Europäische Solidarität für eine faire Verteilung in Europa

30. April 2013

Angesichts des auf EU-Ebene erzwungenen Spar- und Kürzungskurses und autoritärer Eingriffe in den Lohnfindungsprozess stellt sich dringend die Frage der Solidarität unter den europäischen ArbeitnehmerInnen. Schließlich haben sie alle Interesse an einem (wirtschafts-)politischen Kurswechsel in Richtung einer deutlich stärkeren Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher und sozialer Ziele.

„Europäische Solidarität“ – eine Begriffsklärung

Der Begriff Solidarität ist vielschichtig und hat bedeutende historische Wurzeln. In Artikel 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Das erinnert an den Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wobei heute „Geschwisterlichkeit“ oder „Solidarität“ angemessen wäre. Schon vor Ausbruch des ersten Weltkriegs beschäftigte sich der Wirtschaftswissenschafter und Politiker Otto Bauer mit dem solidarischen – grenzüberschreitenden – Kampf der ArbeiterInnen um ein Leben frei von Ausbeutung und im Geist von Gleichheit, bei dem nationale Unterschiede verblassen. Dabei gehe es um die „Solidarität der wirtschaftlichen Interessen“ der ArbeiterInnen „aller Nationen“. Für Bauer war klar, dass es für internationale ökonomische Aufgaben eine internationale Gewerkschaftsstruktur braucht.

Solidarität interpretiert im Sinne ArbeiterInnenbewegung beschreibt ein Bewusstsein der gleichen Interessenlage, woraus sowohl die Bereitschaft zu kollektiver Durchsetzung gemeinsamer Ziele als auch gegenseitige Unterstützung resultieren. Solidarität ist jedoch dann nicht immer einfach zu verwirklichen, wenn es zu Zielkonflikten etwa zwischen nationalen und internationalen Interessen kommt. Gerade in Krisen ist die Gefahr der nationalen Abkapselung hoch. Tatsächlich muss jedoch gelten: Wie die Menschenrechte insgesamt, so sind auch die ArbeitnehmerInnenrechte unteilbar, so Walter Sauer, internationaler ÖGB-Sekretär (siehe VÖGB-Skript).

Gerade heute wird vielerorts „Europäische Solidarität“ beschworen. Dahinter steht vor allem die Idee der Solidarität zwischen Staaten bzw. Nationen. Bereits im EU-Vertrag wird von Stärkung der „Solidarität zwischen den Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition“ gesprochen. „Europäische Solidarität“ hat mindestens ebenso viele Komponenten wie der Solidaritäts-Begriff selbst (Quelle): Eigennutzsolidarität, Verbundenheitssolidarität, Mitgefühlsolidarität, BürgerInnensolidarität  – letztere bezieht sich auf im Zuge der „EU-BürgerInnenrolle“ institutionell verankerte Rechte und Pflichten, etwa dem aktiven und passiven Wahlrecht zum EU-Parlament. Bewegungssolidarität bezieht sich auf die ArbeiterInnenbewegung, wo der Bogen von Klassensolidarität über gewerkschaftliche Solidarität bis zu zivilgesellschaftlichen Bewegungen gespannt werden kann.

Warum braucht es eine Solidarität der ArbeitnehmerInnen in Europa?

Die Frage der Solidarität der ArbeitnehmerInnen stellt sich heute immer dringender:

•  Schwächung der Gewerkschaften und autoritäre Eingriffe in Lohnpolitik

Zu den Eckpfeilern des in Europa vorherrschenden Sozialmodells gehört die tarifvertragliche Regulierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen, die durch eine relativhohe Tarifbindung gekennzeichnet ist: zwei Drittel aller in der EU Beschäftigten sind laut dem Arbeitsexperten Thorsten Schulten durch Kollektivverträge geschützt (Quelle). Das wird heute aber durch einen neuen Interventionismus in die Lohn- und Kollektivvertragspolitik gefährdet. Dadurch wurde in kürzester Zeit eine radikale Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme und Aushöhlung des Flächentarifvertrags herbeigeführt, worauf eine lohnpolitische Absenkungsspirale folgt(e) (siehe dazu FES).

Einige Beispiele für die erzwungene Verbetrieblichung der Tarifpolitik in Teilen Europas: gesetzliche Ausdehnung von Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen von Branchentarifverträgen; Vorrang von Haustarifverträgen bei gleichzeitiger Aufhebung des Günstigkeitsprinzips, Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Zudem mussten sich alle Länder unter dem „EU-Rettungsschirm“ zu Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor verpflichten. Die Folgen: die Reallöhne sinken in 18 Ländern seit der Krise (siehe PDF Schulten, Seite 19). Und auch abseits der Arbeitswelt setzen sich weitreichende Kürzungen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich fort. Werden Sozialstaat und Gewerkschaften in Südeuropa geschwächt, kommen durch die Prozesse des Lohn- und Sozialdumpings auch west- und osteuropäische Gewerkschaften unter Druck.

