Europa an der Kippe

30. Juni 2016

„Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand“, stellte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits vor mehr als einem Jahr besorgt fest. Und bis heute behält er recht damit. Nicht nur wegen des britischen EU-Ausstiegs-Referendums. Europa ist vor allem in sozialpolitischer Hinsicht in einem katastrophalen Zustand. So ist rund ein Viertel der EU-Bevölkerung von Armut bedroht. Die Realeinkommen sind in vielen EU-Ländern gesunken und die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor sehr hoch. Aus diesem Blickwinkel ist es nicht verwunderlich, dass die Stimmung der Leute in vielen EU Staaten sehr schlecht ist. Aber wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Im Jahr 2007 war die Welt für die Europäische Union noch in Ordnung. Ein Wirtschaftswachstum von mehr als 3 Prozent, eine Arbeitslosenrate von nur rund 7 Prozent. Die Verschuldung der EU-Staaten betrug im Schnitt nicht einmal 58 Prozent. Mit dem Überschwappen der Finanzkrise von den USA auf die Europäische Union endete jedoch die heile-Welt-Stimmung in der EU abrupt. Der Finanzsektor musste de facto über Nacht mit milliardenschweren Hilfszahlungen gerettet werden. Alleine zwischen 2008 und 2011 leisteten die öffentlichen EU-Haushalte 1.600 Milliarden Euro an Hilfszahlungen, um ein Kollabieren europäischer Banken zu verhindern. Zusätzlich belastet wurden die öffentlichen Budgets durch stark ansteigende Arbeitslosenzahlen, die zu Einnahmenausfällen bei gleichzeitig steigenden Ausgaben für Sozialleistungen führten.

Keine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik

BeobachterInnen, die damals davon ausgingen, dass es mit der Krise nun zu einer Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik kommt, wurden schon bald eines besseren belehrt. Nach einer kurzen Schrecksekunde gingen neoliberale AgitatorInnen zu einer Gegenoffensive über: Nicht die Banken seien schuld an der Krise. Verantwortlich seien die Staaten und ihre BewohnerInnen, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten. So informierte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Bevölkerung bereits im Mai 2010, dass „Deutschland seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse gelebt hätte“. Massive Sparmaßnahmen müssten nun ergriffen werden, beispielsweise im Rentenbereich und bei den Arbeitslosen. Dass Deutschland in Wirklichkeit seit vielen Jahren weit unter seinen Möglichkeiten lebt und massive Leistungsbilanzüberschüsse erzielt, erwähnte sie mit keinem Wort. Denn tatsächlich ging es darum, die hohen öffentlichen Ausgaben für die Bankenrettung wieder hereinzubekommen. In der Folge setzte Merkel ähnliche Sparmaßnahmen auch für die Eurozonen-Staaten durch.

Eine verarmte und verbitterte Bevölkerung als Ergebnis neoliberaler Politik

Etliche Länder in Europa kamen mit der auf EU-Ebene ausgerufenen Sparpolitik endgültig unter die Räder. Unter dem Druck, der nun entstanden war, konnten neoliberale PolitikerInnen ihre Phantasien in bittere Realität umsetzen: Reallöhne und Mindestlöhne wurden in vielen Ländern drastisch gesenkt, Kollektivverträge außer Kraft gesetzt, öffentliche Bedienstete in großem Stil entlassen. Zudem wurde das Rentenalter erhöht, der Zugang zu Frühpension erschwert, Sozialsysteme ausgehöhlt und öffentliche Dienstleistungen privatisiert.

Wenig Gegenwehr anderer traditioneller Parteien

Selbst Parteien und PolitikerInnen, die nicht für eine neoliberale Politik stehen, fügten sich bei der konkreten Umsetzung der Sparmaßnahmen rasch. An Griechenland wurde ein Exempel statuiert. Ziel war es, allen Ländern zu zeigen, was passiert, wenn man sich gegen die auf EU-Ebene beschlossenen Sparvorgaben wehrt: Als sich die neu in die Regierung gewählte Partei Syriza gegen die Sparkonzepte der Troika wehrte, wurden ihnen kurzerhand alle Mittel gekappt. Dem griechischen Premier Tsipras blieb nichts anderes übrig als nachzugeben und die vorgegebenen Sparprogramme umzusetzen. Andere Regierungen wehren sich gar nicht erst. So setzt die sozialdemokratische Regierung in Frankreich derzeit ein Arbeitsmarktreformprogramm durch. Die Bevölkerung reagiert empört, es kommt immer wieder zu Massenprotesten und Streiks. Ähnliche Reaktionen auf die Sparprogramme der Regierungen waren in vielen EU-Ländern zu beobachten.

Strikter Sparkurs auch in Großbritannien

Auch in Großbritannien wurde in den letzten Jahren ein strikter Sparkurs gefahren. Gerade erst im März war der britische Sozialminister Duncan Smith zurückgetreten, nachdem Einsparungen bei Invaliditätspensionen öffentlich wurden. Besserverdienende hingegen sollten entlastet werden.

