigationskarte“ mit den Hauptzielen der Ent-Fesselung der Finanzmärkte und der Schwächung des Sozialstaats erstreckte sich über mehr als 40 Jahre. Schritt für Schritt wurden neue Denkfiguren entwickelt, die innerhalb der Modellwelt eine logische Konsequenz des letzten Schritts darstellten (von der „natürlichen Arbeitslosenrate“ zu den „rationalen Erwartungen“, dann weiter zur Politikineffizienz samt Ricardianischer Äquivalenz, dem „real busines cyle“ und schließlich den „dynamic stochastic general equilibrium models“).

Um den Prozess in ein Bild zu setzen: Es wurden dem Luftschloss der Gleichgewichtstheorie mit großem Fleiß neue Türmchen und Erker beigefügt, die Meisterarchitekten bekamen dafür Nobelpreise, die Gesellen eiferten den Meistern hinterher, (fast) alle akademischen Ökonomen richteten sich wohnlich ein in ihrem Schloss und verwechselten dieses immer mehr mit den Hütten am Boden der Realität. Mehr als eine Generation von Studierenden wurde in der Luftschlossarchitektur ausgebildet, die Details vergaßen sie rasch, nicht aber die wichtigsten wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen, also die Hauptkomponenten der falschen Navigationskarte.

Der Prozess des Realitätsverlustes des Mainstream war somit ein stetiger, aber langsamer. Sein volles Ausmaß wird deutlich, wenn man die Wahrnehmung der ökonomischen Eliten am Ende dieses Prozesses untersucht. Die NAWRU-Schätzungen der Europäischen Kommission sind ein gutes Beispiel. Denn es ist schlicht verrückt anzunehmen, dass 24% der „labour force“ Spaniens „natürlich“ arbeitslos und daher nicht mehr einsatzfähig seien.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass die „Allgemeine Luftschlosstheorie“ und die daraus abgeleitete Navigationskarte „im Ganzen“ irreparabel falsch sind. An den Resultaten der auf dieser Karte basierenden Austeritätspolitik in der EU wird dies besonders deutlich.

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Quelle: Eurostat (Ameco) © A&W Blog
Quelle: Eurostat (Ameco)

Zwischen 2007 und 2013 stieg die Staatsschuldenquote genau in jenen Ländern am stärksten, welche nach Ausbruch der Finanzkrise dem radikalsten Sparkurs folgten: In Griechenland um 68 BIP-Prozentpunkte (trotz eines Schuldenschnitts), in Portugal um 61, in Spanien um 56 und in Großbritannien um 55 BIP-Prozentpunkte.

Auch die Tatsache, dass die Staatschuldenquote in allen Industrieländern genau in jenen zwei Jahrzehnten stetig gesunken war, in der – zumindest in Europa – der Sozialstaat massiv ausgebaut wurde, verdeutlicht den systemischen Charakter des Problems der Staatsfinanzen. Denn in den 1950er und 1960er Jahren herrschten real- und nicht finanzkapitalistische Rahmenbedingungen, diese ermöglichten zur Vollbeschäftigung und damit eine doppelte Entlastung der öffentlichen Haushalte, es mussten nur wenige Arbeitslose unterstützt werden und Steuereinnahmen sowie Sozialbeiträge flossen reichlich.

Dieser Beitrag basiert auf einem deutlich ausführlicheren gleichnamigen WIFO Working Paper.