  • Verlagerung von Kompetenzen über Haushalts- und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene

Im Euroraum bzw. der EU kam es im Gefolge der Krise zu einer verstärkten Bündelung der Budgetpolitik (im Sinne einer Vorgabe und Überwachung starrer Defizit- und Schuldengrenzen) und zu weit in nationalstaatliche und vor allem parlamentarische Kompetenzen reichenden wirtschaftspolitischen Vorgaben (bzw. Empfehlungen). Im Zuge der Verwirklichung einer „echten Wirtschafts- und Währungsunion“ soll sich die Entscheidungsebene unter anderem in Form bilateraler „Wettbewerbsverträge“ noch weiter auf Ebene der EU-Kommission und des EU-Rates verlagern.

Was kann Europäische Solidarität der ArbeitnehmerInnen bedeuten?

Eine moderne Form der Solidarität der ArbeitnehmerInnen schließt zwischenstaatliche Solidarität mit ein, geht aber über diese hinaus:

  • Zwischenstaatliche Solidarität:

Kritik an den Stabilisierungsmaßnahmen (bzw. „Rettungsschirmen“) rein aus nationalen Ressentiments heraus ist wenig zielführend. Nationale Abkapselung bringt keine wirtschaftspolitische Neuorientierung, und gegenseitige Vorurteile über (nationale) Mentalitäten verstellen den Blick auf gemeinsame Interessen und Betroffenheit. So geht die aktuelle EU-Krisenpolitik äußerst einseitig zu Lasten von Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen sämtlicher Staaten, während etwa sehr Vermögende nicht bis vergleichsweise wenig belastet werden. Aber auch ohne krisenhafte Entwicklung kommt es auch aufgrund des Lobbyings mächtiger Wirtschaftsinstitutionen allzu oft zum Vorrang wirtschaftlicher Partikularinteressen vor gesamtwirtschaftlichen und sozialen Zielen.

  • Solidarität der ArbeitnehmerInnen:

Begegnet muss somit nicht nur der Ungleichentwicklung zwischen Staaten, sondern auch zwischen gesellschaftlichen (Interessens-)Gruppen werden. Kurzfristiges Ziel einer EU-weiten solidarischen Bewegung muss die Abwehr zerstörerischer Spar- und Kürzungspolitik sein, also eine entschiedene Kehrtwende der aktuellen Krisenpolitik. Ein wichtiger Schritt dabei ist die europäische Koordinierung der Kollektivvertragspolitik – mit einer Orientierung an der mittelfristigen Produktivität und einer Stärkung von Flächentarifverträgen sowie Überlegungen für eine europäische Mindestlohnpolitik (siehe EGB und „unser Europa neu begründen“). Mittel- und langfristig geht es um die stetige Durchsetzung der ArbeitnehmerInneninteressen auf EU-Ebene.

Eine moderne europäische Solidarität hat somit nicht zum Ziel, dass die breite Bevölkerung aus „reicheren“ Staaten zugunsten jener aus „Krisenstaaten“ Verzicht übt. Vielmehr ist die Erlangung einer fairen Verteilung der Einkommen und Vermögen insgesamt zentral. Daraus resultiert ein gemeinsames Interesse von ArbeitnehmerInnen, Jugendlichen, Älteren und sozial Benachteiligten aus ganz Europa an solidarischer Wirtschaftspolitik. Diese hat mehrere Dimensionen: beschäftigungsfördernde Konjunkturpolitik, solide soziale Sicherungsnetze, zwischenstaatliche Kooperation statt Konkurrenz, Stärkung des makroökonomischen Dialogs, stabiler Finanzsektor, steuerpolitische Koordination (Bekämpfung von Steuerwettbewerb und Steuerumgehung, harmonisierte Unternehmens-Mindestbesteuerung, Besteuerung von Spitzenvermögen, …) etc. Ziel europäischer Solidarität ist auch nicht internationale Ab- und Ausgrenzung, sondern der Einsatz für ein faires Europa etwa auch im Bereich von Handelsbeziehungen.

Beispiele für modern gelebte Solidarität zwischen europäischen ArbeitnehmerInnen

Als Beispiel für gewerkschaftliche Mobilisierung gilt die erfolgreiche gemeinsame Abwehr der ursprünglichen Form der Dienstleistungsrichtlinie. Auch jüngst wurden unter anderem vom Europäischen Gewerkschaftsbund mehrere gesamteuropäische solidarische Aktionen gestartet, im Zuge derer es zu Generalstreiks, Großdemonstrationen und weiteren solidarischen Aktionen in sämtlichen EU-Staaten kam. Bleibt zu hoffen, dass sich viele Menschen auch in Mittel- und Nordeuropa diesen europaweiten Aktionen anschließen und nicht zuletzt im eigenen Interesse ein kräftiges Zeichen für (wirtschafts-)politischen Kurswechsel setzen. Denn: „Speziell die Lage im südlichen Europa könnte die Spitze des Eisbergs sein: Ohne soziale und wirtschaftliche Solidarität könnte sich das, was in diesen Staaten gerade passiert, auf ganz Europa ausweiten.“ (EGB-Jugendkomitee)

Dieser Blogbeitrag erscheint in aktualisierter und umfassenderer Form in der kommenden Ausgabe der Wirtschaftspolitik Standpunkte Nr. 2/2013