Die nackten Zahlen werfen ein klares Bild auf die Entwicklung Großbritanniens: Zwar hat sich die Beschäftigungsquote in UK positiv entwickelt und liegt per 2015 bei 76,9 %. Ein Großteil dieser Rekordbeschäftigungszahlen rührt von einer starken Zunahme der Selbständigen her. Gerade bei den Selbständigen jedoch ist  ein dramatischer Rückgang des Jahreseinkommens zu beobachten. im Vergleich zu 2008 ein Minus von 22 %. Seit 2008 ist auch die Anzahl der Personen, die von Armut bedroht ist, um mehr als 1,1 Millionen Menschen gestiegen. In Summe hat Großbritannien mehr als 15 Millionen Personen (EUweit mehr als 122 Millionen), die von Armut bedroht sind.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Quelle: Eurostat

Greenspan: Schwache Realeinkommensentwicklung Grund für den BREXIT

In einem Interview mit der CNBC stößt der ehemalige Gouverneur der US-Notenbank Alan Greenspan in dasselbe Horn: Die Gründe, die zu einer Mehrheit für einen Austritt Großbritanniens aus der EU geführt haben, liegen seiner Meinung nach in den Realeinkommen. Diese haben sich in den letzten Jahren in UK sowie quer über Europa sehr schlecht entwickelt. Unter anderem dadurch wachse die Wirtschaft in der Europäischen Union nur sehr schwach. Für Alan Greenspan ist die Stagnation das größte Problem in Europa.

Eine erste Analyse zu den Beweggründen der WählerInnen für beziehungsweise gegen den BREXIT zu stimmen zeigt: Vor allem Regionen, in denen ArbeiterInnen und die untere Mittelklasse leben, haben für einen Austritt von UK aus der EU gestimmt. Die Finanzmetropole London mit einem hohen Anteil an gut verdienenden Personen hat sich für einen Verbleib bei der EU ausgesprochen. Für viele Austritts-BefürworterInnen spielte zudem der Zustrom an Arbeitskräften aus anderen EU-Mitgliedstaaten eine wesentliche Rolle. Rechtsgerichtete Parteien wie die britische UKIP haben diese Unzufriedenheit ausgenutzt und gegen die Europäische Union mobil gemacht.

Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa

Nicht nur in Großbritannien wächst der Einfluss rechtspopulistischer Gruppierungen. In Frankreich wurde die rechtsextreme Front National nicht zuletzt aufgrund der Sparmaßnahmen zumindest im ersten Wahlgang der Regionalwahlen stärkste Kraft. Ein deutlicher Rechtsruck ist auch in vielen weiteren EU-Ländern zu beobachten. Beispielsweise in den Niederlanden, Belgien, Österreich, Dänemark, Finnland, Ungarn, Polen oder zuletzt auch Deutschland. Neben der Stimmungsmache gegen Beschäftigte aus anderen EU-Ländern und gegen Flüchtlinge dürften sozialpolitische Versprechen eine zentrale Rolle bei den Wahlerfolgen für die rechtsextremen Parteien spielen.

Kommissionspräsident Juncker: Brauchen ein sozialeres Europa

Viel von dem Unmut der Menschen in der Europäischen Union dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die EU-EntscheidungsträgerInnen fast ausschließlich Wirtschaftsinteressen verfolgen. Beachtlich ist daher die Aussage Jean-Claude Junckers in einem Interview mit dem ZDF Heute-Journal: Auf die Frage eines Journalisten, „wie er mit einer Massenbewegung der Unzufriedenen, die es nicht nur in Großbritannien gebe“, umgehen wolle, meinte Juncker: „Die Kommission sei relativ weit von den BürgerInnen entfernt, man müsse sich nun den sozialen Themen stärker widmen“.

Eine Aussage, die vielversprechend klingt. Sieht man sich jedoch die aktuelle Politik auf EU-Ebene an, erhält man nach wie vor ein völlig konträres Bild: So veröffentlicht die EU-Kommission jährlich so genannte länderspezifische Empfehlungen. Damit soll eine bessere EU-weite wirtschaftliche Koordinierung erreicht werden. In den Länderberichten sucht man selbst bei den EU-Mitgliedsstaaten mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen Empfehlungen wie für höhere öffentliche Investitionen zu sorgen oder Maßnahmen zu setzen, die die Realeinkommen stärken, vergeblich. Stattdessen werden in mehreren Länderberichten „Arbeitsmarktreformen“ sowie „Anpassungen beim Pensionssystem“ gefordert. Also Maßnahmen, die die Situation der Bevölkerung weiter verschlechtern.

Und im tagespolitischen Geschäft sieht es ähnlich aus: So ist in einer öffentlichen Kommissions-Konsultation zur Einführung eines so genannten Dienstleistungspasses für Unternehmen zu lesen, dass die Kommission „Probleme im Zusammenhang mit Beschäftigten und der Entsendung von ArbeitnehmerInnen“ nicht behandeln möchte. Nicht nehmen lässt es sich die Kommission hingegen in der Konsultation danach zu fragen, ob nationales Arbeitsrecht, Steuerrecht oder VerbraucherInnenschutz ein Hindernis für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen darstellen könnte. Und damit es keine Missverständnisse gibt, macht die Kommission gleich klar, dass die Frage nur an Unternehmen gerichtet ist.

Der EU-Vertrag enthält in Artikel 3 (3) EUV die Zielsetzung, dass die Union auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt hinwirken muss. In der Praxis zeigt sich jedoch sehr deutlich, dass es auf Ebene der Europäischen Institutionen noch außerordentlicher Kraftanstrengungen bedarf, um einen Paradigmenwechsel hin zu einem sozialeren Europa zu erreichen.

Eine weitergehende Analyse zu den Hintergründen und Folgen des britischen Referendums für einen Ausstieg aus der Europäischen Union ist für kommenden Woche in einem Sonder-EU-Infobrief geplant.